Heide Kouba: Einstweilen wird es Mittag... . Reinhard Müller
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Foto: © Daniela Beranek |
Heide Kouba
Einstweilen wird es Mittag…
Aus dem Gespräch der Drehbuchautorin Heide Kouba mit Reinhard Müller. Café Prückel in Wien, am 3. Februar 2010*
Frau Dr. Kouba, wie kam es zu diesem Film? Wer hatte überhaupt die Idee zu dem Film „Einstweilen wird es Mittag…“?
Die Idee zu dem Film stammt von mir. Sie entstand aus unterschiedlichen Überlegungen und Erfahrungen. Ich selbst habe nicht Soziologie studiert, habe aber Ende der siebziger Jahre die organisatorische Leitung des Forschungsprojekts Multinationale Konzerne und Gewerkschaften übernommen. Dadurch habe ich viele junge Soziologen kennengelernt, die an dieser europäischen Studie beteiligt waren. Und durch diese bin ich auf die Marienthal-Studie aufmerksam geworden. Es herrschte damals in Österreich eine beginnende Altersarbeitslosigkeit.
Und in Deutschland gab es sogar eine veritable Welle von Arbeitslosigkeit. Das heißt, „Arbeitslosigkeit“ war schon ein Thema. Mein Hauptinteresse lag jedoch eigentlich in der Situation der Menschen: der Arbeitslosen wie der Forschenden.
Es wird ja immer sehr verkürzt gesagt: Hier wurde die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ verfilmt. Das ist für mich in vielerlei Hinsicht eine falsche Aussage und eine unzulässige Verkürzung. Erstens glaube ich nicht, dass man eine wissenschaftliche Studie wirklich verfilmen kann.
Zweitens war mein Ansatz von Anfang an, das Setting dieser Studie zu „verfilmen“ beziehungsweise dieses als Grundlage für den Film herzunehmen. Das heißt, ich wollte mich nicht primär, nicht ausschließlich mit dem Thema „Arbeitslosigkeit“ beschäftigen. Diese war nur ein Aspekt.
Ich wollte mich zusätzlich mit einem für mich damals sehr interessanten Aspekt beschäftigen: Wie funktioniert die Interaktion zwischen den Forschern, oder generell, zwischen Forschern und Beforschten? Ich erkannte bei der Feldforschung Parallelen zu Dingen, die ich selbst erlebt habe, jedoch nicht in einem Forschungszusammenhang.
Ich habe mehrmals und längere Zeit als Regieassistentin gearbeitet. Da ist es – ähnlich wie bei den Forschern der Marienthal-Studie – natürlich so, dass ein Filmteam, das heißt, Menschen aus einer ganz anderen Welt, in eine geschlossene Welt „einbrechen“, dort sehr intensiv mit den Menschen vor Ort arbeiten und danach wieder gehen, so, als wären sie nie da gewesen. Diese Situation, denke ich, ist vergleichbar mit einer anderen, aber ähnlichen Situation:
Ein Forscherteam „beforscht“ ein Dorf. Es waren also auch andere Aspekte als nur die Marienthal-Studie, die mich zu diesem Film bewegten. Wenn Sie den Film aufmerksam betrachten, werden Sie in ihm auch andere Themen als „Arbeitslosigkeit“ und die Situation von Arbeitslosen entdecken, z.B. die Frage: Wie hilft man? Was ist eigentlich „richtige“ Hilfe? Ist individuelle Hilfe sinnvoll?
Dient sie nicht nur dem Helfenden, damit er sich hinterher besser fühlt? Oder kann man nur strukturell helfen? Ist die beste, die vielleicht einzige Möglichkeit der Unterstützung strukturelle und politische Unterstützung?
Gibt es noch andere zentrale Themen, die, aufbauend auf der Situation der Marienthal-Studie, in dem Film problematisiert worden sind? Etwa die Konfrontation von Menschen aus der Stadt mit einem kleinen ländlichen Lebensraum?
Ja. Zu den Menschen aus der Stadt in der dörflichen Umgebung gibt es eine bezeichnende Einstellung.
