Turm / Etcetera 87 / Interview / Gustav Ernst

Literatur braucht ein Formbewusstsein

Im November 2021 interviewte Gabriela Müller, die Redakteurin
und Schriftführerin der Litges, Gustav Ernst.

Das nächste Heft-Thema heißt TURM. Was fällt Dir, lieber Ernst dazu ein?
… Leuchttürme, der Blick aufs Meer ...

Es gab vor zwei Jahren eine „Kolik spezial“ zum Thema „Was kann Literatur“. Hast Du dazu fünf bis zehn Sätze?
Literatur bereitet Lust, Literatur bereitet ästhetisches Vergnügen. Der Autor häuft vor dem Leser, der Leserin, ein komplexes Gebilde auf, dessen Entschlüsselung ihm Spaß bereitet. Aber Literatur bietet auch Trost. Allerdings nicht in einem eskapistischen Sinn, im Sinn von „Opium fürs Volk“, sondern durchaus aufklärerisch, indem sie die Zumutungen der Wirklichkeit sichtbar macht. Literatur bietet gemeinsam mit ein paar anderen Dingen die Möglichkeit, die Wirklichkeit auszuhalten.

Die Zeitschrift Wespennest, in deren Redaktionsteam Du ab der zweiten Nummer im Jahr 1969 warst, hatte den Begriff „brauchbare Texte“ im Untertitel. Was habt Ihr darunter verstanden, was verstehst Du heute darunter?
Unter „brauchbar“ verstanden wir Texte, die Welterkenntnis,

Weltveränderung, ermöglichten. Uns interessierten damals Sprache und Lebensrealität, wir haben nach literarischen Möglichkeiten gesucht, das zu vereinbaren. Diese Haltung haben damals viele österreichische Autorinnen und Autoren geteilt. In den 70er Jahren hat man diese Absicht – vielleicht ein bisschen übertrieben – vor sich hergetragen, weil sie neu war. Heute ist sie nicht mehr sichtbar.
Heute will man Unterhaltung, Vergnügen, man will Geld verdienen.
Das heute übliche Verständnis von Brauchbarkeit bei Autoren, Verlegern oder Buchhändlern ist: Ich kann Texte brauchen, weil ich damit Geld verdienen kann.
Mich hingegen hat immer interessiert, die Wirklichkeit auf die Schaufel zu nehmen, sie ungeschminkt und kompromisslos darzustellen. Mich interessiert zu sagen, was ich an der Welt Scheiße finde. Das war seinerzeit natürlich auch verbunden mit einer politischen Absicht, die aber nicht direkt in die Literatur eingeflossen ist.
Dem Politischen entkommt man jedoch nicht. Indem man die Welt beschreibt, beschreibt man alle Teile der Welt. Liebe, Familie, Beruf, Gesellschaft. Es kommt darauf an, in welcher Weise man das als Autor, als Autorin betonen möchte. Die Frage ist, wie scharf jemand formuliert oder wie zahm oder wie uninteressant, sodass es keine Wirkung hat. Ich hätte ganz gerne, dass die Literatur giftiger wäre, schärfer und zugespitzter.

Die Literatur der 70er Jahre hat sich durch besondere Radikalität und Kritiklust ausgezeichnet...
Dieser neue und spezifisch österreichische gesellschaftskritische Realismus war eine Schreibstrategie, eine Schreibpraxis, eine Sichtweise und eine ganz bestimmte Art der Weltbeschreibung. Nicht nur mithilfe von Sprache, wie das etwa die Avantgardisten gemacht haben, sondern mit einem sehr interessierten Blick auf die Wirklichkeit. Wir haben Wert auf die Darstellung des zu Verändernden, des Veränderbaren gelegt. Das war damals das Neue in der Literatur. Helmut Zenker, Franz Innerhofer, Gernot Wolfgruber haben diese Haltung geteilt. Elfriede Gerstl war uns nahe, Elfriede Jelinek und andere mehr. Damals sind
Geschichten mit mehr politischem Interesse und mit mehr politischer Absicht erzählt worden als heute. Und in einer neuen literarischen Form.
Das Kämpferische war allerdings irgendwann vorbei. Waswahrscheinlich auch gut war. Das heißt nicht, dass nicht nach wie vor politische Bücher geschrieben werden.

Was ist heute anders bei den jungen Autorinnen und Autoren?
Die Gruppe Wespennest war damals eine literarische Gruppe mit politischer Intention und Ausrichtung. Derartige Gruppierungen gibt es heute nicht mehr. Es gibt kleine Gruppen von jungen Autoren und Autorinnen, die sich zusammenfinden, aber eher, um ihre Kunst und performative Aktivitäten – sie schreiben ja nicht nur Texte –, herzuzeigen und Möglichkeiten der Veröffentlichung zu finden. Wir wollten mit unseren Veröffentlichungen vor allem ein Bewusstsein über die Welt schaffen, kritisieren ...
Heute präsentiert man sich bei Veranstaltungen als Künstler, als Künstlerin. Das war damals nur ein Teil unserer Absicht.

