Umweg / Etcetera 86 / Interview / Daniela Strigl
Im Zuge des Philosophicums Lech im September 2021 begann Eva Riebler ein Gespräch mit der Vortragenden (geb. 1964 Wien, studierte Germanistk, Theaterwissenschaft,
Philosophie Geschichte) Daniela Strigl. Ihr Vortrag in Lech betitelte sich: „Abgeschrieben kann das Leben nie werden“
– Biographie und Fiktion
Sie meint: „Biographie, das ist, wörtlich genommen, geschriebenes Leben. Aber wie geht das: Leben schreiben? Hinkt der Schreibende dem Leben nicht zwangsläufig nach? Selbst dann, wenn er sein eigenes, bisher gelebtes Leben beschreibt? Wohnt dieser Vorstellung nicht andererseits ein starkes Element von Eigenmächtigkeit inne: Leben schreiben, das könnte bedeuten, dass erst der Autor zum Schöpfer fremden oder eigenen Lebens wird, dass dieses im Prozess des Schreibens entsteht. Die landläufige Auffassung von Biographie geht von einer historischen Realität aus, von verbürgten Daten und Fakten, einem Lebenslauf, der sich in wirklichkeitsgesättigtem Material niedergeschlagen, mitunter auch verborgen hat und aus diesem
wieder herausgekitzelt und zu einer Erzählung gefügt werden muss.
Sie haben eine Biografie über Marlen Haushofer und eine über Marie von Ebner-Eschenbach geschrieben. Eine Biographie ist ja nie deckungsgleich mit dem Leben, wie Sie sagen. War dies eine Anmaßung?
Ja, Marlene Streeruwitz hat einmal gesagt, eine Biographie zu schreiben, „ist immer eine Anmaßung“.1 Weil man ein vorgefundenes Material sichtet und interpretiert und dann durch die Erzählung eines fremden Lebens automatisch deutet und urteilt. Die Biographin stiftet Sinn, und es ist der Sinn, den sie einer Lebensgeschichte gibt, von der sie naturgemäß nur Fragmente kennt. Sowohl Haushofer als auch Ebner-Eschenbach haben Lebenszeugnisse systematisch vernichtet, um diesem zudringlichen Biographenblick zu entkommen. Es ist ihnen nicht gelungen.
In Ihrer Vorlesung an der UNI Wien vereinten Sie bekannte Frauenbilder wie Friederike Mayröcker, Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz u.a.
Ich habe versucht, so etwas wie eine weibliche Literaturgeschichte Österreichs vorzutragen. Von der Barockdichterin Catharina Regina von Greiffenberg bis Olga Flor und Anna Weidenholzer. Weil ich den Eindruck habe, dass an der Universität viel Gender Theorie gelehrt wird, man aber relativ wenig über konkrete Literatur von Frauen erfährt. Ruth Klüger hatte seinerzeit ein Gastsemester in Wien und hat im Lehrangebot eben dieses Defizit ausgemacht und sogleich ein Seminar über Droste-Hülshoff und Ebner-
Eschenbach angesetzt. Lebensgeschichten werden erzählt. Der Erzähler ist dabei aber nicht frei, er folgt den Spuren des ins Visier genommenen Lebens, er setzt Fragmente zu einem Ganzen zusammen, er rekonstruiert ein Bild.
Eine ernsthafte Biografie nähert sich bestmöglich dem Leben des/der Beschriebenen an und ist trotzdem eine Geschichte …..
Dass diese Vorstellung an eine Deckungsgleiche von Wirklichkeit und Wiedergabe naiv ist, hat nicht erst die Biographie-Theorie der jüngsten Zeit enthüllt; ausgerechnet eine Vertreterin des literarischen Realismus bekundet bereits im 19. Jahrhundert ihre Skepsis gegen den Mimikry-Anspruch der Lebensbeschreibung: Das Titelzitat stammt von Marie von Ebner-Eschenbach und lautet vollständig: „Abgeschrieben kann das Leben nie werden, dazu ist es zu reich.“ Nichtsdestoweniger versuchen Biographinnen und Biographen bis heute genau das: das Leben abzuschreiben – mögen sie sich auch noch so überzeugend in theoretischer Bescheidenheit üben. Aber: Wer Lebensgeschichte rekonstruieren will, kommt nicht umhin, sie zu konstruieren. Daten und Fakten werden ausgewählt, andere weggelassen, das Ausgewählte wird zu einer Erzählung verbunden. Deshalb ist die Biographie eine beim Publikum beliebte, in der Wissenschaft jedoch als anrüchig betrachtete Gattung. Mag die wissenschaftlich- biographische Arbeit im englischen Sprachraum eine gewisse Reputation genießen, so hat sie im deutschen den Hautgout des Unseriösen oder zumindest methodisch Veralteten. Der Germanist Karl Wagner bezeichnet sie als für „akademische Karrierewege [...] seit längerem ungeeignet“. Für Deirdre Bair, die Biographin Simone de Beauvoirs und Samuel Becketts, ist das Verfassen einer Biographie gar „akademischer Selbstmord“.
