85/LitArena X/Interview/Petra Nagenkögel

Petra Nagenkögel
Die Autorin Petra Nagenkögel war eine der drei Juroren/Jurorinnen des Jugendliteraturwettbewerbes LitArena X. der Litges St.Pölten.
Cornelia Stahl sprach mit ihr über Erfahrungen während der Pandemie, die Wahrnehmung von Zeit und ihre Tätigkeit als Autorin und Jurorin für die LitArena 2021.

Das Thema Zeit spielt eine tragende Rolle in Ihrem Roman „Dort. Geografie der Unruhe“, 2019, bei Jung und Jung erschienen. Wie haben Sie selbst die Zeit der Pandemie erlebt?
Die Zeit der Pandemie habe ich sehr ambivalent erlebt, jedoch ist sie noch nicht vorbei. Wir stehen noch mittendrin, wo genau, ist nicht zu sagen. Aber so ist es, wenn mittendrin steht, ist es schwer, es gleichsam von außen zu sehen. Ich brauche eine gewisse Distanz, um Ereignisse soziologisch einordnen zu können.
So ist es vielleicht auch mit dem letzten Jahr. Da erfassen wir noch nicht, was es für uns als Einzelne und als Gesellschaft bedeutet hat. Ich habe das zurückliegende Jahr als sehr ambivalent empfunden: als gedehnt und komprimiert zugleich. Und atmosphärisch als lähmend, gleichzeitig war es aber sehr spannend zu sehen, in welcher Intensität und Schärfe sich einige Phänomene gezeigt haben. Es hat sehr viel nach oben gebracht, ans Licht gebracht.

An welche Phänomene speziell denken Sie?
An Dinge, die sich in den letzten Jahren bereits gezeigt und die sich jetzt (während der Pandemie – Anm. d. Verf.). zugespitzt haben. – Ungleichheit, Grenzen, Eingrenzung, Ausgrenzung. Wie gehen wir mit Grenzen um? Wir standen jetzt auch wieder vor der Frage der Grenzschließung.
Eine weitere Beobachtung war: Wie laufen Diskurse, politische und mediale? Es war empörend mitanzusehen, wie der Diskurs über Corona gelaufen ist. Es heißt nicht, dass ich gegen  Schutzmaßnahmen bin, aber wie das Thema absolut gesetzt und vereinnahmt wurde, kam es mir vor, dass es auch darum ging, die Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung zu lenken und alle anderen Realitäten auszublenden. Das hat mich beschäftigt, erstaunt, aber auch empört. Es war eine Zeit, in der sehr viel wahrzunehmen war, und das muss jetzt, glaube ich, erst einmal verarbeitet werden.

Haben Sie die geschilderten Eindrücke irgendwo niedergeschrieben? Es gab ja eine Welle von Veröffentlichungen sogenannter Corona-Tagebücher.
Nein, ich habe nichts in dieser Art veröffentlicht. Ein paar dieser Tagebücher habe ich gelesen, aber ich bin sehr schnell zu dem Schluss gekommen, dass ein Autor keine andere Corona- Alltagserfahrung hat als irgendjemand sonst auch. Und das war mir meist zu wenig literarisch gestaltet. Und hängt sicher zusammen mit der fehlenden Distanz. Die privat empfundenen Gedanken zu Papier zu bringen, bringt, glaube ich, wenig Erkenntnisse (da die Pandemie ein gesellschaftliches Problem ist, welches alle angeht – Anm. d. Verf.).

