Der Wettbewerb

85/LitArena X/Siegertext 2. Platz: Tristan Weih: Briefe vom See

Tristan Weih
Briefe vom See


14.04
Liebe Miri,

ja, du wirst lachen und ich täte es doch selber,wenn ich einen solchen Brief bekäme. Der Arzt meinte, ich sollte dir schreiben, also nicht dir im Speziellen, sondern irgendjemandem.
Nur die Kranken schreiben noch Briefe, sonst gibt es ja auch das Internet. Sie haben mir mein I-Phone abgenommen, aber das macht mir nicht viel aus. Um zehn Uhr stellen sie sowieso das W-Lan ab. Das hat mir Manuel gesagt, er ist schon zum dritten Mal hier, weil er wieder versucht hat, sich umzubringen.
Die Schwestern tun strenger, als sie eigentlich sind.Manchmal muss ich darüber lachen, natürlich in mich hinein, nicht wirklich offen. Sie würden hier auch nicht arbeiten, wenn ihnen nichts an uns läge. Es gibt sicherlich weniger anstrengende Stellen.
Ich kann von meinem Zimmer nicht viel sehen, die Fenster sind vergittert und selbst wenn nicht, würde ich nur auf das Nachbargebäude schauen. Morgens wache ich auf und finde es unnötig, weil ich noch lange liegenbleibe und nicht einmal ein Handy habe, um mein Nichtstun mit den Bewegungen meiner Finger zu rechtfertigen.
Mittags haben wir Kurse, wir sollen unsere Körper malen oder so einen Scheiß. Es hilft mir nicht, glaube ich, aber ich sage nichts, weil sie sich alle solche Mühe geben.

 

23.04
Hallo Miri und frohe Ostern,

Mama und Papa kamen gestern zu Besuch. Sie haben mich gefragt, wie ich zurecht käme, und ich habe gelogen, aber tat es diesmal um ihretwillen, nicht so wie früher, als ich andere Gründe hatte.
Es freut mich, dass es dir und Leo gut geht (und ich hoffe, dass ich euch bald wiedersehen kann). Das mit deinem Vater tut mir leid. Er wird es schon überstehen. Ich kann für ihn beten, sie haben eine Kapelle gegenüber vom Frühstücksraum. Ich weiß, ich bin nicht gläubig, aber vielleicht kann ich es werden. Sie haben uns geraten, ein Hobby zu finden. Ich schwanke noch. Die meisten malen, spielen ein Instrument oder gehen Joggen. Es sind alles Dinge, für die man geduldig sein muss, und darin bin ich nicht gut. (Du kennst sicherlich noch die Geschichte aus Sölden.)
Ich habe wieder zugenommen, gerade so viel, dass ich mich noch nicht dafür hasse. Manchmal gehe ich am Nachmittag mit den anderen um den See. Da sind keine Bäume, die einen abschirmen könnten. Vielleicht haben sie sie absichtlich gerodet, um uns im Blick zu behalten. Der Weg wird dadurch plastischer, man sieht die Strecke, die man bereits zurückgelegt hat, und jene, die noch vor einem liegt, aber irgendwie denkt man dadurch zuviel nach über das Vergehen der Zeit.


01.05
Hallo Miri,

gestern hat es zum ersten Mal richtig gestürmt. Die Wolken sind ganz plötzlich aufgekommen. Ich glaube, es lag an den Bergen in der Nähe. Ich wäre gerne raus gegangen und hätte mich in den Regen gestellt. Als ich am Fenster des Aufenthaltsraums stand und nach draußen geschaut habe, dachte ich an einen Weltuntergang, und mir wurde ganz behaglich dabei, in einem hellen Raum zu sein und hinaus in die Dunkelheit zu starren, die wild wie das Innere einer Rassel getobt hat.
Langsam gewöhne ich mich an das Briefeschreiben. Ich glaube ich entwickele einen Stil dabei und erschrecke auch ein bisschen darüber, weil ich Angst habe, meine Worte wären dann weniger wahr (es ist manchmal, als würde ich mich verstellen.)
Mittlerweile geben sie mir mein Handy am Abend, um es zur Nacht hin wieder zu konfiszieren. Ich schaue mir die Profile der anderen aus der Schule auf Instagram an, aber schreibe ihnen nicht. Ich will nicht, dass sie Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.
Das Bild von dir hat mir gut getan. Ich musste dabei ans Freibad denken und kann selbst nicht wirklich sagen, warum.
Du musst mir nicht schreiben, wenn du keine Lust dazu hast.
Aber sag es mir dann, OK?

