Heil-Froh / Etcetera 88 / Interview / Paulus Hochgatterer

„Unser Erzählen endet in der Trauer, die keine Worte mehr kennt.“

Das Interview führte Gabriele Müller

Dem Text „Der Dichter und das Phantasieren“ zufolge, hält Sigmund Freud Schriftsteller für „merkwürdige Persönlichkeiten“. Sind Schriftsteller nicht ganz normal?
Das einen Schriftsteller zu fragen, der auch Psychiater ist, ist vermutlich nicht ganz hintergrundlos. Schriftsteller sind genauso oder so wenig normal, schrullig oder verrückt wie andere Persönlichkeiten. Das ist zumindest die Erfahrung, die ich bis jetzt in meinem Leben gemacht habe. Das gilt, glaube ich, auch für mich.

Freud sieht die ersten Spuren dichterischer Betätigung beim Kind. Wie sehr ist das Schreiben mit dem Spiel des Kindes verwandt?
Wenn man davon ausgeht, dass Schreiben, im Sinn des literarischen Schreibens, immer sehr viel mit der metaphorischen Ebene, sprich mit Symbolisierung, zu tun hat, dann ist Schreiben mit dem Spiel des Kindes sehr eng verwandt. Oder weniger technisch ausgedrückt: Das Erfinden von Geschichten hat ganz viel vom Erfinden von Geschichten im Spiel des Kindes.

Es steckt also in jedem Menschen ein Dichter?
Wenn man davon ausgeht, dass in jedem Menschen irgendwann einmal ein spielendes Kind oder ein Kind, das spielen wollte, gesteckt hat, kann man ruhig sagen, dass in jedem Menschen auch ein Dichter steckt.

Wie kann man das Spielerische in einem Menschen bewahren?
In einer psychoanalytischen oder tiefenpsychologischen Terminologie würde ich sagen, es hängt ganz entscheidend davon ab, ob es einem Kind gelingt, Sprache oder Erzählen libidinös zu besetzen. Etwas weniger sperrig formuliert: dem Kind muss es möglich sein oder möglich gemacht werden, im Umgang mit Sprache oder mit Erzählen Lust zu empfinden. Wenn dieser Schritt gelingt, das Erzählen beginnt meist ja recht früh, dann ist eigentlich das Wesentliche getan, um eine Beziehung zur Literatur herzustellen.

In der Sammlung zu den Zürcher Poetikvorlesungen 2010 „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe“ schreiben Sie über die Poetik der Kindheit und die Notwendigkeit zu schreiben. Was ist unter Poetik der Kindheit zu verstehen?
Die Poetik der Kindheit ist einerseits das, was ich soeben gesagt habe, das heißt, die Entwicklung der Sprache, das Erzählen oder, wenn man so will, die Welt libidinös, also lustvoll, zu besetzen. Oder wenn man es etwas instrumentaler sieht, dann ist das die Lust daran, selbst so etwas wie eine literarische oder narrative Sprache zu entwickeln.

Sie hatten also eine poetische Kindheit oder zumindest das Glück, die Poetik der Kindheit erkannt zu haben und zu bewahren?
Ich hatte das Privileg und das Glück, von Menschen umgeben zu sein, meinen Eltern, Onkeln und Tanten, die so etwas wie einen poetischen oder zumindest narrativen Weltbezug hatten. Das heißt, ich war umgeben von Menschen, die Geschichten gemocht und gerne erzählt haben. Ich halte das immer noch für das Wichtigste in meinem eigenen Zugang zur Literatur.

Bei vielen ist Schreiben nicht selten eine Art Selbsttherapie. Was sind die Voraussetzungen, dass der Text auch für andere relevant ist?
Von der Figur „Schreiben als Selbsttherapie“, das klingt vielleicht für einen Psychiater komisch, halte ich nicht allzu viel. Eine Erfahrung, die dem vielleicht ein wenig verwandt ist, und die ich  selbst täglich in meinem Schreiben mache, ist, dass einem Schreiben beständig klüger macht. Natürlich auch im Umgang mit sich selbst, aber ich würde das nicht als therapeutischen Effekt sehen wollen, sondern als einen Effekt der Bereicherung. Schreiben ermöglicht es, Dinge genauer zu durchdenken. Mit Therapie mag das dort und da zu tun haben, aber nur am Rande.

… auch deswegen nicht, weil Schreiben ja auch ein Formbewusstsein braucht?
Dem würden vielleicht manche Therapeuten entgegen halten, dass auch Therapie eine Form, ein Setting, das heißt einen festgelegten Rahmen, braucht. Trotzdem sehe ich den therapeutischen Aspekt nicht als zentral. Ich würde auch glauben, nur als Analogie, dass das Malen eines Bildes für einen Künstler primär nichts Therapeutisches ist.

