85/LitArena X/Wettbewerbsbericht

LitArena X 2021
Wettbewerbsbericht


Zwischen Rückzug und der Suche nach einem Neubeginn
Weit über achtzig Einsendungen erreichten uns für die LitArena X 2021, darunter Prosa – und Lyriktexte. Aus dem Konvolut der Beiträge wählten die Juror*innen Harald Darer, Petra Nagenkögel und Cornelia Stahl die besten aus.
Platz 1 ging an die Wienerin Helene Proißl mit dem Beitrag „Orangenhaut und Knitterfotos“, den 2. Platz errang der Ludwigshafener Tristan Weih mit der Geschichte „Briefe vom See“. Den 3. Platz belegte die Niederösterreicherin Bernadette Sarman mit ihrem lyrischen Prosatext „Herz und Seele“.

Während Kontakte in der Zeit der Pandemie insbesondere zur älteren Generation reglementiert wurden und alle Beteiligten unter dem Zustand der erzwungenen Distanz litten, schrieb die Germanistikstudentin Helene Proißl den Text „Orangenhaut und Knitterfotos“, in dem es endlich wieder um Annäherung geht.
Ein Beitrag, der die Begegnung zweier Frauen aus unterschiedlichen Generationen in den Fokus nimmt. Ein gemeinsames, festliches Aufdecken des Tisches in Erwartung zahlreicher Gäste, Familienbesuch vielleicht. Mit dem besonderen Öffnen des alten Kastens nimmt die Geschichte ihren Lauf, gewinnt nach und nach an Tempo und nimmt Fahrt auf.
Zaghaftes Ertasten der Umgebung und der achtsame Umgang mit wertvollem Geschirr stehen metaphorisch für den respektvollen Umgang miteinander. Ein gemeinsames Betrachten von Fotos zurückliegender Reisen verbindet: „ihr verortet euch in den bildern, verliert euch auf dieser durchgesessenen ledercouch, die du nicht zuordnen kannst zu der wohnung, und noch immer hat niemand geläutet“. Der Familienbesuch bleibt aus. Melancholie grundiert den Subtext, fungiert als Hintergrundfolie. Doch Rettung lauert überall.
Die Annäherung der beiden weiblichen Figuren, geprägt von Neugier und Interesse, spiegelt sich im Text: „du steigst in ein erzähltes leben, das dir durch dinge und bilder einverleibt wird“. Erfahrungen aus zweiter Hand werden möglich durch wechselseitige Zuwendung und aufmerksames Zuhören. Am Ende verdichten sich die Handlungsstränge. Es kracht und poltert, kostbares Porzellan zerschellt im Müll. Wird das geknüpfte Band weiblicher Zusammengehörigkeit weiterhin halten? Lassen Sie sich vom Ende des Textes und von Helene Proißl überraschen!

Die Geschichte „Briefe vom See“ von Weih Tristan hätte gut in die Onlineklasse „Ohne Netz“ (sfd- Schule für Dichtung, Wien, geleitet von Heinrich Steinfest) gepasst. Der agierende Protagonist sieht sich während eines Spitalaufenthaltes gezwungen, ohne Smartphone auszukommen. Ein Therapeut rät ihm, Briefe zu schreiben, an irgendjemand. Nur die Kranken schreiben noch Briefe, entgegnet dieser resignierend. Nein, es sind nicht „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“, wie sie Christine Lavant Anfang der 1950er Jahre dokumentierte. Dennoch gleicht die Geschichte „Briefe vom See“ mitunter Lavants Texten, etwa in der Frage an die Schriftstellerkollegin Christine Busta „Hast du meine Aufzeichnungen erhalten?“ In Weih Tristans Beitrag, der dramaturgisch exzellent durchkomponiert ist, blicken wir hinter die Fassade des Verfassers, der mit seinen Briefen Kontakte zu Miri aufnimmt, sich gleichzeitig nicht aufdrängen möchte: Du musst mir nicht schreiben, wenn du keine Lust dazu hast. Aber sag es mir dann, OK? Und an anderer Stelle: Hey Miri, bist du meine Briefe schon leid geworden?
Der stete Versuch, gedanklich und physisch dem Krankenhausalltag zu entfliehen und Kontakte zur Außenwelt herzustellen, sind Ausdruck einer inneren Verlassenheit, begleitet von dem existenziellen Bedürfnis des Menschen nach Nähe und Zugehörigkeit.

