74/Körper.Teile/Interview: Gerald Axelrod

Du bist ein ausgewiesener Kenner der Materie. Du hast, neben Werken über die Blutgräfin Báthory, den Vampirgrafen Dracula oder den Hund der Baskervilles und viele mehr, unter anderem ein Buch über den Frankenstein-Mythos geschrieben, – was fasziniert dich an dem mittlerweile 200 Jahre alten Monster denn so? 
Zwei Dinge sind am Roman „Frankenstein“ besonders erstaunlich: Erstens, dass er von einer Frau geschrieben wurde, und zweitens, dass es genau genommen ein 18-jähriges Mädchen war. Woher nahm Mary Shelley  die Inspiration? Wenn man die Entstehungsgeschichte von „Frankenstein“ rekonstruiert, kann man das Geheimnis lüften. Um das Jahr 1800 herum glaubten die Leute tatsächlich, dass man Leichen mit Hilfe der Elektrizität wieder zum Leben erwecken könne. Luigi Galvani setzte 1780 einen toten Frosch unter Strom, worauf seine Schenkel zuckten. Giovanni Aldini zog durch ganz Europa und setzte dieses Experiment vor großem Publikum fort. 1803 verpasste er in London vor 400 Zuschauern einer Leiche ein paar kräftige Stromstöße, worauf sie die Augen öffnete und die Beine bewegte. Das Publikum rannte kreischend aus dem Saal, fest überzeugt, der Tote sei zum Leben erwacht. Mary Shelley baute dieses „Wunder“ sehr geschickt in ihren Roman ein, verknüpfte es mit ihrer eigenen abenteuerlichen Lebensgeschichte und setzte indirekt Benjamin Franklin ein Denkmal, dem Erfinder des Blitzableiters. Der Held ihres Romans sollte ein Naturwissenschaftler vom Format Franklins sein. Wahrscheinlich entschied sie sich deshalb für den Namen Frankenstein, weil er ähnlich wie Franklin klingt.

Kannst du uns ein bisschen etwas über jene Nacht am Genfer See vor 200 Jahren erzählen, in der das Frankenstein-Monster das fahle Licht der Welt erblickt hat, erzählen? Und es war ja nicht das einzige Monster …
Im Sommer 1816 verbrachte Mary ihren Urlaub in einem Vorort von Genf, gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Percy Shelley, ihre Halbschwester Claire, dem Dichter Lord Byron und dessen Leibarzt Polidori.  Wegen des Dauerregens hingen sie jedoch die meiste Zeit in ihrer Villa  herum, langweilten sich und lasen Gespenstergeschichten, bis Lord Byron in einer stürmischen Gewitternacht spontan vorschlug: „Jeder von uns wird eine Gespenstergeschichte schreiben.“ Mary, die Tochter zweier Schriftsteller, hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, einen Roman zu schreiben, aber erst Byrons Vorschlag gab ihr den notwendigen Anstoß. Ein paar Nächte später sah sie im Halbschlaf die Schlüsselszene vor ihrem geistigen Auge: Das Monster erwacht zu Leben.  Am nächsten Morgen begann sie mit dem Schreiben. Doch auch die anderen brachten einige gruselige Ideen zu Papier. Polidori klaute die Entwürfe von Byron und baute sie zur Kurzgeschichte „Der Vampyr“ aus – der erste Vampirroman der Literaturgeschichte.

Woher stammt deiner Meinung nach das Interesse am Monster an sich? Und was fasziniert dich persönlich daran?
Ich glaube nicht, dass der Erfolg von „Frankenstein“ allein dem Monster zu verdanken ist, sondern eher der Grundaussage des Romans: Ein größenwahnsinniger Wissenschaftler will Gott spielen und einen neuen, besseren Menschen erschaffen, doch das Experiment geht gründlich daneben und seine Kreatur entwickelt sich zu einem Monster, das sich gegen seinen Schöpfer, ja man könnte sagen: gegen die Menschheit richtet. Diese Kritik am blinden Fortschrittsglauben und an einer Wissenschaft, die skrupellos alles macht, was machbar ist, hat bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Gerade im Zusammenhang mit der Gentechnik taucht in den Medien immer wieder der Name Frankenstein auf. Gentechnisch veränderte Tomaten genießen die zweifelhafte Ehre, auch „Frankenstein-Tomaten“ genannt zu werden. Dies spiegelt perfekt unsere Ängste wider. Das Monster ist folglich ein Symbol für ein wissenschaftliches Experiment, das außer Kontrolle gerät und schlussendlich mehr Schaden als Nutzen anrichtet.