In den Poetikvorlesungen 2010 in Zürich stellten Sie die Frage danach, wo eigentlich unser Erzählen beginnt. Welche Dinge umkreist es, wo hält es inne? Wie würden Sie diese Fragen heute selbst beantworten?
Unser Erzählen - und da steige ich jetzt in meine entwicklungspsychologischen Schuhe - unser Erzählen beginnt in Wahrheit im Dialog des Säuglings auf dem Arm der Mutter. Unser Erzählen beginnt dort, wo unsere Mütter mit uns kommunizieren und uns neue Aspekte der Welt eröffnen, in dem was sie uns da sprachlich, und auch neben der Sprache, vermitteln. Dort beginnt, glaube ich, genuin unser eigenes Erzählen. Generell und im eigentlicheren Sinn beginnt es mit den Geschichten, die uns von unseren Angehörigen sprachlich vermittelt werden.

Welche Dinge umkreist es, wo hält es inne, an welchen Punkten hat es ein Ende?
Das Erzählen hat immer dort ein Ende, wo die sprachliche Auseinandersetzung mit der Welt nicht mehr funktioniert. Zumindest punktuell in der Erschütterung, die einen verstummen lässt oder sprachlos macht, zum Beispiel in der Trauer, die keine Worte mehr kennt. In affektiven Zuständen, die die Sprache versagen lassen. Dort hat unser Erzählen meiner Erfahrung nach ein Ende, oder eine Grenze.

Da hätte dann auch eine therapeutische Intervention ein Ende.
Da hätte dann möglicherweise auch eine therapeutische Intervention ein Ende, ja. Momentan vom Krieg in der Ukraine zu erzählen ist schwierig. Das ist deswegen schwierig, weil wir alle sprachlos sind, voller Angst, Wut und Empörung und noch nicht die Worte finden dafür, was da passiert.

In Interviews zur Pandemie haben Sie gesagt, dass Kinder und Jugendliche diese im Großen und Ganzen ganz gut bewältigen könnten. Wie sehr ist die Kriegssituation für junge Menschen belastend?
Zur Pandemie muss ich noch sagen: Diese Interviews entstanden zu einem Zeitpunkt, wo mir mein eher notorischer Optimismus noch erhalten geblieben war. Das war ungefähr vor einem Jahr. Inzwischen hat mich meine klinische Erfahrung leider eines Schlechteren belehrt. Es gibt ganz viele Kinder und Jugendliche, die die Effekte der Pandemie gar nicht unbeschadet überstanden haben. Da muss ich meine optimistische Haltung ein gutes Stück revidieren. Und zu Ihrer Frage zum Krieg in der Ukraine: Wenn man die Bilder von den flüchtenden Müttern mit ihren Kindern sieht, von den Vätern, die von ihren Familien Abschied nehmen, wird uns klar: da werden Millionen von traumatisierten Menschen erzeugt … und das ist furchtbar. Dafür gibt es fast keine Worte.

Beim Lesen des Buches „Fliege, fliege fort“ dachte ich bei den Szenen im Kinderheim, das wäre eine Übertreibung. Ist derartiges heute noch möglich?
In der Geschichte „Fliege, fliege fort“ handelt es sich um Rückblicke. Das sind Szenen mit psychischer und körperlicher Gewalt, die vor 30, 40 Jahren in österreichischen Kinderheimen leider möglich waren.

In dem Werk „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe” haben Sie geschrieben, dass besonders in Zeiten der Veränderungsbeschleunigung das Kind in den Focus des allgemeinen Interesses rückt. Welchen Stellenwert hat Kindheit heute?
Kindheit hat, und das ist etwas, das den Kinderpsychiater in mir durchaus freut, einen großen Stellenwert. Auch in der Bevölkerung, da hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten glücklicherweise viel geändert. Es ist ja unumstritten, dass ganz viele Dinge beim Menschen in der Kindheit verankert werden und auf das wird heute viel mehr Rücksicht genommen, als zur Zeit, in der ich ein Kind war.

Andererseits ist auch eine gewisse Infantilisierung der Gesellschaft zu spüren.
Genau. Das ist auch, was ich in „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe“ gemeint habe, diese Umkehr wird vielleicht im Umgang mit der Informationstechnologie oder den neuen Medien am augenfälligsten. Mit dem Veränderungstempo in Bezug auf IT können ja Kinder und Jugendliche wesentlich leichter Schritt halten, als wir im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Da kommt es zu einer Umkehr im Expertentum zum einen. Zum anderen entsteht in der westlichen Welt zunehmend der Eindruck, dass die Periode der Kindheit und Jugend immer länger wird. Es gibt Untersuchungen über die Frage, wann Kinder aus dem Elternhaus ausziehen und das erfolgt heute viel später als vor 30, 40 Jahren.