Es schüttet in Strömen, und die Psychologin Ruth Weiss geht durch diesen Regen. Sie geht in sehr städtischer Kleidung, mit hohen Stöckelschuhen, durch die Hinterhöfe und wirkt in diesem Ambiente völlig fremd und unangepasst. Und dann findet sie auch noch Reste des toten Hundes, den die eine Familie gerade gegessen hatte. Das sind Dinge, die werden vielleicht wenigen Menschen auffallen, aber es sind beabsichtigte und inszenierte Dinge.
Auch folgende Situation: Da gibt es den Wutausbruch des Arbeitslosen Rudolf Jindracek, als er von den jungen Forschern Kurt Schrader und Philipp Strauss gefragt wird, wie viele Bewerbungsschreiben er geschickt habe. Und: „Wo haben Sie sich beworben? … Was haben Sie eigentlich früher gemacht?“ und so weiter und so fort. Das ist eine Szene, in der sich die Hilflosigkeit des Arbeitslosen immer weiter steigert und dann umschlägt in Aggression. In seinem Wutausbruch wirft er die beiden Forscher raus. Die beiden gehen dann unten auf der Straße, und Schrader, trotz des eben erlebten Wutausbruchs ganz in seinem Forschungsdesign behaftet, fragt Strauss, ob es nicht interessant wäre, zu erheben: „Ist das eine Charaktereigenschaft oder ein Aggressionsschub, hervorgerufen durch die Arbeitslosigkeit?“ Und Strauss antwortet:
„Geh zurück. Frag ihn.“ Das sind diese Reibungspunkte, die Karin und ich einfach mit drin haben wollten. Wir wollten zeigen, dass bei aller Sympathie doch auch eine Fremdheit und Distanz zwischen den beiden Gruppen existiert.
Das betrifft ja einen der Hauptkritikpunkte von Marie Jahoda, der Hauptautorin der Marienthal-Studie. Diese Widerspenstigkeit und später Aggression gegen die Forschenden habe es nicht gegeben.
Wenn Sie den Film anschauen, sind das Einzelfälle.
Und es ist ja nicht so, dass da ein Aufstand ausgebrochen ist, oder dass die Arbeitslosen unkooperativ gezeigt werden. Die Arbeitslosen sind alle kooperativ mit all ihren Kräften. Aber es soll mir niemand erzählen, auch Frau Jahoda nicht, dass es einer Frau, einer Arbeiterfrau, nicht unangenehm ist, wenn ein junger Mann „aus der Stadt“ den Schrank aufmacht und ihre Unterhosen zählt. Das glaube ich einfach nicht! Und es soll mir auch niemand erzählen, dass ein verzweifelter Mann nicht explodiert, wenn er gefragt wird, was er gegen die Arbeitslosigkeit unternommen habe, und so weiter. Ich glaube, dass es da einfach unangenehme Gefühle, ja, auch Aggressionen geben muss. Selbst wenn es im konkreten Fall nicht so war, gehört das für mich zum Bild solcher Situationen.
Vielleicht war es bei der Marienthal-Studie ein bloßer Zufall, dass es keinerlei Aggressionen gab, aber vielleicht sind diese den Forschern auch einfach nicht aufgefallen.
Vielleicht sollten wir an dieser Stelle über einen weiteren wichtigen Aspekt des Films sprechen, der in der Marienthal-Studie nur angedeutet wird: Der Konnex von Arbeitslosigkeit und politischer Bewegung, insbesondere der nationalsozialistischen.
Ich muss weiter ausholen. Ich habe das Projekt um 1984 begonnen. Karin Brandauer und ich haben es dem ORF angeboten: „Nein, danke!“ Wir haben es dem WDR und dem NDR in Deutschland angeboten: „Danke, nein!“ Und plötzlich kam man 1987 beim ORF drauf: „Ah, nächstes Jahr ist ja 1988, das ‚Bedenkjahr‘!“ Es hieß nicht „Gedenkjahr“, sondern „Bedenkjahr“. „Da müssen wir was machen!“ Und plötzlich hieß es: „Da wurde ja etwas eingereicht, und könnte man nicht…“. Karin und ich haben uns natürlich gefreut, aber wir fanden es auch sehr absurd vom ORF. Wir haben lange darüber geredet und beschlossen, dass wir auf keinen Fall einen Film machen wollten, in welchem die Heimwehr ausrückt und gegen alle möglichen bewaffneten und unbewaffneten Schutzbündler antritt. Wir wollten auch keine nationalsozialistischen Marschkolonnen, keine Fahnen und derartiges.