Die Biographie ist also weder Abbild noch Abschrift, sondern – nein, nicht Fiktion, nicht pure Erfindung, aber doch eine Erzählung mit fiktiven Elementen. Umgekehrt wirkt die (auto)biographische Erzählung mitunter auf das Leben selbst zurück, greift in das Leben des Biographen oder der Biographierten ein: Leben schreiben heißt auch prospektiv Leben erfinden.
Warum wagten Sie es trotzdem?
Ich wollte eigentlich nie eine Biographie schreiben. Meine erste, über die österreichische Nachkriegsautorin Marlen Haushofer (1920-1970) war so etwas wie eine Hausaufgabe meines Doktorvaters und Mentors Wendelin Schmidt- Dengler. Der Zsolnay-Verlag suchte jemand, der rechtzeitig zum 80. Geburtstag der Autorin eine Biographie zustande bringen sollte. Dabei habe ich meine ersten Erfahrungen mit der Relativität des Wahrheitsbegriffs gemacht, sogar wenn es um scheinbar objektive Tatsachen ging. Ich habe zum Beispiel Marlen Haushofer nahestehende Menschen nach der Farbe ihrer Augen gefragt, die im Reisepass als „graugrün“ vermerkt steht. Die Antworten reichten von „Grüngrau ins Blaue gehend“ und „Graublau mit Grün“ über „Veilchenblau bis Braun.” Wann weiß man genug, um über sein Objekt zu schreiben? Naturgemäß nie, aber es gibt einen Moment der Sättigung, wo man spürt, dass es nun genug ist mit dem Lesen, Sammeln, Reisen, Interviewen. Wo man spürt, dass eine lange umkreiste Person auf rational kaum nachvollziehbare Weise Gestalt angenommen hat. Bei Marlen Haushofer war der Moment erreicht, als ich bemerkte, dass nicht mehr ich meinen Auskunftspersonen Fragen zu meiner Autorin stellte, sondern sie mir.
Als die Biographie im Jahr 2000 dann pünktlich zu Haushofers Achtzigstem erschien, hatte ich mir aus mehreren Gründen geschworen, mir so etwas nie mehr anzutun; und wenn doch, dann würde ich nur über Barockautoren schreiben, deren Nachfahren und Erben längst selbst im Dunkel der Geschichte verschwunden waren. Im Falle der Haushofer’schen Familie war ich zu nah dran an allem und allen gewesen, hatte in mancher Hinsicht über die Verstorbene bald mehr gewusst als ihre Angehörigen. Marlen Haushofer hatte ihr Lebtag eine gründliche Geheimniskrämerei betrieben, und der Hang dazu war den Ihren geblieben.
Als Literaturwissenschaftlerin hatte ich die längste Zeit einen Bogen um das krude Leben gemacht. Stets schien mir die schöne Konzentration auf den Text durch das Ansehen der Person getrübt. Bekanntlich sind die herausragenden Begabungen nicht unbedingt die sympathischsten Menschen. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, mich in meiner Diplomarbeit oder Dissertation mit Zeitgenossen zu befassen und diese womöglich noch zu ihrem Werk zu interviewen. Subjektivität und Wertung statt wissenschaftlich-objektiver Distanz, Psychologie statt
Struktur, Konstruktion statt Dekonstruktion – all das war mir nicht geheuer.
Mit meinem Buch über den österreichischen Lyriker Theodor Kramer (1897-1958) war ich das erste Mal in gefährliche Nähe zum Biographischen geraten. Das Werk eines Dichters, der im Ersten Weltkrieg an der Front war, der sich als Heimatdichter und Sozialdemokrat verstand und als Jude Wien verlassen musste, lässt sich nicht ohne Blick auf die Lebensgeschichte untersuchen. Wie nah darf die Biographin ihrem Gegenstand kommen? Ist Sympathie Voraussetzung für jede Annäherung? Ich glaube schon und will doch auf eine gewisse kritische Distanz nicht verzichten.
