92/LitArena XI/Siegertext 2. Platz: Sascha Bruch: in Hüllen, ein Halten

Sascha Bruch
in Hüllen, ein Halten

1
Aus dem Körper einer Mutter gebrochen, die ohne Namen blieb.
Ihre Abwesenheit als Bezugspunkt deines Bestands.
Du schläfst nun in fremden Betten (ich stelle sie mir kratzig vor).
Du isst nun von fremden Tellern (ich stelle sie mir leer vor).
Du lässt dir Zöpfe von fremden Händen flechten (ich stelle sie mir grob vor).
Du lernst früh Räume auszuloten, Nischen zu finden, den dir zugewiesenen Platz
zu kennen. Vor allem einen, der fehlt.
Später sagst du: Man muss dankbar sein.
Doch eins war immer eins zu viel.
Nach dem Abwasch wartest du, bis sich die Küche leert, die Kinder zurück auf die Straße stürmen und die Erwachsenen
an die Arbeit. Mit dem Buch unter der Schürze huschst du auf die Toilette, kommst erst wieder raus, wenn es zu dunkel
wird oder man dich erwischt.
Dann: frühes Ende der Schule, Arbeit in der Fabrik, Krieg.
Danach: mehr Leerstellen als Greifbares.
Was ich weiß: Zwei Lieben sterben dir zwischen den Fingern, ein Leben wächst trotzdem weiter in dir.
A one woman show, nichts Besonderes für die Frauen deiner Generation.
Der Kegel deines Körpers bringt die Eins ins Rollen.
Du warst uns allen die erste Mutter.

1+1
Mit Einschlägen fällst du in Arme und Welt.
Zwei Einzelne und die Frage wohin. Im Land ohne Männer: eine Flucht von West nach Ost.
Der Anlass: eine Leerstelle.
Dein Schreien übertönt jede Sirene, es wird zum Soundtrack eures Marschs. Nur in Luftschutzbunkern erstarrt dein Körper in stummem Schlaf. Fliegeralarm dein Wiegenlied in den zitternden Armen der Mutter.
Zur Geburt hast du das Ende gesehen. Dein Körper seither unsicher, ob er Teil dessen sein will. Immer wieder flammt es auf in dir, ein Brennen, ein Züngeln hinter der Stirn. Letztlich ein Halten, aus.
Was ihr erzählt: du überlebst. Worüber ihr schweigt: den Krieg.
So ist das mit der Hierarchie der Notstände: Der persönliche trumpft den kollektiven. Bunkerwände schlucken den Rest.
Mit Einsetzen der Erinnerung wurden die Zeiten besser, sagst du heute. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Auf den Fotos wächst wirklich Moos auf Trümmern und Sommerbräune auf deinen Knien. Es ist die neue Zeit, die Vergangenes von sich schütteln will, wie Sand von halbgetrockneter Haut. Der Krater am Horizont fällt erst im Rückblick auf.

1+1+1
Du landest in derselben Wiege wie alle deiner Generation.
Inventar von Staatswohnungen, du auch.
Bewacht von den vorangegangenen Müttern, schaut dir als erstes auch ein Vater beim Sabbern zu.
Du bist das Happily-Ever-After ohne ein Davor zu kennen. Nur ab und an bricht es aus dem Mutterkörper, der mit dir im
Arm erneut zu lodern beginnt.
Dann tritt die Erste an Stelle der Zweiten: es soll dir nicht an Armen mangeln, in die du fällst.
Du bist das Kind von Mutter und Tochter. Die Wiesen zwischen den Plattenbauten sind ohne Grenzen für dich, dein Spiel im Takt der Maschinen: unermüdlich. Mir erzählst du vom Kratzen der Tücher am Hals und musst ihre Farbe nicht erst benennen (blau). Die Bedeutung von Mauern lernst du erst später kennen. Zunächst heißen sie Geborgenheit.
Erst später auch: Abzweigungen nehmen, schweigen lernen und die Bedeutung einer Lampe im Fenster kennen. Du wirst sie nicht zum Einsturz bringen, fallen werden sie trotzdem.
Beim Fußfassen, verlernst du Hände zu greifen. Du gräbst dich fest in einen Boden, den du dir wünschst, mit Rollrasen zu bedecken.