Es gibt natürlich in „Einstweilen wird es Mittag…“ ganz eindeutige Verweise auf den Nationalsozialismus: vor allem in der Figur eines jungen Burschen, der ehemalige Maschinenarbeiter und nunmehr arbeitslose Walter Holub. Dem steckt der Feldforscher Philipp Strauss Geld zu, damit er nach Wien gehe, weil vielleicht…: also die individuelle Hilfe. Und ich finde, folgende Szene ist besonders gut gelungen, wird aber vielleicht von vielen Menschen gar nicht so verstanden, wie wir sie inszeniert haben: Bahnhof Weißenberg.** Walter Holub kehrt von Wien nach Weißenberg zurück und erzählt, er habe zwei super Typen kennengelernt, und die hätten ihm geholfen. Es ist die Art und Weise, wie Holub sagt, „Weil, so kann’s ja nimmer weitergehen“, und wie er dann sozusagen in der Mitte von diesen beiden Typen geht. Und diese beiden, Willi und Otto, sind eindeutig als Nationalsozialisten gekennzeichnet: nämlich durch ihre Knickerbockerhosen und weißen Kniestrümpfe. Das war ja die angesagte „Tracht“, das Erkennungszeichen. Die brauchten kein Parteiabzeichen oder etwas Ähnliches: Die Knickerbockerhosen und Strümpfe waren es. Und Holub geht zwischen den beiden fast so, als ob er von diesen abgeführt würde. Das war für uns einfach auch ein Signal!
Diese Szene ist ja auch an sehr wichtiger Stelle positioniert: knapp vor dem Schluss des Films. Das bleibt einfach in Erinnerung.
KOUBA: Dazu muss ich allerdings sagen, dass Karin und ich lange darüber diskutiert haben, ob dies tatsächlich das Schlussbild sein sollte. Wir haben dann entschieden:
Das darf nicht das Schlussbild sein! Natürlich wollten wir optisch, aber auch verbal aufzeigen, wie nah der Nationalsozialismus schon war. Und von daher war uns dann auch das Schlussbild wichtig. Soll die Schlusseinstellung wirklich die sein, dass der junge Bursche Holub mit den beiden Nationalsozialisten quasi ins Dorf hineingeht? Sozusagen: „Jetzt kommt der Nationalsozialismus!“ Oder ist es nicht notwendig, auch noch eine Information darüber zu geben, was dann aus dieser Studie, aus den Forschern geworden ist. Und deshalb ist nunmehr am Ende des Films die Szene mit dem Brief, den Ruth Weiss an Robert Bergheim in die USA schreibt. Ein Brief, in dem geschildert wird, dass die Studie verboten wurde und was aus den jungen Forschern geworden ist.
Historisch gesehen ist ja das Schlussbild des Films ein korrektes. Das Schicksal der Marienthal-Forscher war das Exil, von dem, mit Ausnahme von Lotte Schenk-Danzinger und Elfriede Czeija-Guttenberg, alle betroffen waren.