 

09.05
Hey Miri,

bist du meine Briefe schon leid geworden? Ich hoffe, dass ich dir nicht mehr lange schreiben muss, aber manchmal wird mir ganz schwer um die Brust, wenn ich daran denken muss, wie es für mich weitergehen soll. Hier habe ich mich ganz gut in meiner Routine eingerichtet, aber da draußen werde ich mich umgewöhnen müssen und momentan ist der Gedanke, dass sich alles ändern wird, ganz fürchterlich fest und spitz wie ein Nagel, der sich in nasses Holz bohrt.
Ich gehe inzwischen mit Sandro. Er nennt es so, weil auch er es war, der die Idee dazu gehabt hat. Eigentlich haben wir uns erst zweimal geküsst. Mehr geht nicht unter den Augen der Pflegerinnen. Nachts schleichen wir uns auf die Zimmer der anderen, rennen in Socken durch die Gänge wie früher auf den Klassenfahrten. Ich glaube, die Schwestern wissen darüber Bescheid, aber dulden, was wir als Rebellion empfinden. Sie sind letztlich wie gutmütige Tanten.
Sandros Vater ist Arzt in Rosenheim. Deswegen kennt er einige der Begriffe, mit denen sie uns zwar beschreiben, aber doch nicht verstehen können. Ich glaube nicht, dass das mit uns etwas Ernstes wird. Wir tun es nur aus der Gelegenheit heraus. Er hat gesagt, ich sei zu alt, um mir die Haare zu färben. Es hat mir gezeigt, dass er mich nicht versteht.

 

Tristan Weih
Geb. 1998 in Mannheim, wuchs in Ludwigshafen am Rhein auf. E-Mail: Tris.Lu@gmx.net

