Asli Kislal: Weg von Klischees und Vorurteilen. Eva Riebler
Asli Kislal WEG VON KLISCHEES UND VORURTEILEN
Asli Kislal ist als Regisseurin Schauspielerin und Dramaturgin Leiterin des Theaterprojektes DAS KUNST und Spectrum Award Gewinner 2007. DAS KUNST ist ein trans-kulturelles Projekt, das es seit 2004 in Wien gibt. Unter dem Lockruf: Kultur mich doch am Arsch stellt diese multikulturelle Gruppe Theaterproduktionen, Tanz, Film und Musik zusammen. Aufführungsort ist „Das Theater des Augenblicks“ in Wien im 18. Bezirk, in der Edelhofgasse 10, Nähe Währingerstraße.
DAS KUNST ….“räumt auf mit überzogenen Kultur-Attitüden, verschrobenen psycho-sozialen Gesellschaftsdiktaten und überhaupt!“ - so der Text des Werbefolders. Weiters stellt sich die Gesellschaft selbst vor: „Ob artfremde Minarette, Integrationsdiskussionen, pfurzende Ozonloch-Kühe, bayrische Problembären und hoch subventionierte Staatstheaterdramen: Kultur mich doch am Arsch!“
Das Interview führte Eva Riebler sprach anlässlich der 127. Fortbildungstagung des Institutes für Österreichkunde in St. Pölten am 01.11.08 mit Asli Kislal.
Asli Kislal, Sie kommen aus der Türkei und haben in Wien Schauspiel studiert. Vor vier Jahren gründeten Sie DAS KUNST, ein interkulturelles Theaterprojekt. Welches Ziel verfolgen sie?
Mein Ziel ist, dass es irgendwann normal ist, dass man Kunst macht und nicht mehr in Sparten denkt. Dass sich interkulturelles Theater selber abschafft, indem wir mehr Akzeptanz haben, auch in unserem Leben. Dass man nicht mehr fragt, woher jemand kommt, was er macht; oder stets feststellt: der kommt von dort und dort …, sondern dass wir alle einfach Menschen sind, die Kunst machen.
Die Herkunft eines Menschen sollte ja eine Bereicherung für alle anderen sein.
Es soll eine Chance, eine Entwicklung für uns und eine Bereicherung für die Gesellschaft sein. Es sollte keine Angst vor dem Fremden, den Fremden oder Voyeurismus herrschen. Wir sind die neuen Österreicher! Ich werde mir ein Leben lang als Ziel setzen, dies zu sein. Nicht Asli aus der Türkei sein, die Kunst macht oder die Türkin ist, die versucht Theater zu machen.
Sie sagen, dass Sie selbst mit vielen Vorurteilen konfrontiert wurden und als türkische Schauspielerin oft in die Rolle einer Gastarbeiterin oder türkischen Putzfrau gedrängt wurden.
Ja, genau das habe ich erlebt. Ich sollte ständig Klischeerollen annehmen. Das wollte ich nicht. Deswegen gibt es DAS KUNST. Wir sind multinational und multikulturell und sehen die Andersartigkeit als Chance.
Würde in der Türkei dies umgekehrt genauso stattfinden? Hat der Deutsche ein Klischee, das er bedient?
In der Türkei wird der Österreicher oder der Deutsche sehr hoch angesehen und in einem hohen Niveau akzeptiert. Für mich gibt es ein Schichtproblem und ein Wirtschaftsproblem. Die Türken, die ausreisen, hatten in ihrer Heimat ein Arbeitsproblem.
Viele türkischstämmige Schüler, auch in der zweiten oder dritten Generation, haben bei uns kulturelle oder sprachliche Barrieren.
Die Sprache ist pädagogisch verwendbar und sehr wichtig. Sich sprachlich besser zu präsentieren oder zu artikulieren, seine Gefühle ausdrücken zu können, in eine andere Rolle schlüpfen zu können, erleichtert sich besser sehen zu können.
Soll spielerisches Lernen oder Rollen erlernen die Sprachbeherrschung erleichtern?
Ja, und Geschichten erzählen ist so wichtig.
Auf Deutsch oder Türkisch?