Wenn man Jahre in Gesellschaft einer Person verbringt, die einem im Laufe der Zeit in allen ihren Lebensäußerungen beinahe leibhaftig greifbar geworden ist, kann sich leicht Überdruss einstellen. Bei mir war es nicht so. Ich habe ehrlich um Marlen Haushofer getrauert, als sie mit nicht einmal Fünfzig elend an Knochenkrebs zugrunde ging. Und ich habe gegenüber Marie von Ebner-Eschenbach am Ende ihres langen Lebens noch mehr Respekt, ja beinahe so etwas wie Ehrfurcht empfunden. Wenn ich ehrlich bin, muss ich allerdings zugeben, dass meine biographischen Annäherungsversuche beiden Autorinnen nicht recht gewesen wären. Vielleicht wären sie einverstanden gewesen mit dem, was ich über ihre Literatur geschrieben, kaum aber mit so manchem, was ich über ihr Privates verraten habe.
Ist man in der Literaturwissenschaft anerkannt, wenn man Biografien verfasst?
Wer sich in der Literaturwissenschaft auf das Biographieschreiben, auf das Schreiben über eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller, einlässt, gerät zumindest in den Geruch der Dissidenz. Ich meine aber, es gibt gute Gründe, subjektive wie objektive, sich durch unverdrossene Praxis dem Zersplitterungszwang und Dekonstruktionsgebot antiessentialistischer
Diskursregenten zu widersetzen.
Über Frauen wie Marie von Ebner Eschenbach gab es ja seit 100 Jahren, seit Bruno von Bettelheim, keine Biografie mehr. Ist das dem Geschlecht geschuldet?
Ja. dazu kommt ein genderspezifischer Gesichtspunkt. Das Marktsegment Biographie wird dominiert von Büchern über Männer; und zwar nicht, wie Anne-Kathrin Reulecke gezeigt hat, weil der „Ausschluß von Frauen als Gegenstand von Biographien und die marginale Bedeutung, die Frauen in den Biographien über Männer eingeräumt wird“, einfach die historischen Verhältnisse widerspiegeln würde, vielmehr ist die Biographie ein „bedeutendes Medium dieses Ausschlusses“: Biographien als „Texte von Männern über Männer“ suggerieren, dass Frauen per se nicht biographiewürdig sind. Weshalb sich gerade in der deutschsprachigen Germanistik keine feministisch motivierte Initiative gefunden hat, das Ebner-Eschenbach-Defizit zu beheben, darüber kann man nur mutmaßen.
Mit welchen Problemen kämpft man, beim Schreiben einer Biografie?
Das Grundproblem jeder Lebensgeschichte historischer Figuren liegt darin, dass wir wissen, wie sie ausgeht. Der Erzählfaden, wie komplex auch immer verknüpft und verzweigt, ist am Ende abgespult. Man kann versuchen, der vorgezeichneten Linie von der Wiege bis zur Bahre zu entgehen, indem man nach Themen oder Aspekten ordnet, einzelne Tage herausgreift oder gar die Chronologie umdreht: damit entkäme man zugleich der Crux der Form, dem Fluch der erzählerischen Konvention. Dem Diktat des Linearen entgeht man freilich auch im Boykott nicht. Und das Aufsprengen der klassischen Biographie hat in jedem Fall etwas Gesuchtes, gewollt Originelles. So habe ich für mich die Not (die immer auch eine Zeitnot war) zur Tugend erklärt und akzeptiert, dass man Geschichten, Lebensgeschichten nun einmal erzählt.
Was dabei im Falle meiner beiden biographischen Objekte zunächst als Hemmnis erschien, wurde bald zur Herausforderung: dass beide Frauen ein äußerlich unspektakuläres, ja biederes Leben geführt haben – als Tochter aus hochadeligem Haus Marie von Ebner-Eschenbach, als Försterskind und Zahnarztgattin in der Provinz Marlen Haushofer. Umso aufregender war es, die biographischen Widerhaken zu entdecken: Ebner-Eschenbachs hartnäckigen Widerstand gegen die ihrem Schreiben abholde Familie, die wehrhafte Eintracht in ihrer kinderlosen Ehe, ihre emanzipatorische Entschiedenheit, ihre Ausbruchsversuche als Reiterin, Raucherin, außerehelich Affizierte; Haushofers zwischen der Kleinstadt Steyr und Wien geteiltes Doppelleben, ihre Depressionen, ihren Ehrgeiz, eine mustergültige Ehefrau und Mutter darzustellen. Die rücksichtsvoll kaschierte Unbedingtheit, mit der beide Frauen ihr Schreiben betrieben. Thomas Bernhards rätselhafter Satz passt nicht nur als Motto für Haushofers Biographie: „Alle leben mindestens drei Leben, ein tatsächliches, ein eingebildetes und ein nicht wahrgenommenes.“
Wieweit werden die Werke, Texte, Briefe mit einbezogen?
