Carl Aigner: Die 68er - eine Kulturrevolution? I. Reichel
Carl Aigner
DIE 68er – EINE KULTURREVOLUTION?
Ingrid Reichel besuchte Mag. Carl Aigner, den Museumsdirektor im Landesmuseum NÖ am 20. Juni 2008, 10 Uhr.
Ein Gesprächsfragment
68? Action!
Ich war 14 Jahre alt, als ich die 68er erlebt habe. Am Land. Meine lebhaften Erinnerungen an das 68er-Jahr waren André Heller im Ö3, Jimmy Hendrix, das heraufkommende Woodstock Musikfestival, dass wir sehr viele Kirschen im Garten hatten und ich mich in das erste Mal zu verlieben begann, ein ganz wunderbares Mädchen, ein Jahr älter als ich, ich fühlte mich deshalb wie Marlon Brando, die ersten Kassettenrekorder – das war für uns auf dem Land eine Medienrevolution! – und nicht zu vergessen, der Prager Frühling mit den Durchhalteparolen des damaligen österreichischen Bundespräsidenten aus der Schweiz. Ich war auf einer Alm im Sommer und glaubte, ich würde die Eltern nie mehr wieder sehen, so sah damals österreichische Politik aus. Sehr wenig wusste ich qua Fernsehen über die Studentenrevolte.
Ist das nicht prägnant für Österreich?
Ja und nein. Ich bin geneigt zu sagen, dass man lange die 68er zu sehr als eine spezielle Revolte gesehen hat. Es war vor allem eine generelle Revolte einer Generation. Das heißt, es hatte auch sehr viel mit Generationenwechsel zu tun.
Vom Prinzip her ist es doch so, dass die Revolte in Deutschland ein Zeigen auf die faschistoiden Eltern war mit den extremen Konsequenzen der Terroragitationen der RAF. Bei uns hätten wir dasselbe Thema zu verarbeiten gehabt, doch es ist nichts passiert. In Frankreich war es, abgesehen von der Studentenrebellion, eine politische Aktion der Arbeiterbewegung mit vehementen Streiks.
Es gibt also zwei Aspekte: die eine ist eine politische, die andere möglicherweise eine archaische.
In einem Vortrag „Kunst und Kultur am Ausgang des 20. Jahrhunderts“ (Wiener Vorlesungen 16.April 1997) spricht Hobsbawm von der eigentlichen Kulturrevolution des 20. Jahrhunderts, die sich seiner Ansicht nach in der Reproduktion der Kunst manifestierte.
Im Aktionismus können wir, denke ich, jedoch durch seine Einmaligkeit das Archaische sehen.
Wir müssen es breiter sehen. Es kommt mehr zusammen. Ich glaube dieser Antifaschismus mit der Revolution gegen die Generation der Eltern, die alles verdrängt haben, ist nur ein Teil. Deutschland war viel weiter als Österreich und ist schon in den 60er-Jahren eine Konsumgesellschaft geworden – das Wirtschaftswunder Deutschland im Laufe der späteren 50er Jahre. Es war über das Moment des Antifaschismus hinaus, glaub ich, eine ganz wesentliche Werterevolte. Wie es bis heute eigentlich in fast jeder Generation ist. Ich weiß nicht, wie die jüngste Generation ausschaut, aber dass jede Generation, so zu sagen, zu ihrer Wertigkeit finden muss. Wir wissen über viele Forschungen, was einen Teil der Faszination am Hitlerfaschismus ausmachte, dass, was die negative Kraft ausmachte, war die Mischung einerseits des Archaischen und andererseits des absoluten Modernisierungsanspruchs. Das ist die eigentlich unglaublich brisante Mischung, wo die Menschen nicht mehr klar gewusst haben, wo sie sind. Einerseits das Zurückgehen über das Thema des Germanischen ins Ritualleben, das Jahrtausende alt ist, auf der anderen Seite gibt es etwa erstmals das Radio, welch Wunder für die Menschen damals!