Dein letzter Roman „Betriebsstörung“ ist eine Kritik am Literaturbetrieb: Was zipft Dich am meisten an?
Die Kommerzialisierung, die Trivialisierung der Literatur. Die Schulen pflegen keine Literatur, keine Diskussionskultur mehr. Es gibt kaum diskursive und theoretische Auseinandersetzungen mit Texten, keine Beschäftigung mit den Möglichkeiten und Dimensionen des Literarischen.
Die Trivialisierung auf dem Literaturmarkt treibt Blüten wie zum Beispiel den Versuch, Kafka zu vereinfachen. Das ist  die Tendenz: Möglichst niederschwellig zu werden. Man sagt, bitte keine langen Sätze schreiben, weil die verstehen die Leute nicht. Nicht, dass sie es lernen sollen. Möglichst flach und möglichst schön, möglichst unaufgeregt, das ist die Tendenz, die weit weggeht vom literarischen Sinn, vom literarischen Lesen.
Literaturbetrieb ist der Betrieb, in dem ich arbeite. Und der vieles zu wünschen übrig lässt. Es gibt Entwicklungen, die mir und der Literatur, die ich meine, nicht zuträglich sind. Mir geht es um die Möglichkeit, Vernunft und Phantasie zu erhalten. Mitzugestalten, weil das das Einzige ist, was uns auf dieser Welt retten kann. Unterhaltung kann es nicht. Um zu informieren und zu unterhalten, braucht es weder mich noch Literatur. Dafür reichen Netflix und Zeitungen.

Was hat sich im Literaturbetrieb verändert, seit Du und Karin Fleischanderl 1997 die Literaturzeitschrift Kolik gegründet haben?
Der Schwerpunkt hat sich verlagert. Heute geht es darum, „die Literatur zu retten“. Weil der Mainstreammarkt einfach dominant ist. Da haben gewisse Formen des Literarischen keinen Platz mehr. Damals waren die Verlage noch mehr an guter Literatur interessiert. Heute will man eher Lesestoff. Damals wollte man drucken, was die Leute lesen sollen. Heute drucken die Publikumsverlage im Großen und Ganzen das, was die Leute lesen wollen. Das ist ein ganz anderer Aspekt. Es wird nicht publiziert, um die Leser weiterzutragen, weiterzuentwickeln, weiterzubilden.

Du arbeitest mit der „Schreibwerkstatt Waldviertel“ und hast mit Karin Fleischanderl die „Leondinger Akademie für Literatur“ ins Leben gerufen. Warum Schreibwerkstätten?
Es interessiert mich, gemeinsam mit anderen, Texte zu verbessern. Zu schauen, was man aus ihnen herausholen kann. Das war damals beim Wespennest, bei der Arbeit mit jungen Autoren, der Fall, dann bei diversen Drehbuchworkshops.
Ich war Mitbegründer des Drehbuchforums. Es ging um die Entwicklung von Drehbüchern, um die Frage, wie man spannend erzählen kann. Oft sind Leute zu mir gekommen und wollten Feedback zu ihren Büchern. Da dachte ich, wenn so großes Interesse besteht, organisieren wir doch ein Seminar, das ermöglicht es, in einem bestimmten Zeitraum ein bisschen etwas über Literatur und über die Praxis des Schreibens zu erfahren. Mehr ist aber auch nicht drin. Man kann gewisse Dinge lernen, üben, mit erfahrenen Autorenkollegen und -kolleginnen trainieren. Dem liegt die Idee von der Machbarkeit von Literatur zugrunde, die Idee, dass die Dinge mit der nötigen Arbeit, dem nötigen Interesse, machbar sind. Natürlich auch mit der nötigen Begabung,
allerdings stellt sich nicht gleich heraus, ob man diese hat. Man muss einmal ausprobieren, was man kann.
Das weiß man im Vorhinein nicht.

Ist Schreiben auch Therapie?
Dem würde ich nicht zu allzu viel Bedeutung beimessen.
Schreiben ist nur eine Möglichkeit, seine Neurosen, Ticks und Beschädigungen kontrolliert in Grenzen zu halten, sie produktiv zu machen. Wenn man Glück hat, kann man die Neurosen benützen, um etwas Gescheites zu schreiben.
Und eine Sprache und Geschichten finden, die der Hölle, die man in sich hat, entsprechen, und sie einigermaßen kontrolliert im Zaum halten.
Auf den Satz von Peter Turrini, wenn ich nicht schreiben würde, wäre ich ein Mörder, würde ich nicht allzu viel geben. Es gibt ja auch therapeutisches Schreiben, aber das ist etwas anderes.
Aus einem einfachen Grund: Literatur ist Form. Und eine Form zu finden und durchzuziehen, das kann man nicht, wenn man aus bestimmten Gründen nicht dazu imstande ist.
Kaputt sein allein reicht nicht. Um Literatur zu machen, braucht es ein Formbewusstsein, eine Genauigkeit des Denkens, eine Klarheit, eine Übersicht. Das erfordert andere Instanzen in dir, die intakt sein müssen.

Danke für das Gespräch.

Gustav Ernst
Geb.1944 in Wien. Studium der Philosophie, Psychologie, Geschichte und Germanistik an der Universität Wien; freiberuflicher Schriftsteller (Gedichte, Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Drehbücher für Fernsehspiele und Spielfilme, Hörspiele). Mitbegründer und langjähriger Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Wespennest; 1997 Gründer und seither Mitherausgeber der Literaturzeitschrift kolik (gemeinsam mit Karin Fleischanderl); ab 1990 Leiter des Dehbuchforums Wien und Leiter von Drehbuchworkshops. Seit 2005 Leiter der Leondinger Akademie für Literatur (gemeinsam mit Karin Fleischanderl). Mitglied der GAV. Lebt in Wien. Bekam viele Preise und Stipendien: Z. B. das Nachwuchsstipendium für Literatur des BMfUK (1974), den Preis der Frankfurter Autorenstiftung (1979), den Förderungspreis des BMfUK für Drama (1980), Elias Canetti-Stipendium der Stadt Wien (1998), Preis der Stadt Wien für Literatur (2013). Veröffenlichungen zuletzt: 2015 „Zur unmölichen Aussicht”, 2016 „Grundlsee”, 2019 „Romane schreiben”, 2021 „Betriebsstörung”.