85/LitArena X/Siegertext 1. Platz: Helene Proißl: orangenhaut und knitterfotos

Helene Proißl
orangenhaut und knitterfotos

wo ist denn das schöne teeservice, das mit den handgemalten schnörkelblumen? du weißt schon.
oben im kasten, moment, da musst du an der tür ruckeln, damit der aufgeht.
sie reibt sich die hände, es wird wieder einmal groß aufgedeckt. ah, ich seh schon.
sie schaut dir zu, wie du an der kastentür rüttelst, lange vergeblich, dann hört sie auf hände zu reiben, kommt dir zu hilfe; warte, lass mich probieren, du musst das so nach oben, so, ich hab da schon meine methode.
du lässt los und schaust ihr zu, wie sie die kastentür überlistet. schau, da ist es, jetzt stellst du es am besten hier hin, dann steht es später nicht im weg.
du stellst es hier hin.
stellst dich an die wand und weißt nicht so recht, was du noch tun kannst.
zählst: speiseteller und suppenteller, salatschüsselchen,  dessertteller in der küche, vorlegebesteck, brotteler, ja auch, brotmesser, gabel, gabel, messer, messer, löffel, dessertgabel, dessertlöffel, glas, anderes glas, noch ein glas, wasserkrug etc. du hörst auf zu zählen, fixierst deinen blick an den staubigen gelkerzen im zimmereck, schraubst deine augen in dieses erstarrte aquarium, riechst auf einmal den eingangsbereich eines hotels, moderne stoffbezüge, gereinigten boden, blumen, hörst weit weg wasser plätschern von irgendeinem indoorbrunnen. dich stößt etwas. sie will vorbei, hat tee aufgegossen, du hast es gar nicht bemerkt. grüntee, zwei minuten, achtzig grad, aber es ist doch noch niemand da zum teetrinken, wunderst du dich. du wunderst, der tee dampft, du greifst zum handy und machst ein foto vom schönen tischgedeck, so schön ist es hergerichtet, in der küche riecht es nach angebratenen zwiebeln.
sie kommt mit einer blumenvase herein und schafft es, sie zwischen der ganzen geschirrflut auf dem tisch unterzubringen. jetzt stehen palmen auf dem tisch, denkst du, schöne palmen, duftepalmen in ein paar zentimetern wasser, es riecht exotisch hier, du setzt die sonnenbrille auf und tanzt einmal um den tisch, ravest kurz, dass die kristallgläser im schrank wackeln, das gute hochzeitsservice hüpft, natürlich nur in deinen gedanken, denn in wirklichkeit wurzelst du an ort und stelle, palmst nicht nach oben, sondern bleibst verhaftet, während sie den zwiebelgeruch ins esszimmer trägt und gleich darauf butter, buttergeruch, brutzelbutter, wie riecht das, du kannst es nicht beschreiben, jedenfalls kommt jetzt brutzelbutter herein, die um irgendetwas herumzischt, ein stück fleisch oder gemüse. ein klassiker, sagt sie, aber du hörst es gar nicht, bist viel zu sehr mit deinem inneren rave beschäftigt, überall blitzen die lichter.
hilfst du mir beim anrichten, unterbricht sie dich. du setzt deine sonnenbrille ab und hilfst ihr beim anrichten, richtest große portionen an, achtmal, bist ungeschickt, stellst dich an, stellst nichts an, bleibst brav, ravest nur innerlich im bauch noch weiter.
wie auf bali sein und sich mit farben beschmieren, einen untersetzer holen, hände in die höhe, das besteck zurechtrücken, es dampft, ist es die nebelmaschine oder das essen. sie rückt noch stühle zurecht, ohne hinzusehen völlig präzise, als würde sie den ganzen tag nichts anderes machen, als stuhlschiebeproben.