Die Biographie einer Schriftstellerin ist nur deshalb überhaupt von Interesse, weil es ein Werk gibt. Dieses Werk gehört deshalb substanziell dazu, mitunter dient es auch als Steinbruch für Biographisches, ein durchaus problematisches Verfahren, das etwa Marlen Haushofer gerechtfertigt hat: „Ich schreibe nie etwas anderes als über eigene Erfahrungen. Im Idealfall fügt all das kreuz und quer Gelesene und Zitierte sich zu einem Bild des Charakters, der Person, beginnen die aufgelesenen Sätze quasi miteinander zu sprechen.
Man kann sagen die Biographie besteht aus Texten. Im Falle einer Schriftstellerin aus den Texten, die sie geschrieben hat, den literarischen, den Briefen, den Tagebuchnotaten, aus Texten, die sie gelesen hat, und aus den Texten, die andere über sie und an sie geschrieben haben, den Briefen, Gedichten, Tagebuchnotaten, Rezensionen, Abhandlungen. Der Art und Weise, mit der man sich in das einliest, was ein anderer geschrieben hat, haftet ein Prozess der Einverleibung und Anverwandlung an.”
Wie sehr spürt man sich selbst als Preisgeberin von Intimitäten?
Die Personalisierung der Perspektive bewirkt zum Beispiel, dass sie Marie Ebner gleichsam als Mitglied der eigenen Familie betrachtet, vertraut und fremd wie die anderen auch. Die Beschäftigung führt dazu, dass etwa die zahlreichen klugen Aphorismen Ebner-Eschenbachs sich ihr als Kommentare zu allen Lagen und Aporien des Lebens aufdrängen. Sie hat jedoch auch zur Folge, dass ihr mehr als plausibel, nämlich plastisch greifbar erscheint, was „ihre“ Autorin zu einer bestimmten Frage äußern, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten würde. Dass dies mit einer wissenschaftlichen Bewältigung des Gegenstands nicht vereinbar ist, ist der Biographin bewusst. Sie macht von dieser empathischen Hellsicht auch keinen
Gebrauch. Doch nimmt sie die Verlockung zu ungebührlicher Nähe als Tücke des Objekts wahr.
Zu diesen Tücken des biographischen Objekts gehört indes auch eine Form von Widerstand gegen die literarhistorische Ausbeutung. Autorinnen wie Ebner-Eschenbach scheinen sich gewissermaßen postum gegen den biographisch-interpretatorischen Zugriff zu wehren; indem sie einerseits bestrebt waren, möglichst viele Spuren ihres Privatlebens zu tilgen, kompromittierende Tagebücher und Briefe zu vernichten. Ebner-Eschenbach verlangte zu diesem Zweck sogar ihre eigenen Briefe von den Erben ihrer verstorbenen Freundinnen zurück. Andererseits ist auch ihre Imagepflege nicht nur an die Mit-, sondern auch an die Nachwelt adressiert, eine Form des nicht bloß passiven Widerstands gegen die Handlanger der Literaturgeschichte. Dass die Dichterin ihre umfangreichen Tagebücher ihrem Biographen Bettelheim inhaltlich gestrafft und zensuriert überantwortete, sollte die Weichen für ihre
Rezeption als geschlechtslose Dichterin der Güte und des Mitleids stellen.
Ansonsten war Ebner-Eschenbachs Vertrauen in die germanistische Zunft gering: Die „Literaturhistoriker“ „blähen“ sich auf, schrieb sie, sie „kochen, rühren, filtrieren, brauen, u. bereiten uns wahre Festgelage. Das Material das sie verwenden, ist die Frucht ihrer Wühl- u. Minierarbeit. Sie haben verschüttete Gänge eröffnet, Moder ausgeschaufelt u. vertrocknete Knochen u. laden uns zu Tische ein. [...]