Du bist ja einer der Topfotografen Europas. Und du bist einer der Wenigen, die von ihrer Kunst leben können. Kannst du uns kurz ein bisschen was zu deiner Biografie sagen?
Ich erblickte 1962 in einem kleinen Vorarlberger Dorf das Licht der Welt. Als ich 13 war, zeigte uns der Chemielehrer, wie man Schwarzweißfotos vergrößert – der Beginn meiner eigenen Dunkelkammerkarriere, die 1997 in der Veröffentlichung meines ersten Buches „… als lebten die Engel auf Erden“ gipfelte. 2001 stellte ich meine Fotos in der Leica Gallery in New York aus. Bis heute habe ich 21 Bücher publiziert, davon 16 Fotobücher, ein Sachbuch und – gemeinsam mit meiner Frau Liane Angelico – vier Fantasyromane.

Du bist ja inzwischen gleichermaßen Autor wie Fotograf. Sind dir da eigentlich Auszeichnungen, Preise wichtig? Vor einem Jahr wurde dir ja ein wirklich toller Preis verliehen …
Die Deutsche Sherlock Holmes-Gesellschaft wählte mein Buch „Sherlock Holmes und der Fluch von Baskerville“ zum besten deutschsprachigen Sherlock Holmes-Buch des Jahres 2016 und verlieh mir den „Blauen Karfunkel“. Ich schätze solche Preise und empfinde sie als Anerkennung für all die Arbeit, die in den Büchern steckt. Manchmal recherchiere ich beim Textschreiben tagelang, nur um ein winziges Detail zu klären, und oft warte ich beim Fotografieren stundenlang auf die richtige Lichtstimmung.

Hast du Vorbilder in der bildenden Kunst? Also nicht nur in der Fotografie, sondern auch in der Malerei?
Ja, Salvador Dalí hat mich mein Leben lang inspiriert. Ich versuche, mit den Mitteln der Fotografie ebenfalls solche Traumlandschaften zu erschaffen, wie ein Blick ins Reich der Fantasie und der Imagination.

Welche Literatur bevorzugst du?
Seit ich angefangen habe, Fotobücher zu publizieren, lese ich fast nur noch themenbezogene Sachbücher. Die einzige Literatur, die ich mir in den letzten Jahren gegönnt habe, waren die Sherlock Holmes-Kurzgeschichten und Romane.
 

Magst du Horrorfilme? Wenn ja, welche?
Bereits im Alter von 13 Jahren öffnete mir Polanskis „Tanz der Vampire“ das Tor zu einer anderen Welt. Seither ziehen mich mystische und unheimliche Themen magisch an. Ganz klar, dass ich Horrorfilme liebe. Anstatt nun seitenlang die allseits bekannten Klassiker aufzuzählen, möchte ich nur vier neuere Geheimtipps erwähnen: „Fürst der Dämonen“ (2014), „Ein Vampir auf der Couch“ (2014), „The Forest“ (2016) und „Hinter den Mauern“ (2016).

Was sind deine nächsten Projekte? 
Auf meiner vorletzten Reise durch Schottland wagte ich mich in Gebiete vor, die noch nie ein Mensch betreten hatte, und da entdeckte ich in den hintersten Winkeln der Highlands Einhörner.  Du kannst Dir meine Überraschung vorstellen. Gemeinhin nimmt man ja an, Einhörner seien entweder Fabeltiere, die es nie gegeben hat, oder sie seien ausgestorben wie die Mammuts. Aber wie auch immer, meine Fotografien beweisen das klare Gegenteil. Ich habe nun die ersten Einhornfotos im Kalender „Die faszinierende Welt der Einhörner“ veröffentlicht, der weltweit für erhebliches Aufsehen gesorgt hat. Deshalb werde ich das Thema jetzt zu einem Buch ausbauen.

Wenn du den ETCETERA-Lesern noch etwas auf den Weg mitgeben willst, … tu’s jetzt!
Weniger Internet, mehr Bücher. Mit dieser Empfehlung stehe ich natürlich auf verlorenem Posten, wohlwissend, dass genau das Gegenteil eintreten wird. Aber wenn Du mich schon nach einem Rat für die Leser fragst, dann ist es dieser.


Das Interview führte Thomas Fröhlich