Im Film geht es auch, ich möchte fast sagen, vor allem um die Forscher. Für mich war das Thema von „Distanz und Nähe“ besonders interessant. Einerseits stehen diese Forscher ja außerhalb, haben den Außenblick. Andererseits sind sie im Grunde genommen in einer ganz ähnlichen Situation wie die Arbeitslosen. Es gibt ein Gespräch zwischen den beiden jungen Forschern Kurt Schrader und Philipp Strauss: „Was wirst du eigentlich machen, wenn das Projekt fertig ist?“, fragt Strauss, und Schrader antwortet: „Ich weiß nicht.“ Und auf Strauss’ Frage „Bleibst du in der Wissenschaft?“ meint Schrader:
„Da gibt es keinen Posten. Aber woanders gibt es auch keinen.“ Strauss ist ja ein Sohn aus gutem Hause, reich, ja, er kann in den Betrieb seines Vaters gehen. Aber im Grunde genommen hängen sie alle in der Luft. Das war ja damals nicht viel anders als heute. Als wir das Drehbuch schrieben, begann es schon, dass sich viele Akademiker von Projekt zu Projekt hanteln mussten, und dass nur wenige einen fixen Job hatten. Und so ist in der Marienthal-Studie wie auch im Film „Einstweilen wird es Mittag…“ der Blick der Forschenden von außen im Grund genommen auch ein Blick auf sie selbst, ein Blick auf die eigenen Perspektiven. Es gibt im Film eine Szene mit Kurt Schrader, der aus einfachem Milieu kommt, nämlich diese Szene im Gänsehäufel. Vater Schrader klagt: „Da hat man Opfer gebracht und dich studieren lassen, damit du einmal einen guten Posten bekommst bei der Bank oder im Finanzministerium“. Und der Sohn antwortet: „Als wenn das heutzutage so einfach wäre, ohne Beziehungen kommt man nirgends mehr rein.“ Herr Schrader: „Aber du hast doch ein Doktorat in Wirtschaftswissenschaft! Und was fängst du damit an? Arbeitslosen beim Nichtstun zuschauen.“ Also diese Rolle der Forscher, die eigentlich involviert und in einer ähnlichen Situation sind, war mir immer ganz wichtig.
Sie haben dann in den Film auch die Bevölkerung eingebunden, als Statisten vor Ort.
Ja. Das war eine ganz merkwürdige Erfahrung. Da waren damals sehr viele arbeitslose Menschen, die dann als Statisten gearbeitet haben. Und da gab es bei einigen eine ganz ähnliche Situation – natürlich nicht so krass –, wie damals in den Dreißigerjahren. In der Marienthal-Studie wie im Film wurde einer Frau die Notstandshilfe gestrichen, weil sie für das Austragen der Milch ein paar Groschen bekommen hat. Bei den Dreharbeiten zu „Einstweilen wird es Mittag…“ erhielten die Arbeitslosen ein Taggeld als Statistenlohn. Das hat sich damals ja schnell herumgesprochen: Film in Gramatneusiedl! Und die Arbeitslosen, die als Statisten mitwirkten, erlitten nun durch das Arbeitsamt Abzüge von ihrem Arbeitslosengeld.
So wiederholt sich dann schon irgendwo die Geschichte.
Heide Kouba
Geb. 1941 in Potsdam als Heidemarie Roth; Studium der Germanistik, Anglistik und Theaterwissenschaft in Heidelberg, Berlin und Wien, hier 1971 Dr. phil.; Verlagsredakteurin, Regieassistentin, seit 1975 Drehbuchautorin, enge Zusammenarbeit mit Karin Brandauer (1945–1992); seit 1998 Programmleiterin des Internationalen Jugend Medien Festivals YOUKI in Wels; lebt in Wien.
Anmerkungen
* „Einstweilen wird es Mittag… Nach der Studie Die Arbeitslosen von Marienthal von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel.“ Regie: Karin Brandauer; Drehbuch: Heide Kouba und Karin Brandauer. Produktion: ORF und ZDF. Gedreht: 1987; Erstsendung: ORF, 1. Mai 1988. Dauer: 95 Minuten. Der Film ist als DVD erhältlich: Der österreichische Film. Edition Der Standard, 154; EAN 9006472015628.
Das vollständige Interview mit Heide Kouba erscheint als Einleitung zum Drehbuch auf der Marienthal-Website des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ):
http://agso.uni-graz.at/marienthal/film/1988_einstweilen_wird_es_mittag/00.htm.
** Das Weißenberg des Films entspricht weitgehend dem Marienthal der Marienthal-Studie, welches größtenteils in der Marktgemeinde Gramatneusiedl liegt. Anm. R.M.
LitGes, etcetera 46/November 2011/arbeits-los