Sie haben geschrieben, dass Sie Ihr Kater die Unsinnigkeit der Frage Literatur oder Kinder- und Jugendpsychiatrie gelehrt hat. Wie ist er da vorgegangen?
Der Kater, um den es da geht, ist inzwischen in den ewigen Jagdgründen. Aber wir haben wieder zwei Katzen und die strahlen für mich etwas aus, das mir sagt: Beschäftige dich nicht mit unsinnigen Fragen. Es gibt wichtige Dinge im Leben, die sollte man wichtig nehmen. Die unwichtigen kosten nur Energie. Recht bald habe ich bemerkt, dass für mich die Frage, Literatur oder Kinder- und Jugendpsychiatrie eine unsinnige ist. Für mich wäre das so wie Laufen oder Schwimmen. Da habe ich einen Weg gefunden, beides zu tun. Keiner zwingt mich dazu, eins der beiden Dinge sein zu lassen, und daher versuche ich, solange es meine Kräfte zulassen, beides zu machen.

Die Frage ist ja auch deswegen unsinnig, weil beide Berufe einander ergänzen.

Genau. Es sind beides Berufe, und auch das empfinde ich in meinem Leben als ungeheures Privileg, dass ich mich ganz zentral und ständig mit Geschichten beschäftigen kann. Zwar jeweils mit einem anderen Fokus, aber auch Kinder- und Jugendpsychiatrie heißt, sich unablässig mit Geschichten zu befassen.

Sie haben Canettis „Die Blendung“ für das niederösterreichische Landestheater dramatisiert. Was hat Sie daran besonders fasziniert?
„Die Blendung“ ist kein Buch zu dem man eine Liebesbeziehung entwickelt. Es ist ein Buch, das einen überfällt und überrollt und eine monumentale Wucht hat. Das hat mich auf der einen Seite schon bei meiner ersten Lektüre vor 35 Jahre fasziniert. Es ist vor allem ein unglaublich hellsichtiges Buch, das in den Jahren 1930/31 geschrieben wurde und mit dem Brand einer Bibliothek endet. 1932/33 waren in Deutschland und Österreich die großen Bücherverbrennungen. „Die Blendung“ nimmt in den Figuren, die sie ins Zentrum der Geschichten stellt, ganz viel von den Schrecken des Nationalsozialismus und des dritten Reiches vorweg. Das ist für mich der zentrale und faszinierendste Aspekt.

Wie sollte man in Zeiten des Krieges mit jungen Menschen umgehen, damit sie mit der Situation besser fertig werden?
Ein Leitprinzip im Umgang mit Kindern und Jugendlichen soll immer Realitätsnähe sein. Es gibt nichts Schlechteres für Kinder und Jugendliche, als wenn ihnen bestimmte Aspekte der Wirklichkeit vorenthalten oder verschwiegen werden. In einer Zeit, in der es Krieg gibt, und der auch ganz heftig durch die Medien getragen wird, muss man versuchen, ihnen zu erklären, was dieser Krieg bedeutet, was man davon versteht und, da wir alle bestimmte Aspekte dieses Krieges gar nicht verstehen, sich nicht scheuen, das auch zuzugeben.

Was würden Sie sich als Psychiater wünschen?
Als Kinder- und Jugendpsychiater wünsche ich mir, dass die Ressourcen, die schon lange in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -therapie notwendig sind, endlich zur Verfügung gestellt werden. Zum Beispiel, dass die Kassenfinanzierung von Psychotherapie für Kinder und Jugendliche endlich umgesetzt wird. In einer Situation, in der uns das
seelische Leid von Kindern täglich begegnet, sollte man darum eigentlich nicht mehr bitten müssen.

Ich danke für das Gespräch.

 

Paulus Hochgatterer
Geb. 1961, wuchs in Amstetten und Blindenmarkt auf. Ab 1992 hatte er als Facharzt für Psychiatrie und Neurologie des Kinder- und Jugendalters eine Stelle als Oberarzt im Neurologischen Zentrum Rosenhügel in Wien, später leitete er das Institut für Erziehungshilfe in Wien, Floridsdorf. Seit 2007 ist er Primar an der Klinischen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Tulln. Er hat drei Romane mit dem Psychiater Horn und Kommissar Kovacs als Protagonisten, sowie zahlreiche weitere Prosawerke und Erzählungen verfasst. Letzte Publikationen: „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe” 2018, „Fliege fort, fliege fort” 2021. Die Aufführung des Stücks „Die Blendung“, für das er die Theaterfassung schrieb, wurde coronabedingt 2022 als szenische Lesung im Landestheater NÖ aufgeführt. 2023 folgt die Uraufführung.