1+1+1+1
Ich schäle gewaltvoll den Bauch der Mutter von mir.
Meine Ungeduld hinterlässt einen Riss, der bestimmt: ich werde allein bleiben. Die Regeln der Addition lernt keine von uns. Eins plus eins bleiben eins und eins. Die ersten Wochen verbringen wir getrennt. Ich in einem warmen Glas mit gelbem Körper, wie ein Küken, nur mit Nadel im Kopf. Wo du wartest, habe ich nie gefragt.
Um den Brutkasten stehen drei Mütter. Ich könnte sagen: Aus ihren Nippeln habe ich die Einsamkeit gesaugt. Sie lief dann wie in einem Springbrunnen von einer Brust in die Nächste, bevor sie über mein Kinn rinnt. Oder aber: Durch drei Bauchwände ist die Welt nicht mehr als ein dumpfes Geräusch.
Vor dem Fenster: keine Landschaft nur Feld, am Rand vielleicht ein Wald, die Versprechung der Stadt außerhalb des Blickfeldes.
Ich wachse, bis ich die Mutter völlig ausfülle. Und dann noch ein bisschen mehr. Nach Jahren des Luftanhaltens folgt mein berechenbares Bersten. Man kann den Schalen nicht entkommen, ohne in einer früheren zu landen.
Zurück bleibt ein Körper, der sich nicht mehr öffnen lässt. Ich halte ihn nun festzusammen, will nur mir eine Mutter sein müssen.

Sascha Bruch
Geb. 1998 lebt und arbeitet in Wien. Nach einem Bachelor in Psychologie studiert sie nun Sprachkunst. Schreibt meistens Lyrik oder Essay, manchmal auch Prosa. Versucht sich außerdem in Performance, Linoldruck, Comic und Keramik. Mitorganisatorin der Lesereihe SEHR ERNSTE.
bruchsascha@gmx.at

2. Platz: SASCHA BRUCH
In Hüllen, ein Halten

Bereits der Titel bezeichnet Ungewöhnliches und lässt einen großen Inhalt weit auslaufen.
Kann man sich an Hüllen, an Stoffen festhalten?
Nein, bereits ein Abbild der russischen Babuschka-Holzpuppe stellt klar: die Hülle der äußeren Puppe ist gemeint, die die innere und diese wiederum die innere hält.
Stütze und Halt bedeuten eine wesentliche Lebensstruktur und somit gesetzte Grenzen und hoffentlich mütterliche Geborgenheit.
Ja „mütterliche“! Haben sie sich schon einmal gefragt, warum es keine männliche Babuschka-Puppe gibt? In der Erzählung Sascha Bruchs geht es um die Generationen der Frauen, die Großmutter und Mutter waren Alleinerzieherinnen, es wird der Krieg thematisiert und der Platz des Vaters ist eine Leerstelle. Dies alles wird lakonisch, angenehm gemütsarm formuliert. Kein Adjektiv stört die eigene Phantasie.
Bereits der erste Satz bringt ein ungewöhnliches Zeitwort: „Aus dem Körper einer Mutter gebrochen“ – und verhaftet mit viel Einsamkeit und Fremdheit geht es weiter … „die ohne Namen blieb.“
Das Gegensatzpaar „Abwesenheit = Bezugspunkt“ ergibt eine unheimliche Gebrochenheit bereits im zweiten Satz: „Ihre Abwesenheit als Bezugspunkt deines Bestandes.“
Adversativ wird weiter formuliert: „Du lernst den dir zugewiesenen Platz zu kennen. Vor allem einen, der fehlt.“
Wie nur drei Sätze Schicksal und Traurigkeit hervorbringen, ist meisterlich!
Die Sprache scheint arm und bedürftig zu sein, fremd zu klingen und bringt dadurch diesen erzählten schicksalhaften Lebensinhalt des Mädchens genau in diese Richtung.
Einfach bewundernswert und unnachahmlich!
Eva Riebler