Zuerst auf Deutsch, wir sind ja in Österreich. Wie schön wäre es, wenn es auch auf Türkisch wäre… und auf Englisch und auf Französisch!
Danke für das Gespräch und viel Erfolg für das Theaterprojekt!
Asli Kislal
Geb. 1970 in Ankara, studierte in Istambul 2 Semester internationale Beziehungen. 1990 zog sie nach Wien und studierte Soziologie. Seit 1991 Engagements in Österreich, Deutschland (Theater der Jugend, Stadttheater Klagenfurt, Interkulttheater Wien). Organisation und Gründung Jugendund Kulturverein Echo. 2007 Gewinnerin des Theaterfestivals Spectrum „best of(f) Austria“. Vertreterin Österreichs beim “Youth dance & youth theatre”. Theaterworkshops in u.a Düsseldorf, Stuttgart, Wien, Rom. Sozialarbeiterin im unabhäng. Jugendzentrum im 12. Bez. und künstler. Leiterin des TheaterKistls. Seit 2006 Mitinitiatorin von „Kunst am Grund“ im 15. Bez. Wiens. mehr...
Christine Nusterer: Stadtbücherei im Wandel der Zeit. Ingrid Reichel
Christine Nusterer STADTBÜCHEREI IM WANDEL DER ZEIT
Die Stadtbücherei ist im Jahr 2006 vom Domplatz/ Wiener Straße in die Prandtauerstr. 7 übersiedelt. Seit einem Jahr hat sie eine neue Mitarbeiterin, Christine Nusterer, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist.
Ingrid Reichel besuchte sie im März 09 in der Stadtbücherei St. Pölten.
Die Stadtbücherei stellt sich um, wird umstrukturiert. Inwiefern hat sich in der Buchauswahl eine Veränderung vollzogen?
Man muss heutzutage einfach mehr auf die Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen eingehen, das bedeutet, wir haben auf die Leser und Leserinnen zuzugehen. Unter diesen Punkt fällt auch, dem Leitbild der öffentlichen Bibliotheken Österreichs Rechnung zu tragen, nämlich – u.a. – eine sozialintegrative Rolle zu übernehmen. Dies bedeutet in unserem speziellen Fall, Menschen mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, das Bildungsangebot in öffentlichen Büchereien wahrzunehmen. Da gab es in letzter Zeit Gespräche mit dem Integrationsbeauftragten der Stadt, Mag. Michael Putzenlechner, wo wir um Zusammenarbeit bemüht sind. Das soll so aussehen, dass für benachteiligte GruppenLiteratur angekauft wurde, um sie einzuladen, in die Bücherei zu kommen.
Ist das Deutsche oder Türkische, Tschetschenische … Literatur, also Literatur aus ihrem Land?
Es ist auch Literatur aus ihrem Land, es sind Werke, die zweisprachig sind, es sind Werke, die im leichten Deutsch verständlich geschrieben sind, z.B. russische Volksmärchen. Und nachdem es im vorigen Jahr die Diskussion um den Nikolaus gegeben hat, haben wir ein Buch mit Hintergrundberichterstattung über die Legende des Nikolaus zweisprachig angeschafft. Das ist eine interessante Geschichte.
Du bist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Welche Menschen kommen in die Stadtbücherei, wie erfahren sie von dem neuen Angebot?
Wir versuchen ständig, unsere aktuellen Ankäufe über die Medien zu verbreiten, das Bildungsangebot für Menschen mit Migrationshintergrund wird in Zusammenarbeit mit Mag. Putzenlechner publiziert werden und schließlich spielt die Mundpropaganda eine nicht unwesentliche Rolle.
Was tragen Kinder dazu bei?
Meistens sind es ja Kinder, die in Begleitung ihrer Mütter zu uns kommen. Die Mütter sprechen im Vergleich zu ihren Kindern nicht so gut Deutsch und haben daher eine gewisse Hemmschwelle, trauen sich also oft nicht nachzufragen. Die Kinder übernehmen dann die Initiative, erkundigen sich, welche Bücher für ihre Mütter geeignet wären. Meistens sind es dann nur Bilderbücher, die zur Auswahl stehen. Nun haben wir aufgestockt und können auch ein Sortiment von Literatur für Erwachsene anbieten – sg. „Easy readers“.