Zeit, fremdbestimmt, selbstbestimmt. Welchen Umgang mit der Zeit pflegen Sie? Wo setzen Sie Prioritäten? Reservieren Sie Schreibzeiten im Tagesablauf?
Ich gehe etwas weiter zurück und beginne mit meinem persönlichen Interesse an dem Phänomen Zeit. Ich betrachte Zeit als Kategorie, die unser Denken prägt, wie auch der Raum. Wir können uns nicht denken außerhalb der Zeit und außerhalb des Raumes. Und sind aber daran gewöhnt, Zeit linear zu denken. Und den Raum als Fläche.
Mich interessiert sowohl beim Schreiben als auch bei einem Spaziergang durch die Stadt diese Ordnungskategorien ein bisschen zu untergraben. Mich fasziniert das Darunter-Liegende, das Nicht-Sichtbare ein Stück mitzulesen, die Geschichte. Und die scheinbare Trennung zwischen Geschichte und Gegenwart und damit die linear gedachte Zeit zu unterlaufen, aufzuheben. Dasselbe ist auch mit dem Raum machbar. Jeder Ort, jedes Stück Land, geographisch gesehen, trägt auch immer ein Stück Historizität in sich. Wie kann ich diese Landschaft auch als historisch gewordene lesen.
Zeit hat mehrere Schichten. Es geht darum, Zeit abzutragen, Schichten abzutragen, um zu dem Darunter zu kommen. Das wäre das, was mich interessiert an dem Phänomen Zeit.
Mein persönlicher Umgang mit Zeit ist wesentlich profaner und wahrscheinlich auch chaotischer. Ich gehöre nicht zu denen - Sie fragten vorher nach den Schreibzeiten – die sehr diszipliniert, strukturiert arbeiten. Das ist etwas, das mir leider sehr wenig gegeben ist. Ich würde sonst wahrscheinlich mehr schreiben.
Die Frage nach dem, was mir wichtig ist in Punkto Zeit würde ich beantworten mit der Begrenztheit der Zeit, die mir mit zunehmendem Alter bewusster wird. Und ich möchte gut damit umgehen, sodass der Umgang mit Zeit ein bewusst wahrgenommener ist. Das funktioniert zwar nicht immer, da wir durch die Gegenwart rasen, aber es geht immer wieder um kleine Unterbrechungen. Und darum, zu schauen, worum geht es in genau diesem Moment. Die Substanz des Augenblicks wahrzunehmen.

Wie ist der Kontakt zu Argentinien entstanden? Und wie hat er sich zum Ausgangspunkt Ihres Schreibens entwickelt?
In der Stadt Salzburg gab es ein Treffen von alternativen Nobelpreisträger*innen, und ich habe dieses Treffen genutzt, um einen davon ins Literaturhaus einzuladen. Es ging um ein ökologisches Thema. Er ist Aktivist und sehr beschäftigt mit dem Schutz des Territoriums der Indigenen Gemeinschaften an der Grenze von Argentinien zu Bolivien. Nachdem diese Themen auch mir ein Anliegen sind, war es mir wichtig, ihn sprechen zu hören und zu vermitteln. Und das war mein Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit Argentinien.
Danach begann ich, dieses Land zu bereisen, und es ist ein Land, das eine unheimliche Großzügigkeit hat und in dem sich alle Klimazonen durchfahren lassen. Dann gibt es Städte wie Buenos Aires, die Metropolen sind. Dieses Land hat mich einfach nicht losgelassen, ich bin immer wieder dorthin gefahren und es ist zu einem großen Sehnsuchtsort geworden. Und das Schreiben darüber war nicht von Anfang an das Ziel, aber es hat sich im Laufe der Reise herausgestellt, dass ich darüber schreiben möchte. Das war mir möglich, weil mir Argentinien fremd war, aber nicht zu fremd. Es ist ein Land, in dem man immer wieder auf Europa trifft und auf europäische Geschichte, das beginnt mit der Kolonialgeschichte. Interessant ist zu beobachten, wie die Kolonialgeschichte die Gesellschaft geprägt hat. Woran kann ich das heute noch erkennen? Dem nachzugehen, wurde mehr und mehr Thema.

