Vincent Barras: Körper braucht Text braucht Körper. Gisela Linschinger

Vincent Barras
Körper braucht Text braucht Körper

 
Vincent Barras. Foto: © Yoshi Kato  

Die Leidenschaft des Schweizer Poeten Vincent Barras gilt der Lautdichtung, die sich nicht an den vorgegebenen Rahmen eines weißen Blatt Papiers hält. Gisela Linschinger sprach mit ihm über das Verhältnis von Körper und Text.

Vincent, du bist eigentlich Medizinhistoriker. Was hat dich dazu gebracht, Lautdichtung zu machen?

Am Anfang hatte das nichts mit Medizin zu tun, sondern war ein Interesse an zeitgenössischer Dichtung einerseits und an zeitgenössischer Musik andererseits. Diese beiden Zweige haben mich seit meiner Jugend interessiert und ich habe bemerkt, dass einige der für mich interessantesten Musiker wie Cage oder Berio, immer etwas mit Wort und Dichtung getan haben. Und nicht nur Komponisten, sondern auch Dichter sind von der Musik her zu einem intermedialen Ort gekommen, von dem man nicht mehr wusste, ob es nun Dichtung war oder Musik. Unter diesen Leuten gab es Menschen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, USA und England. Die Sprache war nicht mehr so wichtig wie der Klang, das hat mir sehr gefallen.
Parallel dazu habe ich Medizin und Philosophie studiert und mein Interesse galt seit langem der Geschichte der Medizin und dem Thema Körper. Die Beziehung stellte ich nachher her, als ich merkte, dass das Gemeinsame an Lautdichtung und Medizin das Interesse am Körper ist, einerseits wissenschaftlich, andererseits künstlerisch.

Was zeichnet die Poésie Sonore aus?

Die Lautdichtung oder Sound Poetry ist eine historische Bewegung der Nachkriegs-Avantgarde, die Vorlaufer in der dadaistischen Poesie hatte und Künstler wie Jandl, Ruhm, Cage, Heidsieck, Chopin hervorgebracht hat. Mittlerweile sind fast alle Lautpoeten gestorben oder sehr alt. Jetzt gibt es auch noch interessante interdisziplinär und intermedial arbeitende Leute, die ich aber nicht mehr Lautdichter im engen Sinne nennen möchte. Was ich mache, ist nicht mehr Teil der Poésie Sonore, sonst wäre ich schon gestorben und das wäre schade. (lacht)
Aber sie ist noch eine Quelle der Inspiration für Künstler, die mit Wörtern, Sprache und Körper arbeiten. Das ist die neue, ästhetische Definition der Lautpoesie oder Sprachkunst – das, was wir Nachfolger dieser Bewegung mit Mund, Körper und Laut machen.

Wie darf man sich deine Gedichte vorstellen?

Meine Gedichte finden ihre Vollendung auf der Bühne vor Leuten. Das ist mein Endprodukt. Aber es gibt auch Teilprodukte dessen, wie die schriftliche Notation oder Partitur, in der Wörter, Teile von Wörtern oder Kombinationen von Buchstaben eine grafische Form annehmen. Aber das Endprodukt ist das, was ich in einem Raum, durch einen Körper, meinen Körper, in einer gewissen Zeit realisiere.
Zeit, Raum und Körper sind drei Elemente, die man normalerweise in einer schriftlichen Fassung nicht oder nur abstrakt findet.

Dein Text braucht also einen Körper, um seine intendierte Form annehmen zu können. Gibt es auch Körper, die einen Text brauchen?

Wenn ich etwas schreibe, oder besser: komponiere, dann ist der Text nicht für sich, sondern für meinen Körper. Mein Körper braucht diesen Text und der Text braucht den Körper. Das ist eine gegenseitige Wechselwirkung. Der Text entsteht, weil der Körper ihn braucht. Mein Körper, wie er ist, und auch meine Stimme, mein Mund. Ich arbeite viel mit Gehör und ich probiere mit dem Mund aus, ob etwas klingt oder nicht. Nachdem ich etwas geschrieben habe, versuche ich es wiederherzustellen und wenn ich sehe, das klappt nicht, dann geht der Text zurück in meinen Körper und ich probiere es nochmals mit einer Modifikation und dann kommt er wieder auf Papier als neue Partitur.

Der Text an sich ist nicht so wichtig wie die Form, in der alle Elemente kombiniert sind. Das ist auch die Definition von Performance: dass sich etwas durch einen Körper in Raum und Zeit entwickelt. Performance Art ist daher ein guter Begriff, um das, was wir Nachfolger der Lautdichter machen, zu bezeichnen.

Und wo kann man so eine Performance miterleben?

Ja, zum Beispiel an Universitäten wie hier in Poitiers oder in literarischen Milieus, die dies als eine Form der Literatur annehmen. Ich werde auch in Galerien eingeladen, da es einen Performance-Turn in den zeitgenössischen Künsten gibt. Auch auf Musikfestivals gibt es eine gewisse Tradition, wegen Künstlern wie John Cage, die in ihrer Arbeit schon etwas wie Lautdichtung eingebracht haben.

Diese Kunst bewegt sich zwischen Musik, Theater, Literatur und zeitgenössischer Kunst. Sie ist nicht fixiert und definiert, es nicht nur Papier, kann aber Papier sein, es ist nicht nur Video, aber es kann ein bisschen Video sein, es ist nicht nur Bewegung, aber es kann auch ein bisschen Tanz sein. Gerade diese unfixierte Position der zeitgenössischen Sprachkunst finde ich interessant.

Vincent Barras
Geb. 1956 ist Sprachkünstler und Leiter des Institut für Medizingeschichte und Gesundheitswesen der Universität Lausanne. Vincent Barras unterrichtet auch an der Haute École d'Art et de Design de Genève die Theorie des Klanges und des Körpers, übersetzte u.a. Eugen Gomringers „Konstellationen“ ins Französische und organisierte von 1985 bis 2008 das „roaratorio“-Festival für experimentelle Poesie in Genf. Mit Unterstützung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia trat Vincent Barras im Februar 2013 mit den Gedichten „Peau“ und „umno(p)“ im Rahmen der Literaturtage „Bruits de Langues“ an der Universität Poitiers auf. Zuletzt sind von ihm (zusammen mit Jacques Demierre) "bhn(a)" und andere Lautgedichte auf www.ubu.com erschienen.

Gisela Linschinger
Geb. 1983 in Gmunden, Maître de langue étrangère an der Université de Poitiers, studierte Internationale Entwicklung und Linguistik in Wien und absolvierte den Lehrgang "Angewandte Fotografie" an der FH St. Pölten. Im April 2013 tanzte sie in Dominique Bruns Version des Sacre du Printemps „S_F SUAPS“ im TAP Théâtre Poitiers.

Erschienen im etcetera Nr 52/ Körper/ Mai 2013