Immerhin leben in St. Pölten 11% Leute mit Migrationshintergrund, die die österr. Staatsbürgerschaft bereits besitzen, aber man rechnet mit weitere ca. 20% ohne österr. Staatsbürgerschaft!
Ein weiteres Thema, welches mich interessiert, wie geht eine Bücherei mit Behinderten um. Für körperliche Behinderungen ist die Stadtbücherei ja mit einem Lift standardgemäß ausgestattet worden. Aber ich denke hier speziell an blinde oder sehbehinderte Menschen, auch ältere Menschen, die durch die Alterssehschwäche nicht mehr in der Lage sind normale Bücher zu lesen.
Gibt es eine Auswahl an Hörbücher oder gar Bücher mit Brailleschrift?
Natürlich haben wir Hörbücher, sehr viele sogar.
Wir haben auch so genannte Großdruckbücher für Leute mit Sehbehinderung. Nicht so reichhaltig, daher werden wir beim Ankauf diese Gruppe berücksichtigen und zukünftig das Angebot aufstocken. Mit Braille-Büchern haben wir uns bislang nicht beschäftigt. Aber auch hier werden wir versuchen näher darauf einzugehen.
Wie schauen die Größenverhältnisse von der alten Stadtbücherei zur neuen aus?
Im Vergleich haben wir mehr Platz für Medien. Doch durch die Stockwerke gibt es eine gewisse Hemmschwelle. Es gibt Leute, die nicht wissen, dass sich die Bücherei über alle Stockwerke erstreckt. Viele glauben, dass sich in den oberen Etagen nur Büroräumlichkeiten befinden. Wir weisen sie immer wieder darauf hin und machen sie darauf aufmerksam, dass es einen zweiten und dritten Stock gibt. Bitte, wir haben Zeitschriften im 3. Stock, Biografien und Sachbücher im 2. Stock! Die Romane haben den meisten Anklang und da sie sich im 1. Stock befinden, vergisst man leicht, was oberhalb noch passiert. Daher versuchen wir immer wieder umzuschlichten. Am meisten werden Gesellschafts- und Liebesromane ausgeliehen, an zweiter Stelle kommen die Krimis, dann die Historischen Romane, Tatsachenromane...
Wie steht es mit dem Sachbuch und den philosophischen Werken?
Philosophische Werke bzw. überhaupt Sachbücher sind eine Gruppe, in der es gilt, besonderes Augenmerk auf Aktualität und Nachfrage zu legen.
Natürlich ist es so, dass für spezielle Bereiche wie Angeln, Fischen oder Reitsport gewisse Bestände da sind, jedoch nicht so gefragt sind. Vielleicht weil es die Special-Interest-Zeitschriften gibt, die wir auch vermehrt ankaufen und die natürlich auch immer am aktuellsten sind.
Wie steht es mit dem Einkaufsbudget der Stadtbücherei?
Genauere Zahlen kann ich hier nicht angeben. Es ist jedenfalls zufrieden stellend. Man muss auch berücksichtigen, dass nicht nur die Zentrale bestückt werden muss, sondern auch die Zweigstellen. Wir haben drei Zweigstellen, eine im Norden der Stadt, eine im Süden und eine in Spratzern. Die Zweigstellen haben natürlich weniger Bestand, doch alle Themen sind ausreichend abgedeckt. Die Kollegen und Kolleginnen, die dort arbeiten, kennen ihre Klientel ganz genau und kaufen auch dementsprechend ein, um sie zufrieden zu stellen.
Wer bestimmt, welche Bücher neu dazukommen und eingekauft werden?
Das ist eine gute Frage. Erstens einmal ist es eine interessante Aufgabe Bücher auszusuchen. Jeder macht das gerne. Aber es passiert bei uns absolut in Teamarbeit. Wir können hierbei auf keine KollegInnen verzichten. Die in der Ausleihe arbeiten, wissen um die Nachfrage und welche Bücher gut gehen. Ansonsten werden selbstverständlich Neuerscheinungen erworben und auch immer wieder versucht, aufLeserwünsche einzugehen
Haben sich vereinzelte MitarbeiterInnen in einem Genre spezialisiert?