Ich habe im Rahmen meines Geschichtsstudiums eine Seminararbeit mit dem Thema „Die Anschlusspropaganda“ gemacht und da habe ich Unterlagen aus dem Dokumentations- und Staatsarchiv gefunden, in denen steht, dass z.B. der Gauleiter Bürckl einen Bericht aus dem Burgenland bekam, dass NS-Soldaten und Offiziere dort Anschlusspropaganda zu Pferd machen, worauf sofort diktatorisch ein NS-Befehl kommt: „Keiner darf mehr mit dem Pferd, sondern nur mehr mit dem Auto!“. Wenn jemand mit so einem technischen Wunderwerk kommt, ist das eine Faszination, die für uns heute überhaupt nicht mehr nachvollziehbar ist, angesichts unserer Hightech-Lebensrealität.
Die Verführung ist etwas, was immer erst im Nachhinein als solche nachvollziehbar ist! Absicht und Blindheit sind eine bedrohliche Mischung.
Und ich glaube, dass da viel in den 60er Jahren an diese Elterngeneration anschließt, diese konsumistische Gesellschaft, wo keine Wertigkeit mehr stattfindet, sondern Geld und Wirtschaftswachstum zählen. Der Kulturschock des 20. Jahrhunderts geht über die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts hinaus, dieser Eintritt in die absolute Moderne ist unausweichlich mit all den Folgen, die wir kennen, verknüpft – der Werteverlust der Gesellschaft, es zählt nur mehr das Haben, das Besitzen. Nicht zufällig schreibt Erich Fromm, später in den 70er Jahren sein unglaubliches Buch „Haben oder Sein“.
Deutschland war in den 60er Jahren nicht nur ein Land, das sich wirtschaftlich wieder gefangen hat und das durch die US. Besatzung stark amerikanisiert war …
Auch Österreich war besetzt…
WEITER…
Ja, doch ich glaube, deswegen sind die 68er in Deutschland viel politischer abgelaufen, auch weil es mehr Urbanität als in Österreich gibt.
Die Künstlerin und einstige Otto-Mühl-Kommunardin Therese Schulmeister meinte in einem Club 2 (ORF 2 am 09.04.08): „Wir haben die 68er-Revolution eben künstlerisch gelöst.“
Ich stimme dem zu, bei uns war es eine Revolte, die vor allem über die Kunst geführt worden ist und es war eine Revolte in der Kunst.
Ist sie geglückt?
Ich denke schon. Wenn man sieht, wie erfolgreich der Aktionismus heute ist, ist sie geglückt.
Gibt es ihn noch, den Aktionismus?
Wenn man Hermann Nitsch nimmt …
Aber der Wiener Aktionismus ist vorbei…
Er ist ein kunsthistorisches Phänomen …
Bezeichnet sich Hermann Nitsch denn selbst noch als Aktionist?
Na ja, selbstverständlich hatte Nitsch eine Sonderrolle. Wenn man genau hinschaut, hat diese gemeinsame kurze Zeit mit Frohner, Brus, Mühl und Nitsch verschiedenste Formen angenommen.
Kann man diese verschiedensten Gruppierungen des Aktionismus, die auf internationaler Ebene stattgefunden haben – ich denke an: Aktionismus, Performance, Body Art, Fluxus… – überhaupt unterscheiden?
Nur bedingt. Vielleicht ist der Wiener Aktionismus entscheidend, da sie die einzige Kunstform nach 1945 ist – sowie der Expressionismus die einzige Kunstform in Deutschland vor 45 – die genuin aus dem Land gekommen ist, weil der Wiener Aktionismus erstens wirklich die bildende Kunst gemeint hat, zweitens weil er sehr radikal, quasi psychoanalytisch agiert hat. Das heißt, hier ist es um die Frage des Subjekts gegangen. Dies war das Entscheidende.
