Jakob Deibl. Johannes Schmid

Jakob Deibl

 

Im April dieses Jahres interviewte Johannes Schmid einen Kollegen des Stiftsgymnasiums Melk, den Benediktinerpater, Theologen, Philosophen und Musiker Jakob Deibl.

Das Stift Melk bietet nicht nur klösterliche Stille und Abgeschiedenheit, sondern ist sehr weltoffen und äußerst gastfreundlich. Überdies beherbergt und erhält es eines der größten Gymnasien Österreichs. Wäre für Dich auch ein rein kontemplatives Leben als Mönch denkbar oder ist für Dich das „geerdete“ Benediktinertum eine Notwendigkeit?

Die Frage hat sich für mich so nie gestellt. Mir ist es beim Eintritt in das Kloster nicht darum gegangen, einer benediktinischen Gemeinschaft oder einem Orden anzugehören.

Das war nicht das Ideal, das für mich entscheidend war. Ich habe vielmehr als Schüler selbst hier in der Schule ein Kloster erlebt, das uns eine große Offenheit und viele Möglichkeiten geboten hat. Das ist mir wichtig geworden und so bin ich dann ganz bewusst nach Melk gegangen. Ich habe nie zwischen den verschiedenen Formen klösterlichen Lebens zu unterscheiden versucht, sondern habe klösterliches Leben so kennen gelernt, wie es in Melk praktiziert wurde und wird.

Das Motiv der Gastfreundschaft halte ich überhaupt für ein ganz zentrales. Bei all den Unterschieden, die es zwischen den Benediktinerklöstern gibt, bei all den Unterschieden durch die Jahrhunderte hindurch und auch jetzt aktuell in Österreich, meine ich, dass das Motiv der Gastfreundschaft eines der ganz entscheidenden ist.

Du bist auch Wissenschaftler. Du bist Assistent am Institut für Fundamentaltheologie. Welchen Stellenwert nehmen in Deinem Leben Wissenschaft und wissenschaftliche Karriere ein?

Die Frage ist nicht ganz einfach. Ich bin mir da selbst etwas unsicher, besonders auf Grund der Art und Weise, wie sich wissenschaftliche Tätigkeit heute zunehmend darstellt.

Denn eine durchgehende längere Beschäftigung scheint vom System her immer schwerer möglich. Verträge werden nur auf gewisse Zeit vergeben, oft mit wenig Möglichkeit einer Verlängerung, vielmehr wird hier zusehends, wie mir scheint, in Projekten gedacht, die eine gewisse Laufzeit haben, die evaluierbar sein müssen und irgendwie einen bestimmten Nutzen abwerfen müssen. Und ich denke, dass diese äußere Form sich auf die Fragestellungen, die man wissenschaftlich behandeln kann, auswirken wird; sie müssen so gestellt werden, dass sie abbildbar sind in diesem Schema verschiedener, zeitlich begrenzter Projekte. So bin ich mir selbst sehr unsicher, ob es in diesem System auch einen Platz gibt, den ich längerfristig einnehmen kann oder ob ich, wenn mein Vertrag ausläuft, auch meine wissenschaftliche Tätigkeit beenden muss.

Der Wissenschaftler hat keine Möglichkeit, ein Lebenswerk zu schaffen mit seiner Forschung, und er kann auch nicht mitwirken an Projekten, die hundert oder mehr Jahre dauern. Solche Projekte gibt es auch. Dies alles ist passé.

Ich denke, dass zumindest momentan die Entwicklung an den Universitäten stark in diese Richtung geht und sehr von einem naturwissenschaftlichen Verständnis geprägt ist.

Welche Aufgaben kommen Deiner Meinung nach einem Theologen und Philosophen – du bist ja beides - in der heutigen Gesellschaft zu? In welcher Weise kann er wirksam werden oder wo stößt er auf Widerstände?

Beim Theologen, denke ich mir, ist dies in wenigen Worten zu sagen. Die Theologie ist ein Ausdruck der Treue zur Schrift. Es geht hier um eine ganz bestimmte Erzählung, die eine Verbindlichkeit hat und, will man es ganz allgemein formulieren, es geht gerade um eine Treue zu ebendieser Erzählung.

Es geht also um Schriftauslegung.

