80 / Scham/Charme / Interview / Ilse Helbich

Ilse Helbich
„Ich bin ein Sisyphos, der seine Aufgabe verlassen hat“

Ilse Helbich war im November 2019 zu Gast im Unabhängigen Literaturhaus Niederösterreich (ULNÖ). Cornelia Stahl traf sie in ihrem Haus in Schönberg am Kamp. Im Gespräch gibt die Autorin Auskunft über Entstehungszusammenhänge ihrer Geschichten, ihre Nähe zu Gottfried Benn, äußert sich zu Macht und Ohnmacht, Scham und Charme und erzählt von der Lebensstimmung, die sie als Melodie in ihren Texten erzeugt.

Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Ich lasse mir vorlesen. Zurzeit lese ich von Tolstoi: „Die Auferstehung“.

Und was fasziniert Sie daran?
Die Beschreibung verschiedener sozialer Milieus. Vor allem sehr spannend finde ich die Beschreibung der Szene am Ende der Zaristischen Zeit. Die Menschen, die irgendwie hineinfallen in die Revolution, die Freunde geworden sind, ohne zu wissen wozu. Und dann diese ganz scharfe anarchistische Richtung. Dann die vielen menschenfreundlichen Russinnen, die bereit sind, ihr Leben zu opfern für diese Idee. Ich frage mich, woher Tolstoi die Milieukenntnisse so verschiedener Milieus hat. Es kommen Zuchthäusler genauso vor wie Minister. Dann lese ich noch etwas von einer Serbin, die 1913 Briefe aus Norwegen geschickt hat. Ein Buch mit wunderbaren Landschaftsbeschreibungen und einem Norwegen, das es so natürlich nicht mehr gibt. Wo der Arzt drei Tage unterwegs ist zu einem Patienten.

Sie haben sehr viel publiziert. Gibt es ein Geheimnis, wie gute Geschichten entstehen?
Da muss ich nachdenken. Das kann ich Ihnen gar nicht beantworten. Mir fallen meine sogenannten guten Geschichten auf ganz verschiedene Weise ein, meist nicht als ganze Geschichte, sondern ich sehe nur eine Situation vor mir. Das dauert dann oft Tage, bis sich diese Geschichte linear zu einer Geschichte ausbaut. Dann weiß ich, dass ist jetzt eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende, und einem geheimen Mittelpunkt, den ich natürlich niemals verraten darf. Der Autor wahrt immer sein letztes Geheimnis, aber auch deshalb, weil er selbst nicht weiß, was sein letztes Geheimnis ist.

Der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase beschrieb seine Filmfiguren als jene mit mangelnder Begabung für Kompromisse. Wie könnte man Ihre Protagonistinnen skizzieren?
Ich glaube, es ist ein Unterschied zwischen meinen frühen und meinen späten Erzählungen. Ich habe doch über vierzig oder fünfzig Jahre Erzählungen geschrieben. Meine alten Protagonistinnen kennen sich selbst oftmals in ihrem Leben nicht aus und sind irgendwie Verlorene, die teilweise auch von Männern sehr ausgenützt werden. In meinen letzten Geschichten geht es um Menschen, die vor ihrer eigenen Erfüllung zurückschrecken. Wobei man als Leser diese versäumte Möglichkeit sehr klar vor sich sieht. Es ist vielleicht wie ein Wunschziel des Lesers, das aber der Protagonist der Geschichte verfehlt. Bei mir geht es oft um nicht Gefundenes.
Ich habe ein Märchen geschrieben, „Das goldene Ei“. Darin geht es um nicht Gefundenes. Am Ende schaut sich das Mädchen im Saal um und denkt, mir ist das große Glück versprochen worden, aber wo ist es denn? Das ist ein typisches Ende für eine Helbich-Geschichte.

Die Mühe, das große Glück zu finden, erinnert an Albert Camus „Der Mythos des Sisyphos“. Zitat: „Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, einen Felsblock (...) den Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein (…) wieder hinunterrollte“. Gab es Situationen in Ihrem Leben, welche mit dem Bild des Sisyphos vergleichbar waren?
Ich habe versucht, als gehorsame Ehefrau zu leben und versucht, dieses Leben zu stemmen. Bis ich gemerkt habe, das schaffe ich nicht. Also, ich bin ein Sisyphos, der seine Aufgabe verlassen hat.

Das ist doch eine sehr schöne Wendung!
Die äußeren Umstände stimmen jetzt für mich, ich habe das alles verändert.

Zu Kompromissen sind Sie also jetzt weniger bereit?
Ja, das ist richtig.

In „Vineta“ erzählen Sie in Miniaturen von vergessenen Gegenständen, Berufen und gesellschaftlichen Verkehrsformen. Wie ist das Buch entstanden?
Wie viele meiner Bücher entstehen: Ich habe zuerst Szenen und Bilder vor mir gesehen. Und dann bin ich daraufgekommen, es geht um eine verlorene Welt, um eine versunkene. Dann habe ich recherchiert und meine eigene Vergangenheit gefragt, wo sich etwas radikal verändert hat. Habe Trauer-Bräuche gefunden, die sich radikal geändert haben. Der Umgang mit jüdischen Nachbarn hat sich erst durch dieses Buch geklärt. Ich habe entdeckt, dass meine Weißnäherin ein jüdisches Mädchen war, ein verarmtes, das auf einmal verschwunden war aus unserem Leben. Das ist mir erst beim Schreiben dieses Buches, also Jahrzehnte später, aufgegangen.
Ich habe die Vergangenheit durch das Buch wieder neu sehen gelernt. Ich habe versucht, die Vergangenheit nicht als schön oder hässlich zu beschreiben, sondern nur in ihrer Andersartigkeit. Ohne Wertung. Ich habe mich den Menschen auf eine andere Art erneut angenähert, aber ich habe sie in Ruhe gelassen. Ich bin gegen Verbrüderung.

