85/LitArena X/Siegertext 2. Platz: Tristan Weih: Briefe vom See

Tristan Weih
Briefe vom See


14.04
Liebe Miri,

ja, du wirst lachen und ich täte es doch selber,wenn ich einen solchen Brief bekäme. Der Arzt meinte, ich sollte dir schreiben, also nicht dir im Speziellen, sondern irgendjemandem.
Nur die Kranken schreiben noch Briefe, sonst gibt es ja auch das Internet. Sie haben mir mein I-Phone abgenommen, aber das macht mir nicht viel aus. Um zehn Uhr stellen sie sowieso das W-Lan ab. Das hat mir Manuel gesagt, er ist schon zum dritten Mal hier, weil er wieder versucht hat, sich umzubringen.
Die Schwestern tun strenger, als sie eigentlich sind.Manchmal muss ich darüber lachen, natürlich in mich hinein, nicht wirklich offen. Sie würden hier auch nicht arbeiten, wenn ihnen nichts an uns läge. Es gibt sicherlich weniger anstrengende Stellen.
Ich kann von meinem Zimmer nicht viel sehen, die Fenster sind vergittert und selbst wenn nicht, würde ich nur auf das Nachbargebäude schauen. Morgens wache ich auf und finde es unnötig, weil ich noch lange liegenbleibe und nicht einmal ein Handy habe, um mein Nichtstun mit den Bewegungen meiner Finger zu rechtfertigen.
Mittags haben wir Kurse, wir sollen unsere Körper malen oder so einen Scheiß. Es hilft mir nicht, glaube ich, aber ich sage nichts, weil sie sich alle solche Mühe geben.

 

23.04
Hallo Miri und frohe Ostern,

Mama und Papa kamen gestern zu Besuch. Sie haben mich gefragt, wie ich zurecht käme, und ich habe gelogen, aber tat es diesmal um ihretwillen, nicht so wie früher, als ich andere Gründe hatte.
Es freut mich, dass es dir und Leo gut geht (und ich hoffe, dass ich euch bald wiedersehen kann). Das mit deinem Vater tut mir leid. Er wird es schon überstehen. Ich kann für ihn beten, sie haben eine Kapelle gegenüber vom Frühstücksraum. Ich weiß, ich bin nicht gläubig, aber vielleicht kann ich es werden. Sie haben uns geraten, ein Hobby zu finden. Ich schwanke noch. Die meisten malen, spielen ein Instrument oder gehen Joggen. Es sind alles Dinge, für die man geduldig sein muss, und darin bin ich nicht gut. (Du kennst sicherlich noch die Geschichte aus Sölden.)
Ich habe wieder zugenommen, gerade so viel, dass ich mich noch nicht dafür hasse. Manchmal gehe ich am Nachmittag mit den anderen um den See. Da sind keine Bäume, die einen abschirmen könnten. Vielleicht haben sie sie absichtlich gerodet, um uns im Blick zu behalten. Der Weg wird dadurch plastischer, man sieht die Strecke, die man bereits zurückgelegt hat, und jene, die noch vor einem liegt, aber irgendwie denkt man dadurch zuviel nach über das Vergehen der Zeit.


01.05
Hallo Miri,

gestern hat es zum ersten Mal richtig gestürmt. Die Wolken sind ganz plötzlich aufgekommen. Ich glaube, es lag an den Bergen in der Nähe. Ich wäre gerne raus gegangen und hätte mich in den Regen gestellt. Als ich am Fenster des Aufenthaltsraums stand und nach draußen geschaut habe, dachte ich an einen Weltuntergang, und mir wurde ganz behaglich dabei, in einem hellen Raum zu sein und hinaus in die Dunkelheit zu starren, die wild wie das Innere einer Rassel getobt hat.
Langsam gewöhne ich mich an das Briefeschreiben. Ich glaube ich entwickele einen Stil dabei und erschrecke auch ein bisschen darüber, weil ich Angst habe, meine Worte wären dann weniger wahr (es ist manchmal, als würde ich mich verstellen.)
Mittlerweile geben sie mir mein Handy am Abend, um es zur Nacht hin wieder zu konfiszieren. Ich schaue mir die Profile der anderen aus der Schule auf Instagram an, aber schreibe ihnen nicht. Ich will nicht, dass sie Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.
Das Bild von dir hat mir gut getan. Ich musste dabei ans Freibad denken und kann selbst nicht wirklich sagen, warum.
Du musst mir nicht schreiben, wenn du keine Lust dazu hast.
Aber sag es mir dann, OK?

 

09.05
Hey Miri,

bist du meine Briefe schon leid geworden? Ich hoffe, dass ich dir nicht mehr lange schreiben muss, aber manchmal wird mir ganz schwer um die Brust, wenn ich daran denken muss, wie es für mich weitergehen soll. Hier habe ich mich ganz gut in meiner Routine eingerichtet, aber da draußen werde ich mich umgewöhnen müssen und momentan ist der Gedanke, dass sich alles ändern wird, ganz fürchterlich fest und spitz wie ein Nagel, der sich in nasses Holz bohrt.
Ich gehe inzwischen mit Sandro. Er nennt es so, weil auch er es war, der die Idee dazu gehabt hat. Eigentlich haben wir uns erst zweimal geküsst. Mehr geht nicht unter den Augen der Pflegerinnen. Nachts schleichen wir uns auf die Zimmer der anderen, rennen in Socken durch die Gänge wie früher auf den Klassenfahrten. Ich glaube, die Schwestern wissen darüber Bescheid, aber dulden, was wir als Rebellion empfinden. Sie sind letztlich wie gutmütige Tanten.
Sandros Vater ist Arzt in Rosenheim. Deswegen kennt er einige der Begriffe, mit denen sie uns zwar beschreiben, aber doch nicht verstehen können. Ich glaube nicht, dass das mit uns etwas Ernstes wird. Wir tun es nur aus der Gelegenheit heraus. Er hat gesagt, ich sei zu alt, um mir die Haare zu färben. Es hat mir gezeigt, dass er mich nicht versteht.

 

Tristan Weih
Geb. 1998 in Mannheim, wuchs in Ludwigshafen am Rhein auf. E-Mail: Tris.Lu@gmx.net