Aber nicht nur Auslegung im Sinne einer bloßen Exegese, vielleicht sind die Umwege, die heute zu gehen sind, um die Botschaft der Schrift zu hören, oft sehr lange Umwege, Umwege, die über die Beschäftigung mit der Philosophie führen können, über die Beschäftigung mit der Kunst, mit der Literatur, über die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, mit der Gesellschaft. Es gibt hier, glaube ich, verschiedene Wege. Ein unmittelbarer Zugriff auf die Bibel, auf die Schrift, scheint mir heute vielfach nicht möglich. Es bedarf da oft eines langen Hinweges, um überhaupt hören zu können, welche Botschaft uns in diesem Text anspricht. Man könnte sagen, auf der einen Seite haben wir es heute schwieriger als frühere Generationen, weil uns ein viel größerer Abstand, eine viel größere Ferne trennt von jener Botschaft, auf der anderen Seite könnte man sagen, dass diese große Ferne auch wieder eine Möglichkeit eröffnen kann.

Wir können uns nicht mehr einfach unmittelbar in diesen Texten finden, sie bleiben uns zunächst einmal fremd, und das fordert eine ganz andere Form der Auseinandersetzung und braucht mehr Bewegung des eigenen Standpunktes.

Ich denke, in der Philosophie, geht es immer um einen allgemeinen Gedanken, um das Allgemeine. Das scheint uns vielleicht heute genauso schwierig wie der Bezug zur Theologie zu sein.

Wir leben heute vielfach in Beispielen, die wir anführen, aber selten in allgemeinen Kategorien. Was ein allgemeiner Gedanke überhaupt bedeutet, ist oft schwer einzusehen. Ich denke, setzt man den Beginn abendländischer Philosophie bei den Griechen an, so ist die Frage nach dem Sein oder die Frage nach der Arche, die schon die ganz frühen Philosophen, aber auch die großen wie Platon und Aristoteles beschäftigt hat, geradezu eine Frage nach einem allgemeinen Gehalt, der über die bloß wechselnden Erscheinungen hinausgeht. Und es scheint mir, als ob heute die Philosophie nicht unbedeutend wäre, sondern dass gerade entscheidende Würfel in diesem Bereich fallen. Denn gegenüber den Naturwissenschaften muss die Philosophie den Blick auf das Allgemeine behalten.

Welche Schwerpunkte setzt Du in Deinem Religionsunterricht am Gymnasium? Wodurch unterscheidet sich Dein Unterricht von dem Deiner Kollegen?

Was mir entscheidend am Religionsunterricht erscheint, ist die Beschäftigung mit einem langen Erbe, das uns erreicht und ohne das unser heutiges Dasein, unsere Kultur, ohne das Europa nicht zu denken wäre. Und ich meine, der Religionsunterricht bietet hier eine gute Gelegenheit, einen differenzierten Blick auf diese Geschichte, auf dieses Erbe zu richten. Ich halte alles, was uns die Tradition in ihrem Reichtum, in ihrer Differenziertheit aufschließen kann, für wesentlich. Darin sehe ich einen großen Wert von Bildung.

Dafür kann der Religionsunterricht einen großen Beitrag leisten. Und gerade heute, denke ich, stehen wir vor der Frage, was Europa eigentlich ausmacht. Und da ist der Beitrag, den die religiösen Traditionen für seine Genese geleistet haben, wesentlich. Und damit gilt es sich zu beschäftigen.

Du bist, und dies ist sicher beachtenswert, ein vorzüglicher Gitarrist und Interpret von Pop-Liedern. Was verstehst du unter Bildung? Offenbar weit mehr als das, was man gemeinhin unter „klassischer“ Bildung versteht.

Bildung ist in erster Linie die Beschäftigung mit grundlegenden geistigen Strömungen, mit der Geistesgeschichte. Was die Beschäftigung mit Musik anbelangt, so ist Musik etwas, was mich seit meiner Jugend begleitet. In welchem Zusammenhang dies direkt mit dem Begriff der Bildung steht, fällt mir schwer zu beantworten.

Populärkultur ist auch Ausdruck einer bestimmten zeitlichen Stimmung und daher kulturell relevant. Kann man das so sehen?

Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich denke, dass man sich aus dem, was irgendwie gerade in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit angesagt ist, nie völlig herausnehmen kann oder sich aus dem zurückziehen kann bloß in die Position einer Kritik. Das würde suggerieren, man hätte einen Standpunkt, von dem man quasi auf den Weltlauf blicken kann und ihn kritisieren kann. Wir nehmen alle in einem großen Maß an dem teil, was Alltagskultur einer Zeit ist. Und Musik ist hier eine künstlerische Ausdrucksform, die mich besonders interessiert.

Du bist ein profunder Kenner der deutschen Literatur. Hast Du Lieblingsautoren? Wenn ja, welche und warum?

Es gibt drei Autoren, die mir sehr wichtig geworden sind. Zum einen Hölderlin, der wie kaum ein anderer um 1800 den Verlust einer göttlichen Welt, des Aufgehobenseins in einer religiösen Welt überhaupt einmal ins Wort gebracht hat. Er hat, wenngleich zu seiner Zeit unverstanden, für spätere Generationen eine Möglichkeit geschaffen über jenen Verlust eigentlich zu sprechen. Er hat dem zum ersten Mal eine Sprache gegeben, aber doch eine Zukunftsperspektive eröffnet und das noch dazu in einer dichterischen Sprache.

Was Hegel begrifflich philosophisch beschreiben wollte, hat Hölderlin transferiert in eine ästhetische dichterische Sprache. Zum zweiten Karl Kraus, dessen Akribie und Beobachtungsgabe ich unglaublich schätze. Ich habe von ihm auch gelernt, was eigentlich das Schöpfungswort theologisch bedeuten könnte. Die Akribie, mit der Kraus selbst auf Druckfehler hingewiesen und diese interpretiert hat, war mir lange Zeit unverständlich, bis ich gelesen habe, dass für Karl Kraus die Idee des Schöpfungswortes so hoch anzusetzen ist, dass er jede Form der Propaganda der problematischen Verwendung des Wortes gleichsam als Gegenbild zum Schöpfungswort versteht. Ich halte „Die letzten Tag der Menschheit“ für ein ganz großartiges Wert. Und der dritte ist Thomas Bernhard. Mir gefällt an ihm, dass man hier nie als Leser einen sicheren Standpunkt einnehmen kann, gleichsam mitsprechend mit der Kritik, die Thomas Bernhard an verschiedenen Dingen übt, sondern diese Kritik schlägt im nächsten Augenblick auf einen selbst zurück. Man kann Bernhard nicht für eine bestimmte Richtung, politisch oder wie auch immer, funktionalisieren.

Der Gestus seiner Sprache, in der es oft nicht um den Inhalt geht, sondern gleichsam um die Sprache selbst, gefällt mir sehr gut.

Woran denkst Du, wenn Du den Begriff „Drüben“ hörst?

Das Wort „Drüben“ impliziert zweierlei, einerseits Ferne, Distanz, andererseits eine Grenze. Das Drüben ist etwas Geistvolles, d.h. es markiert jenen Ort, jenen Bereich, den man nicht besetzen, vereinnahmen kann, der unverfügbar bleibt. Im „Drüben“ kann ich nicht wohnen. In der Bibel tritt zum ersten Mal ein „Drüben“ auf in der Erzählung vom Paradies und Sündenfall, wo die Mitte okkupiert werden soll. Es zeigt sich eine Grenze, ein „Drüben“ im Wort von der Vertreibung aus dem Paradies. Zum zweiten Mal im Buch Deuteronomium: Mose gelangt an den Jordan, den zu überschreiten ihm nicht bestimmt ist. Er spricht seine Abschiedsworte. Es kommt zu keiner Überschreitung in das Drüben. Dieses Motiv kehrt wieder im Neuen Testament. Jesus überschreitet als neuer Mose bei der Taufe im Jordan diese Grenze in das „Drüben“.

Ich danke Dir, Pater Jakob, für das Interview.

Pater Jakob Deibl
Geb. 1978, Besuch des Stiftsgymnasiums Melk, 1996 Eintritt in den Benediktinerorden des Stiftes Melk, Doktorat in Theologie, Assistent für Fundamentaltheologie an der Universität Wien und Lehrer am Stiftsgymnasium Melk, musikalische Tätigkeit im Bereich der Kirchenmusik sowie in diversen Rock- und Jazzformationen.

etcetera 44/ drüben/ Juni 2011