Julian Schutting

Julian Schutting, Schriftsteller aus Niederösterreich, als Lyriker und Prosaautor bekannt, publizierte über fünfzig literarische Werke. Von seinem Schreibtisch aus blickt er auf den Saarplatz im 19. Wiener Gemeindebezirk.- Cornelia Stahl traf den Autor im März 2020.

 

Seit über zwanzig Jahren ist die Zeitschrift etcetera fixer Bestandteil der Literaturszene Niederösterreichs. Ich verweise auf Ihr Buch „Zersplittertes Erinnern“. Welche Erinnerungen verbinden Sie persönlich mit dem Land Niederösterreich? 

Ich bin in Amstetten in die Schule gegangen. Es hat dort ein derart post-austro-faschistischer Mief geherrscht, daher bin ich dann aus der 6.Klasse ausgetreten und habe anschließend die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien besucht. Mir sind die niederösterreichischen Landschaften sehr ans Herz gewachsen und ich habe darüber genug geschrieben, über Vierkanthöfe undsoweiter.

Im Jahr 2012 sind gleich Bücher von Ihnen erschienen: „Die Liebe eines Dichters“ und „Theatralisches“. Wann und wo schreiben Sie? Gibt es Rituale?

Ich habe das in einem Buch beschrieben. Mir fällt jetzt der Name nicht ein. Mein Schreibplatz befindet sich neben dem Fenster, mit dem Blick auf den Saarplatz hinaus. Ich fühle mich dort wie ein Turmwächter. Rituale. Ja, ab und an muss ich mir eine Zigarette holen. Die liegt weit weg, damit ich nicht ununterbrochen danach greifen kann. Ich skizziere zunächst stichwortartig, was mir unterwegs auffällt. Ich notiere mit der Hand, fange aber sehr früh an, in die Maschine zu schreiben. Es wird alles notiert, auch der banalste Einfall, siehe Beethoven. Was man dann daraus macht, entscheidet sich später.

Wir erfahren in „Die Liebe eines Dichters“ von Ausflügen und Aussichten? Welche Rolle spielen Landschaften, wenn es um Einsichten und Aussichten geht?

 Mit Einsichten habe ich nichts zu tun. Ich wandere gern durch Landschaften, selbstvergessen und warte auf das Mystische, das sich beim Wandern einstellt. Ich gehe auch gern auf Berge. Einmal in der Woche gehe ich eine große Runde bis zum Leopoldsberg. Ich bin ein Augenmensch und genieße die Landschaft, aber ich gehe auch durch die Stadt mit offenen Augen. Jetzt habe ich ein Plakat entdeckt „Kein Platz für Islamisten und Fanatiker“. Es müsste eher heißen „Kein Platz für Islamisten und unsere Fanatiker“.

Gab es in Ihrem Leben Brüche und düstere Aussichten, die mit Zweifel und Unsicherheit verbunden waren?

Na selbstverständlich. Ich möchte den Menschen sehen, der das nicht kennt. Es soll sich nur Niemand damit wichtig machen.

Hatten Sie die Möglichkeit, sich mit diesen Brüchen auseinanderzusetzen oder haben Sie diese lieber vom Tisch, vom Schreibtisch, gewischt? 

Es ist ja doch die Rettung. In dem Moment, in dem ich es aufschreibe, hat es die Macht über mich verloren. Jemand der an Selbstmord denkt, zum Beispiel. Wenn er/sie sich hinsetzt und es aufschreibt, verliert es in diesem Moment die Macht. Ich denke da an Goethe: Und wenn der Mensch in Stücke reißt, …  Aber man kann es nicht vom (Schreib)Tisch wischen. Viele jüdische Emigranten/Emigranten und Kriegsheimkehrer- wollten mit dem, was sie mitgemacht haben, in Ruhe gelassen werden.

Ich bleibe bei dem Buch „Die Liebe eines Dichters“ und denke parallel an das Gedicht von Erich Fried: „Es ist, was es ist“. Welche Bedeutung messen Sie der Liebe bei?

Zu Erich Fried Gedicht möchte ich sagen, dass es ziemlich primitiv ist, wie von (linken) Studenten, reklameartig verfasst. Zur Liebe ist eines zu sagen: Ich könne ohne Liebe nicht leben. Ich bin sehr ambitioniert und empathisch, wenn es um die Liebe geht.

Während der Zeit des Eisernen Vorhangs waren Bahnhofsdurchsagen wie „Wegen verspäteter Grenzübergabe“ keine Seltenheit? Welche Assoziationen verbinden Sie mit dem Reisen?

Ich bin viel mit Autostopp unterwegs gewesen, in Polen, in der Tschechoslowakei, Bulgarien und der DDR. Mit dem Skoda unterwegs, und habe ich einige Merkwürdigkeiten erlebt. - Ich erinnere mich an eine Bergwanderung zum Schneekoppe (in Tschechien). Und dort sind uns am Weg dorthin (hinauf) Grenzsoldaten gegenüber gestanden mit Maschinengewehren, nicht auf uns gerichtet, sondern um den Weg zu bewachen, der an der Grenze entlangführte. - Bei der Rückfahrt, an der Grenze zur DDR,  durften wir nicht einmal die Fenster öffnen. Die Zollbeamtin entdeckte auf dem Rücksitz die „Wiener Zeitung“, verschwand damit in ihrem Wärterhäuschen, und wir mussten abwarten, bis sie zurückkam.