ihr setzt euch, könnt ja zumindest schon einen aperitiv nehmen, wenn alle zu spät kommen. prosecco, campari, spritzer, alles da, nur keine bescheidenheit, wünsch dir, was du möchtest. du nimmst einen wodka soda mit einer scheibe zitrone, um sie nicht zu enttäuschen, weil du eigentlich kaum trinkst. nach ein paar schlucken spürst du die wärme in dir, bist schon fast am strand, schaust die tischpalmen an und blinzelst einmal, lässt die augen kurz zu, das bild hallt nach, blinzelst noch einmal, wieder die augen geschlossen, das bild nachhallen lassen, es ist wie ohne kamera fotos machen, die sofort wieder verblassen, zärtlichkeiten. ihr stoßt an, irgendwie umständlich über den tisch gebeugt, über den dampfenden speisen und es ist noch immer keiner da.
mitten im essen springst du auf, musst in die kästen schauen, suchst nach den gästen, ob sie sich versteckt haben, reißt kastentüren auf, fronten ein, findest alte familienportraits mit zerlaufenem batikhintergrund. ihr sitzt auf der couch. du lässt dir bilder erklären, reisefotografien, jordanien, sizilien, ägypten, sie ist sehr genau in ihren ausführungen, führt dich an orte, die es so nur auf dem bild gibt.
ihr verortet euch in den bildern, verliert euch auf dieser durchgesessenen ledercouch, die du nicht zuordnen kannst zu der wohnung, und noch immer hat niemand geläutet. gerade seid ihr in italien, du erkennst verbrutzelte rücken am strand, haarige muttermale, den beginn einer arschfalte, zerknitterte hochglanzmagazine in den sand eingegraben. oftmals fremde fingerkuppen an der rechten oberen bildecke, irgendwer hat da beim schießen nicht gut aufgepasst und sich selber mitgeschossen, sich selber an den strand geschossen, da sind sie alle erlegen, schön eingecremt, die glänzenden ärsche zum himmel gestreckt.
sie wetzt auf der couch hin und her, wirkt ungeduldig, will zeit überbrücken mit ihrem einzigen gast, der sowieso so oft da ist, schon fast nicht mehr gast ist. aber heute ist eine gästliche stimmung, es müssen ordnung und unterhaltung abgehalten werden und so hält sie dich am sofa fest mit femden erinnerungen, die sich seltsamerweise in deinen kopf setzen als wären es  deine eigenen, als wäre es deine arschfalte am strand.
draußen regnet es, vielleicht sind alle gäste davongetragen worden von einer welle, von der innenstadt in den randbezirk, randnotiz, niemand hat's bemerkt. und jetzt schweigt die glocke, der summer singt nicht: vierter stock, ohne lift, kommt rauf, es ist gedeckt, jetzt wird gespeist im engen zimmer, dicht aneinander, gibst du mir die sauce, reichst du sie mir, danke, wunderbar, nur einen klecks, nicht zu viel, nachnehmen kann man ja immer. als nachspeise esst ihr fruchtsalat aus einer großen schüssel, ihr hievt große schöpfer voller süße in kleine porzellanschalen. dann trinkt ihr kaffee. der tee zieht noch, die zwei minuten längst um, aber sie beharrt darauf, das sieb nicht zu entfernen, erst wenn die gäste kommen. sie füllt dir eine ordentliche portion fruchtsalat in einen plastikbehälter, aber du sollst auf keinen fall noch gehen. mit der kaffeetasse in der hand gehst du durch die wohnung und schaust dir jeden platzteller, jede porzellangemalte blume genau an. die palme auf dem tisch setzt dich in den dschungel, überall erkennst du blumenmuster auf dem geschirr, das du beäugst. so touristest du dich in einer
so vertraut fremden wohnung von zimmer zu zimmer, während sie in der küche herumsteht.