Ja, natürlich. Und auf sie kann man sich auch verlassen. Wir gehen nach ganz unterschiedlichen Kriterien vor. Sicherlich werden Bestsellerlisten angeschaut. Vorschläge in- und ausländischer Zeitungen sind oft ausschlaggebend. Aber natürlich wird auch das eigene Empfinden berücksichtigt, soviel Freiheit haben wir.
Zu wievielt seid ihr im Team?
Wir sind neun in der Zentrale und jeweils drei in den Zweigstellen.
Wie steht es mit dir? Gehörst du zu jenen Menschen, die sich Bücher ausleihen oder zu jenen, wie ich, die sich von einem Buch nicht trennen können, wenn sie es einmal in der Hand halten oder gelesen haben?
Als Kind habe ich mir oft die Bücher in der Stadtbücherei in der Wiener Straße ausgeliehen, aber als Erwachsene kaufe ich sie mir meistens selbst. Ich sitze inmitten der Bücher und komme selbst kaum zum Lesen. Es gibt so viele interessante Titel, die neu erscheinen, ich möchte sie gerne lesen, doch ich komme nicht dazu.
Weißt du von Menschen, die sich ein Buch ausleihen und nachdem sie es gelesen haben, auch noch kaufen?
Ja, die gibt es. Allerdings ist ein interessanter Aspekt, dass oft Leute zu Hause keinen Platz mehr für Bücher haben, deshalb kommen sie in die Bücherei und borgen sich das Buch aus.
Siehst du darin eine Renaissance der Büchereien?
Auf jeden Fall. Das ist sicher ein Punkt, den man zukünftig berücksichtigen kann.
Welche Erfahrungen hast du mit digitalen Büchern?
Hörbücher sind auf jeden Fall der große Renner. Vor allem Männer nützen sie verstärkt für Autofahrten und Geschäftsreisen.
Wie weit könnten E-Books für eine Bücherei von Interesse sein?
Tja, meine subjektive Einschätzung ist, dass „ein Buch in der Hand zu halten“ ganz eine wichtige G’schicht ist. Ich kann das Buch überall mitnehmen und denke, dass die moderne Art eher die Sache erschwert.
Da muss ich dir widersprechen. Das E-Book kann ich ebenfalls überall mitnehmen und das Problem des Gewichtes und des Platzes hätte ich auch gelöst. Ist es nicht eher ein sinnlicher Verlust, den du wahrnimmst?
Das mag schon sein. Dennoch ich bleibe bei meinem Argument. Du kannst dir im Urlaub zehn Bücher herunterladen und dennoch wirst du sie nicht lesen. So kannst du dir nur eine beschränkte Anzahl Bücher mitnehmen und bist gezwungen die zu lesen. Zumindest hast du einen gewissen Druck, denn du weißt, vier stapeln sich noch auf dem Nachtkästchen und die hast du auch noch zu lesen. Du musst eben eine gewisse Auswahl treffen.
Was hältst du von den Menschen, die sich z.B. vor einem langen Flug ein Buch kaufen, es während des Flugs lesen und schließlich nach Gebrauch wegschmeißen?
Das ist durchaus legitim, kann man sagen. Sie nützen ihre Zeit. Man soll das nicht verurteilen. Jeder hat einen anderen Zugang zum Buch.
Mir persönlich tut das furchtbar weh… auch vom moralischen Standpunkt. Es gibt Sammelstellen für Bedürftige, die sich von dort umsonst die Bücher holen können. Gibt es in St. Pölten so eine Sammelstelle?
Ob es so eine Sammelstelle definitiv in St. Pölten gibt, weiß ich nicht. Obwohl wir uns schwer von den Büchern trennen, ist es so, dass jährlich eine Bestandsaufnahme durchgeführt wird und Bücher, die schon zehn bis zwölf Jahre oder mehr im Regal stehen und kaum ausgeliehen werden, aus Platzgründen ausgeschieden werden müssen. So haben wir einen ständigen Flohmarkt, wo wir diese Bücher um 50 Cent anbieten. Im Eingangsbereich haben wir sogar eine Wühlkiste mit Büchern, die gratis genommen werden können. Das wissen bereits sehr viele und das Angebot wird genützt. Die Kiste wird auch immer wieder aufgefüllt. Außerdem versuchen wir auch Schulen, die über Schulbüchereien verfügen, anzusprechen und fragen, ob sie Bücher brauchen.