In welchem Jahr war das?

Das war 1989, die Westdeutschen durften ´rüber in den Osten, und die Ostberliner durften auch an bestimmten Stellen, an denen die Mauer geöffnet war, in den Westen. Das war vor der Wiedervereinigung (Oktober 1990).

Norwegen, Spanien, St.Petersburg und andere Orte lassen Sie in Ihrem Buch „Blickrichtungen“ einfließen. Führen Sie während des Reisens ein Tagebuch? Wie entstanden diese Texte? 

Ich beobachte meine Umgebung und beschäftige mich gedanklich mit ihr, ich mache mir Notizen und sammle sie, daraus entsteht dann ein bestimmtes Bild von der Gegend, die ich bereist habe.

Durch genaues Beobachten entsteht in Ihren Texten Tiefe. Ist in Zeiten von Instagram und facebook eine sensible Wahrnehmung der Umwelt und das Erreichen dieser Tiefe überhaupt noch möglich? 

Das genaue Beobachten habe ich beim Fotografieren gelernt. Ich habe ein sehr gutes fotografisches Gedächtnis und kann Dinge gut gedanklich abspeichern und sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder in Erinnerung rufen. Ich habe diese ganzen Dinge wie facebook und Instagramm nicht. Ich habe einen Anrufbeantworter, den muss ich haben. Und eine elektrische Schreibmaschine. All die anderen Dinge habe ich nicht, auch kein Handy. Mit dem Handy ist es wie bei alten Ehepaaren, die sich an den Händen halten, als müssten sie sich gegenseitig stützen, damit sie nicht hinfallen. Ich käme mir mit dem Handy so entmündigt vor.

Wenn ich Gedichte schreibe, schreibe ich sie einzeln auf großes Papier. Dann lege ich sie auf´s Bett und fange an, Verschiebungen vorzunehmen. Ich probiere, was ist miteinander austauschbar? Wie wirkt das Ganze?

Sie haben sich also eine ganz eigene Technik angeignet!

So wie Züge verschoben werden, so verschiebe ich Gedichtzeilen. Adjektive werden ´rausgeschmissen. Welche Adjektive und Attribute brauche ich? In den meisten Fällen ist das Substantiv nicht richtig.

Haben Sie Jemanden, der Ihre Texte zuerst liest, bevor sie an den Verlag gehen?

Ich war mit einer Romanistin liiert, etliche Jahre. Sie hat meine Texte durchgeschaut und sehr viel gestrichen. Von ihr habe ich es gelernt. - Seit einigen Jahren leite ich Schreibgruppen ( in Wien, Niederösterreich, Tirol, Südtirol- seit zehn Jahren eine fixe Gruppe in Wien). Und dort wird jeder Text besprochen. Ich behandele jeden Text so, als wäre er von mir geschrieben.  brauche ich keinen Lektor.

Was ist Ihnen als Autor wichtig, um wahrgenommen zu werden?

Ich schaue, dass ich wertgeschätzt werde für meine Sprachexperimente. Das sind die grössten Komplimente für mich. Es ist wichtig, dass man den Rhythmus des Textes spürt. Und da ist es gut, wenn der Text auf eine CD gesprochen und hörbar wird.  - manchmal erinnert es an Latein, und ich versuche die lateinischen Kombinationen in meine Texte einzubauen.

Was liegt derzeit auf Ihrem Schreibtisch, was ist literarisch gesehen „in Arbeit“?

Ich habe etwas angefangen und das heißt „Datierte Briefe“. Da sammle ich alles, was ich schreibe, zum Bespiel von Wilhelm Müller „Die Winterreise“. Wenn ich etwas sehe, denke ich mir etwas dazu. Es sind Notizen und Texte, die ich im Computer habe, zirka sechshundert Seiten, aber alles muss auseinandergenommen und sortiert werden.

Vielen Dank für das Interview!

 

Julian Schutting, geboren am 25.Oktober 1937 in Amstetten als Jutta Maria Franziska Schutting. Besuch Grafische Lehr- und Versuchsanstalt (Klasse Fotogafie) Wien, Studium  Geschichte und Germanistik, Universität Wien. Als Schriftsteller publiziert er seit 1971 in Literaturzeitschriften und Verlagen wie Residenz-Verlag, Styria, Droschl, Jung und Jung, Otto-Müller-Verlag und im Europa-Verlag.  Zahlreiche Preise, u.a.: 1971: Österreichischer Förderungspreis für Literatur, Sparte „Lyrik“, 1989 Georg-Trakl-Preis für Lyrik, 2013 Buchpreis der Salzburger Wirtschaft, 2015: Gert-Jonke. Preis. Letzte Veröffentlichungen: An den Mond. Gedichte. St.Pölten, 2008. Auf der Wanderschaft, Salzburg, 2009, Theatralisches, Salzburg, 2012, Blickrichtungen, 2013. Der Schwan, Gedichte, Jung und Jung, 2014. „Zersplittertes Erinnern“, 2016, Jung und Jung. Betrachtungen: Texte und Photographien. Literaturedition Niederösterreich, 2017.