Im Lyrikband „Gehen“ ist eine Nähe zu Gottfried Benn erkennbar. Wie entstand diese?
Noch zu Lebzeiten von Benn. Ich habe ein Buch mit Benn-Gedichten geschenkt bekommen, es hat mir sehr gut gefallen. Auch in diesem Abstand, die der Autor zu allem hält, und welche Klarheit dadurch möglich ist. Die Unmöglichkeit, sein Glück zu leben, habe ich in seinen Büchern wiedergefunden, also ein Thema, das mich wiederum beschäftigt hat.

Benn war auch jemand, der sich kurzzeitig für den Nationalsozialismus begeistert hatte wie Mizzi, in Ihrem Roman „Schwalbenschrift“...
Wir hatten eine Hausgehilfin, die Mizzi. Und die Mizzi war eine illegale Nationalsozialistin, und hat, ohne dass meine Eltern das wussten, Fahnen und Flugschriften versteckt, und hat uns Kinder benützt als Boten. Für uns war das wie ein Räuber und Gendarm Spiel, natürlich mit einer kriminologischen Nebenbedeutung. Es sind damals viele darauf ´reingefallen. Es war eine Begeisterung vorhanden, die viele angesteckt hat.

Sich von der Beisterung überschwemmen lassen, klingt nach Ohnmacht. Man könnte dem auch etwas entgegensetzen, indem man sich abgrenzt und sagt „Ich mache da nicht mit“?
Ja, es ist eine Art Ohnmacht. Wenn man sich in jungen Jahren (mit 15) nicht seiner selbst gegenwärtig ist, kann man sich sehr schnell verführen lassen. Die Lust, sich verführen zu lassen, ist eine sehr ursprüngliche. Erst später kommt der Verstand und die wirkliche Kritikmöglichkeit. Für mich war das ein sehr lehrreicher Prozess. Mir ist eine allgemeinde Skepsis geblieben. Ich habe Ähnliches auch nicht mehr erlebt, im politischen Sinne.

Das Thema der nächsten Ausgabe der etcetera trägt den Titel: „Scham oder Charme“. Haben Sie sich im Nachhinein für Dinge geschämt, für die Sie sich haben begeistern lassen?
Ja, schon, aber ich finde, Scham ist eine sehr tiefe und sehr persönliche Erfahrung. Wenn man seinen eigenen Prinzipien, die man nicht als Gebote ausformuliert, wenn man denen untreu geworden ist, dann schämt man sich vor sich selber. Es gibt auch eine Scham, dass man äußere Gebote oder Verhaltensweisen nicht erfüllt hat. Aber ich finde, dass Scham ein sehr tiefer Gefühlszustand ist, und ein authentischer. Wenn es sich auf eigene Gesetze, auf Inneres bezieht und nicht auf äußere Vorschriften.

Und wie sieht es mit Charme aus?
Ich würde jemanden sehr verachten, der es charmant findet, wenn jemand sich schämt.

Und als Gegensatz zu Scham gesehen?
Dann geht er der Scham aus dem Weg. Charmant ist vielleicht die Fähigkeit, sich seiltänzerisch durchs Leben zu
bewegen, drüber zu bewegen, ich sage nicht, drüber zu schwindeln.

Im Film von Angela Schalenec „Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben“, verkündet die Protagonistin: „Ich möchte, dass man sich (an meine Texte) erinnert wie an eine Melodie“. Was genau möchten Sie bei Ihren LeserInnen hinterlassen?
Ich fange einmal verkehrt herum an mit dem, was mir zurückgespielt wird von Lesern. Die haben manchmal eine Antwort gefunden, in den Texten, die ich schreibe. Zum Beispiel wurde mir einmal die Aussage zurückgespielt, dass man im Fragen zuhause sein kann, dass man nicht immer eine Antwort braucht. Schon das Fragen an sich ist ein zufriedener Lebensversuch. Noch öfter gelingt es mir, das könnte man als eine Melodie bezeichnen, eine Lebensstimmung zu beschreiben, die andere Leser dazu anlockt, einzutreten in diese Welt und sich dort zuhause zu fühlen. Was sie vielleicht in ihrem eigenen Leben nicht
geschafft haben.
Es ist sehr schön, wenn ich merke, dass ein Echo kommt, von etwas Gelungenem.

Ich danke Ihnen für das Interview!

 

Ilse Helbich
Geb. 1923 in Wien, veröffentlichte im Alter von 80 Jahren ihr Debüt „Schwalbenschrift“, 2003. Diesem Roman folgten mehrere Erzählbände sowie die Aufzeichnungsbücher „Grenzland“, 2012, und „Schmelzungen“, 2015. Zuletzt veröffentlicht: „Zwei Geschichten vom Glück“ (Illustrationen: Angelika Kaufmann), Horn: Edition Thurnhof, 2018. „Diesseits“. Erzählungen. Nachwort: Franz Schuh, erscheint 2020 im Droschl-Verlag.
Buchkritik erscheint im nächsten Heft etcetera 81!
Interview zum Nachhören unter Literaturfenster Österreich: https://cba.fro.at/434139

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