Aus ihren Mauselöchern heraus beobachten sie den Wandel der Gestirne, mit ihren Schnüffelnasen beriechen sie unsterbliche Seelen u. Geister. Weh jeder menschlichen Schwäche der sie auf die Spur kommen [...]. Daraus werden nun Schlüsse gezogen, u. wird alles abgeleitet was [einer, D.S.] getan u. gedichtet hat.“ 2
Fehlt es an außerliterarischem Material, bietet sich als biographische Notlösung der umgekehrte Weg an: Die Ableitung lebensgeschichtlicher Umstände aus dem literarischen Werk. Man führt gegen die Autorin, den Autor quasi einen Indizienprozess anhand von Romanfiguren und -schauplätzen, Handlungsverläufen und Familienkonstellationen, in denen man das reale Leben sich widerspiegeln sieht. Gerade für die Karriere von Autorinnen barg diese Rezeptionshaltung ein nicht geringes Risiko. Betty Paoli, die bedeutendste Dichterin des österreichischen Biedermeier, erregte mit ihren Liebesgedichten aus weiblicher Perspektive Aufsehen, die Zeitgenossen lasen sie als persönliches Bekenntnis zu einem ungebührlich freizügigen Lebenswandel und waren bei späteren, ins Allgemeine zielenden Genreversen Paolis nicht bereit, von dieser biographistischen Lesart abzulassen. Ebner-Eschenbach wagte mit der Darstellung einer adeligen Ehebrecherin in ihrem Roman Unsühnbar (1890) – vor Effi Briest – einiges und wurde mit heftiger Ablehnung in ihren Kreisen bestraft: Das lag nicht nur an der an sich anstößigen Themenwahl für eine Schriftstellerin, es stand auch ein möglicher autobiographischer Bezug im Raum. (Tatsächlich hat Ebner-Eschenbach in ihrem Tagebuch
Derartiges angedeutet.) Marlen Haushofers Romane und Erzählungen belegen deren Bekenntnis zum autobiographischen Schreiben, in ihnen finden sich, verfremdet, Situationen und Ereignisse aus dem Leben der Autorin. Allein für die Seitensprung-Erfahrung der Heldin des Romans Eine Handvoll Leben konnte ich kein reales Vorbild finden – bis mir Haushofers Briefwechsel mit einer Wiener Freundin in die Hände kam.
In jüngster Zeit machen vermehrt literarische Texte von sich reden, in denen autobiographische Erfahrungen nicht verdeckt, sondern offen zur Sprache kommen: Die Autofiktion als Zwitterwesen zwischen Autobiographie und Roman ist aber selbst dann nicht der Authentizität verpflichtet, wenn die Protagonisten den Namen ihrer Schöpfer tragen. Ein Text wie Thomas Glavinic’ Das bin doch ich trägt sein Programm ebenso im Titel wie dessen inhärenten Widerspruch: „Das bin doch ich“ signalisiert zugleich „Das bin doch nicht ich“. Der Grad der Inszenierung variiert, die metapoetische Reflexion gehört jedoch zum Gattungsinventar.
Die Fragwürdigkeit des Erinnerns bildet das unsichere Fundament jeder Autobiographie.
In Monika Helfers jüngstem Roman Vati wird die Erinnerung an die eigene Kindheit mit der Biographie des Vaters verknüpft, ohne dafür die Spielregeln zu ändern. Die Ich-Erzählerin Monika besucht Jahrzehnte danach ihre Stiefmutter: „‚Es geht also um deinen Vater’, sagte sie. ‚Hab ich recht?’ ‚Ich möchte einen Roman über ihn schreiben.’ ‚Wahr oder erfunden?’ Ich sagte: ‚Beides, aber mehr wahr als erfunden.’“3
Wie mag es wohl einer Autorin wie Monika Helfer ergangen sein, die eigene Kindheit zu beschreiben, zu analysieren?
Die Niederschrift bewirkt eine Aktualisierung verschütteter Konflikte und Verletzungen. In Vati berichtet Monika Helfer von einem gescheiterten Versuch des Vaters, seiner Tochter – noch im Kindesalter – sein Herz auszuschütten: „Allein die Art, wie er meinen Namen aussprach, brachte ihn in eine Zwangslage. Und ich? Ich jetzt? Dass mir kein anderes Wort als ‚Zwangslage’ einfällt, darüber könnte ich heulen vor Hilflosigkeit, wär’s doch nur aus Papier, das Wort, dann würde ich es zerknüllen und weit von mir werfen in den Gully. Mein Mann sitzt einen Stock tiefer über seinen Sachen, ich rufe ihn am Handy an und frage: ‚Hast du je deinen Vater weinen sehen?’ Er braucht gar nicht nachzudenken. ‚Nein’, sagt er, ‚natürlich nicht.’ Was nützt mir das. ‚Trinkst du einen Kaffee mit mir?’, frage ich.“4
Die „Zwangslage“ des erinnerten Vaters lenkt den Blick auf die eigentlich gemeinte Zwangslage des kindlichen Ich, das sich von der väterlichen Beichte in die Rolle der Erwachsenen gedrängt fühlt. Im Prozess des Aufschreibens wird die Zwangslage zu einer gegenwärtigen, aus der die Autorin auszubrechen versucht.