Verbundenheit und Fragilität durchdringen Bernadette Sarmans lyrischen Prosatext „Herz und Seele“. Der Wunsch nach Begegnung und Interaktion zeigt sich in der Aufforderung „Nimm meine Hand“. Er schließt Bitte, Forderung und Sehnsucht ein. Sarman erzählt von Beziehungsgeflechten, die mühsam und sorgfältig geknüpft, in den Folgejahren erodieren und Schmerzhaftes hinterlassen: Der Schmerz von damals schmeckt jetzt nach Gelerntem, an schlechten Tagen nach Reue.
Das lyrische Ich strauchelt. Innere Monologe spiegeln die innere Verfasstheit des Individuums, Gefühle, die den steigenden und fallenden Amplituden eines Herzfrequenzmessers gleichen. Sie implizieren die Sehnsucht nach einem Ort, der Halt bietet, an dem man sich festhalten kann wie an einem Geländer (Wisława Szymborska): Fühle mich wie ein Strohhalm, undurchsichtig fallen meine Gefühle auf und ab.

Die Folgen familiärer Muster skizziert die Berlinerin Antonia Hildebrandt in ihrem Text „Zebra-Antwort“. Übertriebene Reinlichkeit, ob vor, während oder nach der Pandemie, verunmöglicht Kontakte aufzubauen und liebevolle Beziehungen zum anderen Geschlecht zu pflegen.
Die erst sechzehnjährige deutsche Autorin Sophie Mrotzeck setzt sich in ihrer Geschichte „Das, was mich loslässt“ mit weiblicher Obdachlosigkeit auseinander, stellt wie Helene Proißl zwei Frauen einander gegenüber, zwei mögliche Spiegel der Realität. Der Text erzählt von Obdachlosigkeit als Facette des öffentlichen Lebens, die mitunter während der Pandemie aus dem Blickfeld unserer Wahrnehmungen geraten ist. Mrotzeck entwirft ein fiktives Szenario an Begegnungen, welches erschreckend authentisch den gegenwärtigen Alltag streift und sich in ein Gegenüber hineinversetzt. Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit als Auswirkungen der Pandemie. Ein politisch-poetischer Text, der sich an den Auswüchsen kapitalistischer Gegenwart reibt.
Auch in den Lyrikbeiträgen liegt das Augenmerk auf den Reibungsflächen menschlichen Miteinanders in einer von Krisen und Unsicherheit geprägten Gegenwart. Die Wienerin Konstantina Hornek hat mit ihrem Beitrag „Regie der Zeit“ darauf aufmerksam gemacht, wie unser Alltagshandeln von außen durch Anweisungen reglementiert wird: 15 bis 20 Minuten. Eine längere Pause steht ihr nicht zu. Ein Hinweis für den sorgsamen Umgang mit der wertvollsten Ressource, unserer Zeit. Einmal verbraucht oder verloren, gilt sie als unwiederbringlich. Zeit und Zuwendung als Brückenfunktion in unserem Alltag. Ein Grund zum Aufatmen, da Begegnungen (zum Teil mit Maske) nun wieder möglich sind. Neben Digitaler Dominanz ist unser Menschsein erneut gefragt, wenn es um ein solidarisches Miteinander und die gemeinsame Bewältigung von Krisen geht.

Mit Michel Foucault möchte ich enden und allen Autor*innen danken, die zum Gelingen dieses Heft beigetragen haben. Foucault betont in „Zur Genealogie der Ethik“ die Bedeutung der Kunst und die des Individuums:
„Daß Kunst etwas Gesondertes ist, das von Experten, nämlich Künstlern gemacht wird. Aber könnte nicht das Leben eines jeden ein Kunstwerk werden? Warum sollte die Lampe oder das Haus ein Kunstgegenstand sein, nicht aber unser Leben?“ (aus: Michel Foucault: „Zur Genealogie der Ethik“ in: Hubert Dreyfus und Paul Rabinow Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. 1982/ Zitat Ausgabe 1987).
Cornelia Stahl

 

Cornelia Stahl
Studierte Soziologie/Sozialökonomie (Hamburg), Deutsch und Evangelische Religion (Wien). Sie ist Radiojournalistin der Sendung Literaturfenster Österreich beim Freien Radio Orange, arbeitet als Lehrerin, Bibliothekarin und Rezensentin für bn-Bibliotheksnachrichten Salzburg, schreibt für Die Alternative, AUGUSTIN und etcetera. „Ohne Netz“, sfd- Schule für Dichtung, 2021.