Und der Aktionismus der Japaner, der viel früher eingesetzt hat …
Nein, das ist eine ganz andere Kulturform. Aber zurück zum Wiener Aktionismus, was man noch klar sehen muss, ist, dass er etwas in der Kunst radikalisiert hat, was einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem II. Weltkrieg hatte. Weniger mit dem Thema Faschismus als viel mehr mit dem Thema der totalen Zerstörung, der Vernichtung, also des Destruktiven. Eine Facette des Wiener Aktionismus war, lange habe ich mit Adi Frohner darüber gesprochen, der einmal erzählt hat: „Ich habe viel Glück gehabt und trotzdem ist es mir passiert, ich laufe im Weinviertel durch die Gegend und falle plötzlich als Bub über einen getöteten Soldaten,“ die plötzliche Erfahrung von Zerstörung und Tod. Das heißt der Wiener Aktionismus hat im kulturellen, künstlerischen Bereich nur etwas vollendet, was in der Gesellschaft quasi 15 Jahre davor passiert ist, nämlich zu sagen - und das spürt man bei Rainer ganz stark – bitte, die ganzen hohen kulturellen Werte, die ganze Klassik, die ganze hohe Kunst hat uns nicht vor diesen Katastrophen im 20. Jahrhundert bewahren können. Wir müssen die Kunst genauso zertrümmern, damit wir überhaupt die Chance haben, neu anzufangen. Dies ist dieses scheinbar destruktiv Selbstzerstörerische im Wiener Aktionismus mit dem Background auf die Chance überhaupt wieder beginnen zu können. Denn wo sollen wir denn weitermachen? Wir können nicht mehr mit der Klassik, mit der Kunst des 19. Jahrhunderts, schon gar nicht mit der des 20. Jahrhunderts weitermachen.
Im Gegenteil, wie wir wissen, sind einige Expressionisten begeistert in den I. Weltkrieg gezogen.
Es ist nicht leicht dahinter zu kommen, doch angesichts der beginnenden Konsum- und Wegwerfgesellschaft im Zusammenhang mit dieser Werterevolte oder –diskussion oder wie immer man es bezeichnet, glaube ich, ist es eine ganz wichtige Wurzel zum Verständnis des Wiener Aktionismus.
Und das ist auch etwas Unverwechselbares. Das gibt es in den anderen aktionistischen Formen nicht.
In Amerika, Jackson Pollock mit seinem Action Painting, kommt von wo anders her. Es hat sich nämlich davon, dass spätestens in den 20er-Jahren die Gesellschaft so dynamisiert, sodass die Kunst, auch die Malerei dynamischer geworden ist. Alfons Schilling mit seinen runden Drehbildern, zum Beispiel. Auch die Skulptur mit ihrem Sockel hat keine Gültigkeit mehr gehabt. Auch die Plastik musste dynamisiert werden. Es ist kein Zufall, dass vor allem Fluxus und zum Teil Happening sehr stark aus dem Theater, aus den Formen des Theaters kommen.
Wobei Fluxus die einzige Gruppierung war, die international funktioniert hat…
Ja …
… ich komme jedoch zurück zum Wiener Aktionismus. Hat er nicht auch etwas mit der österreichischen Seele zu tun, mit der Mentalität des Todesnahen? Wir hatten das schon öfters in der österreichischen Kunst.
Ich warne, dass wir uns hier in Klischees festfahren. Ich wäre da sehr vorsichtig. Den Tod zu einer Ikone der österreichischen Kunst zu stilisieren, das würde nicht funktionieren. Aber dieses Drama des Todes einer Staatsform, die Jahrhunderte Weltmacht war, das hat niemand so erlebt wie Österreich. Nämlich als Folge, dass aus dem großem Österreich ein kleines geworden ist. Diese ganzen Minderwertigkeitskomplexe, die entstanden sind – wer sind wir und sind wir lebensfähig? – das hängt damit zusammen. Natürlich sage ich – und inzwischen kenne ich viele Wiener, die mir das bestätigen – ein Sigmund Freud hätte seine Erkenntnisse nur in Wien machen können.
Zumindest kann man es sich nicht anders vorstellen.
Ja, insofern ist da was dran. Doch ich glaube, dass das zuerst Skizzierte viel nachhaltiger der Background und die Wurzeln des Aktionismus sind.
Wenn man dann schaut – diese ganzen Bewegungen … ich weiß nicht, ob sie es gelesen haben, 1969 hat Peter Brook sein erstes großes Theaterresümee gezogen: „Der leere Raum“. Eine ganze Radikalisierung des Theaters, weil man auch an das Theater so nicht mehr glauben konnte. Auch das Brecht’sche Prinzip der Entfremdung hat im Zuge einer beginnenden Konsumgesellschaft keine Wirkung mehr gezeigt. Also dieser große Aufbruch in den 50er-Jahren …
Aber wo stehen wir heute mit der Enttabuisierung?