Zum Abschluss noch: Das Team der Stadtbücherei ist sehr engagiert. Es werden viele Lesungen angeboten, auch Ausstellungen werden gemacht.
Ja, wir hatten voriges Jahr zum Beispiel die Autorin Eva Rossmann zu Gast. Das war ein ganz toller Erfolg. Auch Bürgermeister Matthias Stadler und Landestheaterintendantin Isabella Suppanz waren da und hielten Lesungen ab. Jetzt erst hatten wir einen Diavortrag, dann eine Vernissage mit der gebürtigen St. Pöltnerin Christina Steinwendtner, die ihre Werke in der Stadtbücherei präsentierte. Und im April gab es dann noch den Andersen-Tag, den wir zum Anlass genommen haben und die „Märchentage in der Stadtbücherei“ abhielten.
Hast du einen persönlichen Wunsch für die Stadtbücherei?
Die Stadtbücherei soll ein Ort der Kommunikation werden. Es sollen nicht nur die Bücher im Vordergrund stehen, sondern sie soll sich durch unsere Veranstaltungen als Treffpunkt in St. Pölten etablieren. Wir haben im Übrigen auch eine Kaffeeecke im 2. Stock, wo man ungestört schmökern kann. Zukunftsvision wären auch Diskussionsrunden, für die man z.B. fünf Bücher ausgibt, die man dann in einer Runde bespricht.
Man sieht, dass in der Stadtbücherei sehr viel los ist, Projekte geplant sind, Zukunftsvisionen umgesetzt werden wollen. Ich wünsche dir liebe Christine, und dem Team der Stadtbücherei weiterhin viel Erfolg und gratuliere zum reichen und spannenden Engagement.
Christine Nusterer
Geb. 23. 12. 1956 in Lilienfeld, verheiratet, fünf Kinder, immer in St. Pölten gewohnt, Studium neben den Kindern: Publizistik/Kommunikationswissenschaft und Theaterwissenschaft in Wien (1993 bis 2005). mehr...
Vincent E. Noel: Von romantischen Schönredereien. Ingrid Reichel
Vincent E. Noel VON ROMANTISCHEN SCHÖNREDEREIEN
Ein kurzer E-Mail Austausch vom 11.11.08 über sein Buch „Opferkind“ zwischen dem Autor Vincent E. Noel und der Redakteurin und Rezensentin Ingrid Reichel.
(etcetera 35/ KIND). Zur Rezension.
Warum spielt Ihre Novelle im Jahre 1905? Und warum in Amboise? gibt es einen triftigen Grund?
Das Jahr ist relativ willkürlich gewählt worden. Ich wollte schon immer etwas Historisches schreiben und habe großes Interesse an der Zeit des Jugendstils. Eine schnelle Zeit, in der viele Entwicklungen zum Abschluss gekommen sind, aber auch Neues entstanden ist – sei es nun in der Wissenschaft, der Geographie oder anderen Gebieten; und vor allem in der Kunst. Hätte ich genügend Geld und würde er noch leben, würde ich mir das ganze Haus von Gustav Klimt ausmalen lassen. Und Amboise zählt zu den schönsten Städten, die ich kenne. Wollte nach der Schule ursprünglich Musiker werden; Gott sei Dank hat das nicht geklappt. Bin dann zwei Jahre durch Europa gereist, vor allem durch Frankreich. Und in dieser Stadt hatte ich eine sehr schöne Zeit. Dazu die Landschaft der Touraine, nicht umsonst der Garten Frankreichs genannt. Es ist ein Traum. Ich begann eine Liebesgeschichte zu schreiben und Sophie kletterte in das Papier, in die Geschichte hinein; es war ein entsetzlicher Gedanke, dass dieses Mädchen in solch einer traumhaften Stadt lebt, aber nichts sehen kann, so entsetzlich, dass er mir nicht mehr aus dem Kopf kam und in die Tat umgesetzt wurde.
Warum in der Geschichte verweilen, wenn das Thema Gewalt an Kindern doch sehr zeitgemäß und äußerst brisant ist?