dann kommt sie zu dir ins wohnzimmer, wo du gerade platten anschaust und erzählt dir eine geschichte zu jeder der platten, die du in die hand nimmst. neunzehnhundertirgendwas und da war sie und es war toll und du hast schon wieder bilder im kopf, die du nie gesehen – du steigst in ein erzähltes leben, das dir durch dinge und bilder einverleibt wird, eine neue serie von erlebtem, in die du dich erst fügen musst. irgendwie bist du süchtig und musst immer neue dinge in die hand nehmen, nicht nur mehr anschauen, du musst sie angreifen, durchgreifen, alles fühlen, fremdes leben zu dir holen, es langsam spüren, in die serie schlüpfen; gut ausgepolstert ist sie, noch alles im probiermodus. deine hände schwitzen und sie zeigt dir wieder fotos, gibt dir jedes einzeln in die hand, dir glitschen sie durch die finger, gerade dass du auf die urlaubigen fotos nicht noch mehr salzwasser tropfst, als ohnehin schon auf den meisten vorhanden ist. du schüttest ein paar tropfen deines kaffees aus, dein porzellan kippt, die tropfen fallen auf den teppich (aus ägypten, gekauft wann, zweitausenirgendwas), die beigen härchen färben sich braun, entschuldigung. die fotos wirken sonnengebleicht, die wohnung ist dunkel, es wird abend, die braunen massivholzschränke verdunkeln das zimmer zusätzlich, der kaffeefleck trocknet usw.
du bist ganz ins andere leben übergegangen, das für dich zurechterzählt wurde, du fühlst deine orangenhaut wie sie braun wird, wie sie goldbraun wird, butter im sand, sandige butter auf der zunge, die zehen feucht vom meer, kaffeemeer.
sie wärmt nochmal das essen auf, die speisen, bis zweiundzwanzig uhr wird sie noch warten mit dem abräumen, wenn dann keiner kommt, selber schuld, es ist schließlich alles köstlich.
du bist in fotos eingegraben auf dem fastbeigen teppich und bräunst dich brutzelbuttrig. aus der küche dringen schläge, schlagobers für einen letzten kaffee aus den edlen tassen, vielleicht mit einem tröpfchen likör, einem tröpfchen rum, einem tröpfchen für den teppich, der tee zieht ins unermessliche.
um punkt zweiundzwanzig uhr wird abgeräumt, zugedeckt, eine alufoliendecke ausgebreitet, der kühlschrank befüllt, die leeren teller gestapelt und zur eingangstüre gestellt, es folgen vorlegebesteck, brotmesser, gabel, gabel, messer, messer, löffel, dessertgabel, dessertlöffel, glas, anderes glas, noch ein glas, wasserkrug etc.
du hast einen sonnenbrand, siehst  verschrumpelt aus, wirst heute einfach da schlafen. du machst es dir auf dem sofa bequem und schläfst ein, mit neuen erinnerungen im kopf und im fernsehen läuft ein naturfilm.
in der früh wirst du geweckt von einem lauten klirren.
wie wenn die müllabfuhr den glascontainer leert, aber es klingt eine spur dunkler, nicht so kreischend. du schaust aus dem fenster und siehst unten einen müllwagen, davor der stapel von eurem geschirr, dem guten service, dem guten porzellan. nacheinander werden teile ins fahrzeuginnere geleert, wo alles zerschellt.
dein bildfeld knittert, die fotos auf dem teppich sind bleich, deine bräune ist verschwunden. die geschirrabfuhr zerreist etwas, reißt weg, und reist weg, irgendwohin, wo sie dann ausfranst und die bildränder unscharf werden.
dein knittriger blick trägt sandkörner, du reibst dir denschlaf aus den augen.
wohin reisen, wenn es nichts mehr gibt? du weckst sieund sie erzählt dir von ihrem traum.