Von meiner ersten Jugendliebe an war das Thema Körper, Sex oder Erotik kein Problem. Das war schon eine Folge der 60er Jahre. Ich sage aber trotzdem: mehr als die künstlerischen Enttabuisierungsversuche hat spätestens mit Ende der 70er ganz wer anderer geleistet. Im Breiten … wer glauben Sie war das?
-?-
Wir haben es heute tag täglich vor den Augen, wenn wir durch die Stadt gehen…
-??-
Die Werbung, die Sexualisierung der Werbung. Palmers 1979…
Ah, die Vervielfältigung, sagte ich doch bereits…
Die trifft auf alle Gesellschaftsbereiche zu. Aber 1979, ich erinnere mich noch, nein es war 80, wurde die Palmers-Reklame mit dem schönen Satz „Trau dich doch“ veröffentlicht.* Es war das einzige Mal in Österreich, dass die damalige Frauenbewegung und die katholische Kirche gemeinsam rebelliert haben. Ich erinnere mich noch, ich war damals viel in Kontakt mit Emanzipationsbewegungen und ich muss sagen, das hat viel mehr zur Enttabuisierung beigetragen. Die tatsächliche Umsetzung in die breite Gesellschaft, das hat die Konsumgesellschaft und die damit verbundene Werbeindustrie geleistet. Wer regt sich denn heute noch auf über ein Palmersplakat …? Wiewohl die Kunst diesbezüglich immer avantgardistisch war und ist.
Das möchte ich so nicht stehen lassen …
Na ja gut. Vielleicht spezielle Gruppierungen. … Da geht es aber um einen ganz anderen Aspekt, meiner Meinung nach. Wir sind eine Generation, die glaubt, nie älter zu werden.
Wir sind eine Generation, die zurückfindet zu den ursprünglichen Tabus.
Ja, weil eine Gesellschaft ohne Tabus eine Gesellschaft ohne Zukunft ist, wie soll sie sich den definieren? Nur im konsumistischen hedonistischen Rausch?
Also offensichtlich war das alles schon zu frei.
Man kann nicht sagen frei, sondern: Wenn alles möglich ist, ist nichts mehr möglich.
Ich denke an Paul Feyerabend, sein berühmtes Buch in den 70ern, wie haben wir es verschlungen, „Anything goes“, das war ein Kultbuch. Die ganze Welt hinter sich lassen, alles aufbrechen.
Ein Teil der Drogengeschichten ist nur von daher verständlich, um zusätzlich Grenzen zu überwinden. Denken sie an die Future-Bewegungen. Damals gab es noch das Credo einer absoluten Machbarkeit der Welt, der Mondflug, Zukunftsvisionen, von synthetischer Kleidung bis hin zur synthetischen Nahrung. Das hat sich als große Illusion herausgestellt. Die Grenzen waren schnell tödlich für die, die daran geglaubt haben. Ich glaube, dass wir Menschen so gebaut sind, dass wir Grenzen brauchen. Das ist ja auch die Revolution der Jugend, die mit diesem 68er, alles ist erlaubt Grenzen braucht, um diese zu überwinden, damit wir überhaupt eine Entwicklung machen können.
Hat es nicht auch damit zu tun, dass wir mit Freiheiten nicht umzugehen gelernt haben?
Ja, auf alle Fälle. Aber es gibt was Anthropologisches darin. Dass wir diese Erfahrung der Grenze brauchen und sie erkunden, damit wir eine konstruktive Entwicklung wahrnehmen können. Auf der anderen Seite merke ich, wie junge Leute enorme Sinnprobleme haben, weil sie keine Grenzerfahrungen mehr machen (können). Denn Sinn gewinne ich nur durch Grenzerfahrungen. Meine Generation war (und ist es hoffentlich noch) voller Lebenssinn, der reichte eigentlich damals für mindestens zwei Leben!
Unsere Jugend hat keinen Grund zu rebellieren. Es gibt auch keine Nestflucht mehr …
Mich erschreckt etwa das fehlende Bewusstsein über den Wert von Demokratie. Wenn ich mit jungen Leuten rede, so ist dies für sie das Selbstverständlichste, quasi etwas Natürliches. Das heißt, es fehlt jegliches Bewusstsein darüber, dass jede Generation sich Demokratie erarbeiten muss.