Viele Autor/innen sind auf der Suche der Wahrheit…..
Die Wahrheit der Biographin kann nur subjektiv sein, ihre Arbeit paradox. Sie sucht Puzzlesteine zusammen, die niemals ein komplettes Bild ergeben können und die sie als Einzelteile nicht überbewerten darf. Die Heldin in Marlen Haushofers Roman Die Tapetentür findet einmal einen Haufen alter Photographien und Briefe, die sie sogleich verbrennt: „Lauter scharfe Momentaufnahmen, die zusammen eine große Lüge ergeben, ein einziges Vexierbild, dessen Schlüssel man nie findet.“5 Man fährt besser, wenn man den Schlüssel erst gar nicht sucht.
Die Wahrheit ist kaum zu finden…
Die Erkenntnis, dass es ‚die Wahrheit’ bei der Annäherung an ein fremdes Leben nicht geben kann, ist älter als der Befund der Dekonstruktivisten und Poststrukturalisten, und sie ist unhintergehbar. Sigmund Freud hat, anders als Marie Ebner-Eschenbach, das Haupthindernis, das zwischen dem Biographen und der gerechten Darstellung seines Gegenstandes steht, nicht im hypertrophen Hang zum Aufdecken und Anschwärzen gesehen, sondern im Gegenteil in der Idealisierung: „Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen.“6
Die Wahrheit der Phantasie, ohne die keine Biographie auskommt, wäre nicht nur eine adäquate Antwort auf den Reichtum des Lebens, sie bedeutete auch ein Bekenntnis zum Lustprinzip in der Wissenschaft.
Ich danke für das ausführliche Interview!
Daniela Strigl
Geb. 1964 in Wien, Germanistin, Essayistin und Literaturkritikerin (Der Standard, ORF-Radio, FAZ, Literaturen u.a.), seit 2007 am Institut für Germanistik der Universität Wien tätig. Zuletzt Mit-Herausgeberin von „In welcher Sprache träumen Sie?”. Österreichische Exillyrik 2007. 2001 Österreichischer Staatspreis für Literaturkritik, seit 2003 Jurorin beim Bachmann-Preis. Mit „Wahrscheinlich bin ich verrückt” 2009, legt sie die bisher einzige und von der Nachlaßverwalterin autorisierte Biographie über Marlen Haushofer vor. Zuletzt: »Berühmtsein ist nichts«. Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie 2016; Alles muss man selber machen. Biographie. Kritik. Essay 2018; Peter Rosegger: Ausgewählte Werke in Einzelbänden (Mithg., 2018); Gedankenspiele über die Faulheit 202), Sinn und Sinnlichkeit. Lesen, verstehen, schwelgen. Münchner Rede zur Poesie 2021.
Endnotes
1 Marlene Streeruwitz im Interview mit Günter Kaindlstorfer: »Isabel Allende produziert politischen Stillstand«. In: Der Standard, 25.9.1999. Marlene Streeruwitz gab ihr Projekt einer Biographie über Anna Mahler, die Tochter von Gustav und Alma Mahler, auf: »Meine Interviewpartner waren sich nicht einmal darüber einig, ob Anna Mahler geraucht hat oder nicht.«
2 Zit. nach: Ulrike Tanzer: Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs. Stuttgart: Heinz 1997 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 344), 75.
3 Monika Helfer: Vati. München: Hanser 2021, 9.
4 Ebd., 66
5 Marlen Haushofer: Die Tapetentür. Roman. München: dtv 1991, 96.
6 Zitat Thomas Anz: Autoren auf der Couch? Psychopathologie und biographisches Schreiben. In: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, 87–106, 95f. Freud spricht in seinem Brief an Arnold Zweig allerdings pro domo, hat dieser doch angekündigt, eine Biographie Freuds schreiben zu wollen.