Sind Sie bei diesem Thema geblieben oder sehen Sie das Buch als abgeschlossenes Projekt?
Das Buch ist zwar abgeschlossen, aber das Thema arbeitet weiter in mir. Beim Reisen würde ich die Region gern noch ein wenig ausdehnen auf die Atacama-Wüste, denn ich bin ein Wüstenmensch. Es interessiert mich insbesondere vor dem Hintergrund der ökologischen Veränderungen, die dort vonstatten gehen.
Ich habe sechs Reisen innerhalb von zehn Jahren gemacht, und es war in einem Abstand von ein, zwei Jahren spürbar, was sich alles verändert hat, wie sehr sich Landschaft verändert und wie sehr sich Klimazonen verschieben. Wie sehr Menschen mit den Extremen von Dürre und Regen zu kämpfen haben. Mit jedem Jahr wird Regen virulenter. Er spielt auch in meinem Buch eine Rolle, und ich glaube, dass man mit dem Schreiben auch eine Verantwortung trägt. Das ist mein Anspruch. Ich möchte nicht reisen, um es mir gutgehen zu lassen. Sondern um hinzusehen.
Und Chile und die Atacama-Wüste deshalb, weil es jetzt auch ein großes Thema bezüglich der Elektromobilität Die Ressourcen für die Batterien kommen unter anderem aus Chile, und was ich mitbekommen habe, hat der Abbau verheerende Folgen, insbesondere für den Wasserverbrauch, sodass die Menschen teilweise kein Wasser mehr zur Verfügung haben.
Das sind die Dinge, die mich beschäftigen und ich möchte mich mit meinen literarischen Mitteln damit auseinandersetzen.

Dank Ihrer Homepage bin ich auf neue Lektüre gestoßen. Woraus schöpfen Sie oder anders gefragt: Woraus entnehmen Sie Ihre Leseempfehlungen?
Ich arbeite in Salzburg als Literaturvermittlerin und leite einen Verein mit Schwerpunkt auf südost- und mitteleuropäischer Literatur. Ich hatte dort sehr interessante Begegnungen, und es ist neben dem Süden, global gesprochen, auch der Osten, der mich anzieht und fasziniert.

2021 waren Sie Jurorin der LitArena. Welche Eindrücke haben die Texte in Ihnen hinterlassen?
Die Texte haben mich insofern beschäftigt, als dass ich überlegte, was bilden sie ab? Primär und grundsätzlich ist mir aufgefallen, dass es in diesen Texten eine große Vereinzelung gibt, sowohl der Erzähler*innen als auch der Protagonist*innen. Ich habe mich gefragt, ob es mit dem letzten Jahr zusammenhängt, in dem wir gezwungen waren, einen gewissen Rückzug anzutreten und auf uns selbst zurückgeworfen waren. Es werden Themen abgebildet, die Jugendliche bewegen, etwa das Thema der Identität: Wer bin ich? Wo komme ich her?
Gleichzeitig habe ich eine Auseinandersetzung vermisst, mit dem größeren Ganzen. Es ging sehr viel um Privates, um kleine, private Perspektiven, aber es war wenig in den Kontext eingebunden. Das hat mich sehr erstaunt, denn Jugendliche haben es derzeit sehr schwer und vor allem haben sie eine unsichere Zukunft, was gesellschaftliche Kontexte betrifft und die gesamte Palette ökologischer Fragen. Das hat mich gewundert. Dann ist mir aufgefallen, dass es Texte, die auf der Suche nach dem sprachlichen Ausdruck und auch nach einem bestimmten Thema waren. Ich fand viel an Unentschiedenheit, an Uneindeutigkeit. Vielleicht hat die Atmosphäre der Unsicherheit, die im letzten Jahr dominierte, die Schreibenden beeinflusst und vermittelt sich nun in ihren Texten. Das wäre jetzt meine Erklärung.

Danke für das Interview und Ihre Zeit!

Petra Nagenkögel
Geb. 1968 in Linz, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Salzburg. Sie ist Autorin, leitet seit 1996 den Literaturverein prolit im Salzburger Literaturhaus und bietet Schreibwerkstätten für Jugendliche und Erwachsene an. Zudem ist sie als Literaturvermittlerin tätig und gesellschaftspolitisch aktiv. Letzte Veröffentlichung: „Dort. Geografie der Unruhe“. Salzburg/Wien: Jung und Jung, 2019.