Abgesehen davon, dass, von der Weltbevölkerung her gesehen, eher nur die Minderheit in so einem demokratischen System leben darf.
Abgesehen von diesen globalen Dimensionen, geht es um andere elementare Momente wie das Umgehen mit Zeit und unseren Megastrukturen. Müssen wir zu jeder Jahreszeit immer alles haben, etwa was globale Lebensmittel betrifft? Macht uns das wirklich glücklicher, wenn wir quer durch das Jahr über alles verfügen können? Wir verlieren jedwede Jahreszeitliche Empfindung und Rhythmisierung, wir leben in einer höchst problematischen Ubiquität!
Wenn wir dies nun umsetzen auf die Kunst und den musealen Betrieb, so geht der Trend doch in dieselbe Richtung, nämlich die der Megaausstellungen mit den Erwartungen von Massenbesuchern, die auch wegen der Versicherungsgelder und der Leihgebühren dementsprechend viel Geld kosten. Es scheint ein gutes Geschäft zu sein, welches aber nichts, wenn man von der Message der 68er ausgeht, zur Besinnung beiträgt, die Reproduktion schreitet voran, obwohl der Künstler, wenn man verschiedene Statements hernimmt, dagegen arbeitet. Im Endeffekt hat er doch keine Chance!
Ich würde nicht sagen, dass er keine Chance hat. Sondern wir sind in einer gesellschaftlichen Situation, in denen die Wohlstandsgesellschaften kaum noch eine existentielle Brisanz erfahren. Das heißt, die Kunst war schon über Jahrhunderte bei uns ein existentieller Brennpunkt der Gesellschaft. Das war Machtdemonstration, Reichtumsdemonstration, das war so etwas wie ästhetische Revolution im Zuge einer gesellschaftlichen Revolution in verschiedener Hinsicht. Und heute sind wir in einer Situation, wo eigentlich die Kunst quasi auf einen Punkt gekommen ist, wo sie nur mehr ästhetisch ist, ihre gesellschaftliche Brisanz ins Behübschende transformiert wurde. Aber vielleicht benötigen Wohlstandsgesellschaften nur mehr eine ästhetische Wellness, vielleicht.
Da muss ich jetzt nachhaken. Vom Ende des 19. Jahrhunderts an wurden die Beaux Art – die Schönen Künste – zu Scheinheilige Künste degradiert und man wollte von dem Akademischen in der Bildenden Kunst weg. Das hatte sich eigentlich schon bei den Impressionisten manifestiert.
Es hat etwas anderes begonnen, etwas was die Impressionisten, eigentlich schon die Naturalisten aufgegriffen haben und das später nach 45 ein Thema in der Kunst geworden ist: die Verschränkung von Alltag und Kunst. Kunst ist nicht mehr ein gesonderter Teil des Lebens, mit der fatalen Folge, dass das, was Kunst ist, immer unschärfer wird und für die Menschen immer schwieriger rezipierbar wird.
Ja. Aber zurück zur Reproduktion. Natürlich kann man sogar in der Reproduktion ein einzelnes Werk – ein Original – sehen. Dennoch könnte man doch sagen, dass ein Künstler wie Andy Warhol in seinem Kunstsinnen – des Antikapitalismus in der Kunst – versagt hat. Er wollte Kunst seriell vervielfältigen (Siebdrucke), damit sich auch der kleine Bürger Kunst leisten kann. Der Schuss ging nach hinten. Wer kann sich denn einen Andy Warhol leisten? Die Reproduktionen von Warhol sind jedenfalls für den kleinen Mann nicht erschwinglich.
Das stimmt nicht. Noch nie, zu keiner Zeit haben so viele Menschen Kunst besessen und mit Kunst zu tun gehabt wie heute. Das Drama dabei ist, wenn sich eine Gesellschaft zur Konsumgesellschaft entwickelt, dass dann alles Teil dieses Konsums wird. Also auch die Kunst wird Teil des Konsums und ist eine Ware geworden. Und genau das hat auch der Andy Warhol gesagt. Es gibt keinen Menschen hier in Österreich, der keinen Zugang zur Kunst hat. Jeder, der will, hat Zugang zur Kunst. Dass es Schwellenängste gibt, ist eine andere Geschichte. Das war im 19. Jahrhundert noch nicht so.