Um Klischees zu zerstören. Man hat bei dieser Zeit ein sehr versponnenes Bild vor Augen und redet sich ein, damals wäre noch alles so gewesen, wie es sein sollte: ein jedes Ding hatte seinen Platz, Gottes Ordnung war noch nicht außer Kraft gesetzt. Hach, damals in der guten, alten Zeit. Diese romantische Schönrederei hindert aber daran, sich bewusst zu sein, es gibt Probleme, die nicht der heutigen Zeit entspringen, die ewig sind. Sehnsucht nach einer anderen Zeit ist nichts Gutes in meinen Augen. Gleichzeitig aber ist auch Fakt, der Zeitrahmen des Buches ist unwichtig, es könnte genau so gut 1812 oder 1998 sein beispielsweise. Dies trifft auch auf die Lebensgestaltung zu, auf die damals wie heute so großer Wert gelegt wird, im Sinne von den Gesetzen und Regeln der Gesellschaft. Und so wird die Zeit nicht im Text selber explizit genannt (abgesehen von zwei Stellen, glaube ich), ansonsten nur angedeutet, für den aufmerksamen Leser, mit Formulierungen wie „einem dieser neuartigen Automobile“, hinzu kommt das Schwärmen von Laurence über elektrisches Licht in Paris: „einmal habe ich davon eine Photographie gesehen“ und der Schreibweise der damaligen Zeit: Opiumcigarette, Photographie und so weiter.
Was war ihre Motivation sich mit Kindesmissbrauch zu beschäftigen?
Ehrlich gesagt hatte ich keine, dies hat sich im Verlaufe des Entstehungsprozesses so entwickelt. Gemeint ist damit, ich habe mich nicht hingesetzt und mir gedacht: ich schreibe etwas über Kindesmissbrauch und Drogensucht. Es gab auch keine Vorgabe vom Verlag. Ursprünglich war das Werk als Roman angelegt, es sollte eine Liebesgeschichte sein zwischen Laurence und Adrièn. Dann kletterte Sophie in den Text und noch war alles wunderbar. Als dann aber Marguèrite auch noch ihren Teil vom Glück nach all der langen, dunklen Zeit bekommen sollte, entwickelte Raimond ein Eigenleben und musste alles, alles zerstören. Als ich merkte, als Roman funktioniert der Text nicht, und seitenweise strich, blieb das Thema erhalten, zum Glück, muss man fast sagen, denn es ist zweifellos wichtig, auf derartige Dinge aufmerksam zu machen.
Wer ist Sabine Kosider, der Sie das Buch gewidmet haben?
Die Frau, die ich heiraten werde, sobald ich mir einen Diamantring leisten kann. Den Scherz konnte ich mir nicht verkneifen ... aber im Ernst, sie ist meine Freundin und mein großes Glück, ohne sie bin ich nichts. Vieles Unglück in der Novelle hätte verhindert oder erleichtert werden können, wenn die Menschen miteinander kommunizieren würden. Aber sie tun es nicht, ganz, als ob sie erstarrt wären, sprechen sie nicht miteinander: niemand sieht niemanden an, niemand lächelt niemanden an, niemand redet mit niemandem. Dieser Fehler, diese Schwäche von Menschen zieht sich wie ein roter Faden durch meine Bücher. Und um mich und sie stets daran zu erinnern, dass wir dies verhindern müssen, diesen Zustand des Schweigens, im gewissen Sinne, war es nur folgerichtig, die Novelle ihr zu widmen. Und, darüber hinaus, ein wunderbarer Weg, ihr und aller Welt meine Liebe zu bezeugen. Wenn ich zum Abschluss noch mich aus einem anderen Text selber zitieren darf: „um gemeinsam mit Dir die Eulen im Stadtpark zu beobachten, die sich keinen Augenblick lang um uns kümmern und deren Schweigen so endlos ist wie meine Liebe zu Dir.“
Kurzbiografie: Vincent Eugen Noel
Geboren 1980 in Guben, lebt in Nürnberg. Schriftsteller und Dramatiker. Mitglied im Theaterlabor. Gründer einer freien Bühne in Nürnberg. Veröffentlicht regelmäßig Kurzgeschichten in einer Tageszeitung, schreibt Novellen, Erzählungen, Theatertexte. mehr...