Das heißt also dieses Drama der Kunst und dieser verzweifelte Versuch der Avantgarde nach 45, dem Herr zu werden, indem man gesagt hat, wir unterlaufen die Konsumgesellschaft mit der Kunst, indem wir sagen alles ist Kunst nach Beuys oder wir verschränken Alltag und Kunst so intensiv, dass die Kunst konsumistisch keine Chance hat. Das hat natürlich nicht funktioniert.
Gibt es noch eine Avantgarde?
Es ist sicher so, dass es, ich würde sagen, seit den 80er Jahren keine Avantgarde mehr gibt. Wo wir mit dem Schlagwort der Postmoderne … Umberto Eco hat einmal so schön gesagt: Die erste Postmoderne in der europäischen Kultur, das ist der Barock. Das ist bereits im Barock geschehen. Deshalb können wir nicht mehr von Avantgarde sprechen, höchstens noch in der Mehrzahl, da sich auch dieses Prinzip aufzulösen beginnt. Der Begriff der Avantgarde ist eine Folge des 19. Jahrhunderts, der Säkularisierung, der Beschleunigung der Gesellschaft, sozusagen ein Zeitpunkt, von dem an wir es besser machen. Aber wir wissen, dass das Prinzip des Bessermachens ein relatives ist. Da kommen wir nicht drüber hinweg. Das hängt von Konstellationen ab. All dieses lineare Denken, eigentlich bis zum II. Weltkrieg, das hat sich in den 80er Jahren u. a. auf Grund der neuen Kommunikationsmedien total aufgelöst. Das ist ja auch die Schwierigkeit und die Anstrengung im Bereich der Künste, die Frage, wo wirksam werden, wo Brisanz entwickeln. Und ein Teil der Brisanz liegt in der Immanenz der Kunst, im formalen Weitertreiben, in der Möglichkeit der ästhetischen Programme. Deshalb ist es auch immer Teil des Progressiven einer Kunst, nicht das Thematische, da ist glaube ich die Wirksamkeit … wir haben es gesehen in der Werbeindustrie, wie viel in den 60er und 70er Jahren von den künstlerischen Errungenschaften in die Werbung gebracht worden ist. Der Kubelka (Peter Kubelka) mit seiner Schwechater-Werbung, die Humanic-Werbung – das ganze Programm der Humanic-Werbung kommt aus diesen Avantgarde-Formen, aus der Kunst heraus. Und, dass das in den 70er Jahren möglich war, sie das nicht abgestoßen hat, zeigt, wie weit sich die Gesellschaft quasi weiter entwickelt hat.
Trotzdem kommen wir immer wieder zu der Angst zurück. Vom Tod der Kunst sprach schon Miró. Es ist immer wieder der Tod und die Kunst im Gespräch. Ob nun die Kunst von der Technik überrollt wird oder die Museen zu Friedhöfen deklariert werden, es ist immer wieder die Angst um den Tod der Kunst zu spüren.
Hegel war der erste, der aus der Logik der Aufklärung heraus vom Tod der Kunst gesprochen hat. Weil die Kunst als wesentliches Medium der Aufklärung und auch des aufklären Könnens gesehen worden ist und sobald sie sich frei spielt aus herrschaftlichen, damals natürlich höfischen Befindlichkeiten …
Aber wir müssen schon etwas nüchtern sehen, nämlich unser Kunstbegriff kommt eigentlich aus dem späten Mittelalter.
Davor ist Kunst ganz anders definiert worden. Innerhalb dieser 500 Jahre hat sich der Kunstbegriff dann mit dem 19.Jahrhundert in einer Art und Weise radikalisiert, jede Avantgarde hat ihren eigenen Kunstbegriff entwickelt. Es gibt keinen absoluten Kunstbegriff. Er hängt immer ab von grundsätzlichen gesellschaftlichen Konstellationen, Befindlichkeiten und Gegebenheiten.
Das heißt unser Kunstbegriff verändert sich.
Ja, er wird sich verändern und die Frage, das ist das Spannende, ob in 50 Jahren eine Gesellschaft überhaupt noch Kunst braucht oder ob sie nicht neue Formen entwickelt, sag ich ganz provokant.
Denken sie da an bestimmte Formen einer anderen Ebene?
Nein, ich denke parallel zu einer Entwicklung, die uns alle tagtäglich vom Sessel hauen müsste, die ganze gen- und biotechnische Entwicklung. Wir wissen nicht, wie wir den Menschen und die Natur in 50 Jahren definieren werden, denken Sie an all die bio- und gentechnischen Visionen! Aber das ist eine elementare Zäsur in der gesamten Geschichte der Menschheit, die ist so fundamental, eine absolute Novität des biotechnologischen Stadiums, in das wir gekommen sind.
Würden sie sich Künstler oder eine Kunstrichtung wünschen, die werteweisender wären, die mit dem pädagogischen Zeigefinger auf Dinge hinweisen?
Ja, aber das kann nicht in alten Mustern geschehen. Auf Grund der Gegebenheiten muss sich heute ein Künstler ganz anders in die Gesellschaft einbringen. Etwas Plakatives wird wohl kaum mehr funktionieren. Die Gesellschaft ist zu komplex geworden. Die Diversität ist die Schwierigkeit. Wir werden nicht darüber hinwegkommen, dass wir Wertediskussionen führen, denken Sie an die Religionsdebatten.
Aber interessant ist jetzt doch, wenn sie fragen, ob der Mensch in 50 Jahren noch Kunst braucht, braucht er dann Religion? Schließt das eine nicht das andere aus?
Na ja, man kann das nicht absehen. Man könnte ja so sagen: die Bedeutung der Kunst, die sie in den letzten 300 Jahren in der europäischen Gesellschaft gewonnen hat, hängt mit der Aufklärung, mit der Säkularisierung zusammen. Und zwar in der Art und Weise, dass der Mensch zunehmend auf das Rationale reduziert worden ist. Im Windschatten dessen ist die Kunst ganz rasch ein Ort geworden, wo es immer um das Ganzheitliche des Menschen geht. Selbst dort, wo man es im ersten Moment nicht sieht. Der Expressionismus hat es auf den Punkt gebracht. Die erste Kunstrichtung in der Geschichte der europäischen Kunst, in der das Postulat von den Künstlern gesetzt wurde: Wir sind diejenigen, die eine neue Gesellschaft schaffen. Das war bis Nietzsche noch undenkbar. Nietzsche hat ja folgenden Satz gesagt: Die Kunst ist die große Ermöglicherin, die große Stimulans des Lebens. Weil er gesehen hat, dass es in der Kunst um den ganzheitlichen Menschen geht und nicht nur um die Aufklärung und das rein Rationale. Was ja auch nicht geht, weil wir so nicht gebaut sind. Es ist die große verborgene Aufgabe der Kunst, wie es schon Nietzsche gesagt hat: Wir brauchen die Kunst, um die Wahrheit zu ertragen.
Und die Wahrheit heißt dann nichts anderes, als dass wir ans Ende kommen, wenn wir uns nur als rationale Wesen verstehen.
Dies ist ein guter Punkt, um zu einem Ende zu gelangen. Wenn uns die Kunst das Unerträgliche erträglich macht, geht die Rechnung auch nicht auf … Ich beobachte schon seit längerem die Besucher bei Ausstellungen, ganz speziell bei Retrospektiven bezüglich Aktionismus – Günter Brus, Rudolf Schwarzkogler – auch in zeitgenössischen Ausstellungen wie bei Elke Krystufek. Sie gehen vorbei und schauen weg. Es ist ein Tabu, das schaut man sich nicht an. Die kleinen Ausstellungskojen für die jeweiligen Künstler bleiben unangetastet und unbesichtigt. Bestenfalls ein verschämter Seitenblick. Das alles ist noch nicht gelöst. Es ist noch so viel drin.
Nein, weil es etwas Unlösbares ist. Zumindest bis jetzt. Es ist ein falscher Blick. Ein Missverständnis. Man sagt ja über den Körper, über das Sexuelle finden die Aufregungen der Gesellschaft statt. Dahinter gibt es eine einzige Geschichte, nämlich die des Todes und das ist eben der Nitsch, das macht ihn zu einem Skandalon. Das Einzige, was die Menschen heute noch aufregt, das ist der Tod. Weil es noch immer das Absolute ist. Das heißt, wenn wir jetzt genau schauen in der rebellierenden Kunst, wenn es um den Körper geht, steht in Wahrheit immer die Vergänglichkeit des Körpers dahinter. Das äußert sich über das Sexuelle genauso. Unbewusst. Das eigentliche Tabu in der Gesellschaft ist weniger das Sexuelle als der Tod. Das Sexuelle ist sozusagen die Botschaft des Todes, wenn man das verkürzt so formulieren kann. Das Eigentliche gerade in der barocken Kultur ist das enorm produktive Spannungsfeld zwischen dem alltäglichen Tod – die Erfahrungen mit dem, was sich da alles abgespielt hat, vom 30-jährigen-Krieg etcetera – und auf der anderen Seite geht diese unglaubliche Lebenslust hervor.
Wir leben doch heute in einer Gesellschaft, die nicht sterben will.
Das ist so.
Wir haben ein total gestörtes Verhältnis zum Tod.
Das hat eine immanente Logik. Denn die Konsumgesellschaft, die Luxusgesellschaft wird zunehmen und sie hätte eine enorme Betriebsstörung, wenn die Menschen das Thema der Vergänglichkeit, der Realität des Todes anders verarbeiten als durch Konsumrausch. Das ist auch ein immanentes Problem jeder Leistungsgesellschaft, den Leistungsdruck macht stromlinienförmig, wenn wir genau hinsehen ...
Aber gerade in der Konsumgesellschaft ist es doch so, dass alles kaputt wird.
Aber es ist sofort wieder da. Durch die Ersetzbarkeit beginnt die Verwischung. Ein Bewusstsein darüber, dass wir eine einzige Realität haben im Leben. Und das ist die, dass wir nach wie vor sterben werden.
Die Menschen sind das einzige Lebewesen, das über die eigene Vergänglichkeit ein nachhaltiges Bewusstsein entwickelt hat. Das ist das einzige Drama in der Geschichte, das ist auch der magische Ort, wo die Menschen das Paradies verlieren, denn im Paradies ist man unvergänglich. Und seitdem machen die Menschen nichts anderes, als dagegen anzuarbeiten, gegen die Unvergänglichkeit. Wie die Ägypter mit ihren Pyramiden etcetera. Jede Gesellschaft sucht sich sozusagen aus seinen jeweiligen Gegebenheiten seine Möglichkeiten unvergänglich zu werden, die Religion, im Säkularisierungsprozess im 19. Jahrhundert ist es die Technik, der zivilisatorische Fortschritt, die Maschinen. All das, was mir das Leben erleichtert. Und das steckt alles im Aktionismus und in der Kunst nach 45. Wenn man genau hinschaut, ist das eigentliche Tabuthema der Tod.
Nun am Ende unseres Gesprächs. hoffen wir, dass die Kunst weiterleben wird.
Sagen wir so: Hoffen wir auf eine Gesellschaft, die unbedingt Kunst braucht.
Berichtigung: *Laut Internetrecherche war die Palmers Aktion Ende Oktober 1981.
Sigrid LöffIer: Der Wiener Wäschekrieg. Frauen protestieren gegen Sexismus in der Werbung. (DIE ZEIT, 04.12.1981 Nr. 50).
Zusatz: Anyting goes ist der Slogan aus dem Werk Paul Feyerabends „Wider dem Methodenzwang“ (Against Methods, 1975)
Biografie: Carl Aigner
Mag. phil., geboren 1954 in Ried im Innkreis/OÖ. Studium der Geschichte, Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik in Salzburg. Seit 1989 Lehrtätigkeit an verschiedenen österreichischen Universitäten und an der Universität für Angewandte Kunst Wien; 1991 gründete Carl Aigner die internationale Photo-, Kunst- und Medienzeitschrift EIKON; 1997-2003 Direktor Kunsthalle Krems. 2000/2001 Projektleitung der Abteilung Kulturwissenschaften an der Donauuniversität Krems. Seit 2001 Direktor des Niederösterreichischen Landesmuseums in St. Pölten. 2004 Verleihung des „Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst“ durch die Republik Österreich. Seit 2005 Präsident von ICOM Österreich (International Council of Museums). Zahlreiche Herausgeberschaften und Publikationen zur Bildenden Kunst, Photographie und Medienkunst; lebt in Krems und Wien.