Helene Proißl
Geb.1996 in Wien. Studiert Germanistik an der Universität Wien, schreibt Lyrik und Prosa. 2020 Förderpreis der Marktgemeinde Hard, Vorarlberg. E-Mail: helene.proissl@gmail.com

85/LitArena X/Wettbewerbsbericht

LitArena X 2021
Wettbewerbsbericht


Zwischen Rückzug und der Suche nach einem Neubeginn
Weit über achtzig Einsendungen erreichten uns für die LitArena X 2021, darunter Prosa – und Lyriktexte. Aus dem Konvolut der Beiträge wählten die Juror*innen Harald Darer, Petra Nagenkögel und Cornelia Stahl die besten aus.
Platz 1 ging an die Wienerin Helene Proißl mit dem Beitrag „Orangenhaut und Knitterfotos“, den 2. Platz errang der Ludwigshafener Tristan Weih mit der Geschichte „Briefe vom See“. Den 3. Platz belegte die Niederösterreicherin Bernadette Sarman mit ihrem lyrischen Prosatext „Herz und Seele“.

Während Kontakte in der Zeit der Pandemie insbesondere zur älteren Generation reglementiert wurden und alle Beteiligten unter dem Zustand der erzwungenen Distanz litten, schrieb die Germanistikstudentin Helene Proißl den Text „Orangenhaut und Knitterfotos“, in dem es endlich wieder um Annäherung geht.
Ein Beitrag, der die Begegnung zweier Frauen aus unterschiedlichen Generationen in den Fokus nimmt. Ein gemeinsames, festliches Aufdecken des Tisches in Erwartung zahlreicher Gäste, Familienbesuch vielleicht. Mit dem besonderen Öffnen des alten Kastens nimmt die Geschichte ihren Lauf, gewinnt nach und nach an Tempo und nimmt Fahrt auf.
Zaghaftes Ertasten der Umgebung und der achtsame Umgang mit wertvollem Geschirr stehen metaphorisch für den respektvollen Umgang miteinander. Ein gemeinsames Betrachten von Fotos zurückliegender Reisen verbindet: „ihr verortet euch in den bildern, verliert euch auf dieser durchgesessenen ledercouch, die du nicht zuordnen kannst zu der wohnung, und noch immer hat niemand geläutet“. Der Familienbesuch bleibt aus. Melancholie grundiert den Subtext, fungiert als Hintergrundfolie. Doch Rettung lauert überall.
Die Annäherung der beiden weiblichen Figuren, geprägt von Neugier und Interesse, spiegelt sich im Text: „du steigst in ein erzähltes leben, das dir durch dinge und bilder einverleibt wird“. Erfahrungen aus zweiter Hand werden möglich durch wechselseitige Zuwendung und aufmerksames Zuhören. Am Ende verdichten sich die Handlungsstränge. Es kracht und poltert, kostbares Porzellan zerschellt im Müll. Wird das geknüpfte Band weiblicher Zusammengehörigkeit weiterhin halten? Lassen Sie sich vom Ende des Textes und von Helene Proißl überraschen!

Die Geschichte „Briefe vom See“ von Weih Tristan hätte gut in die Onlineklasse „Ohne Netz“ (sfd- Schule für Dichtung, Wien, geleitet von Heinrich Steinfest) gepasst. Der agierende Protagonist sieht sich während eines Spitalaufenthaltes gezwungen, ohne Smartphone auszukommen. Ein Therapeut rät ihm, Briefe zu schreiben, an irgendjemand. Nur die Kranken schreiben noch Briefe, entgegnet dieser resignierend. Nein, es sind nicht „Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“, wie sie Christine Lavant Anfang der 1950er Jahre dokumentierte. Dennoch gleicht die Geschichte „Briefe vom See“ mitunter Lavants Texten, etwa in der Frage an die Schriftstellerkollegin Christine Busta „Hast du meine Aufzeichnungen erhalten?“ In Weih Tristans Beitrag, der dramaturgisch exzellent durchkomponiert ist, blicken wir hinter die Fassade des Verfassers, der mit seinen Briefen Kontakte zu Miri aufnimmt, sich gleichzeitig nicht aufdrängen möchte: Du musst mir nicht schreiben, wenn du keine Lust dazu hast. Aber sag es mir dann, OK? Und an anderer Stelle: Hey Miri, bist du meine Briefe schon leid geworden?
Der stete Versuch, gedanklich und physisch dem Krankenhausalltag zu entfliehen und Kontakte zur Außenwelt herzustellen, sind Ausdruck einer inneren Verlassenheit, begleitet von dem existenziellen Bedürfnis des Menschen nach Nähe und Zugehörigkeit.

Verbundenheit und Fragilität durchdringen Bernadette Sarmans lyrischen Prosatext „Herz und Seele“. Der Wunsch nach Begegnung und Interaktion zeigt sich in der Aufforderung „Nimm meine Hand“. Er schließt Bitte, Forderung und Sehnsucht ein. Sarman erzählt von Beziehungsgeflechten, die mühsam und sorgfältig geknüpft, in den Folgejahren erodieren und Schmerzhaftes hinterlassen: Der Schmerz von damals schmeckt jetzt nach Gelerntem, an schlechten Tagen nach Reue.
Das lyrische Ich strauchelt. Innere Monologe spiegeln die innere Verfasstheit des Individuums, Gefühle, die den steigenden und fallenden Amplituden eines Herzfrequenzmessers gleichen. Sie implizieren die Sehnsucht nach einem Ort, der Halt bietet, an dem man sich festhalten kann wie an einem Geländer (Wisława Szymborska): Fühle mich wie ein Strohhalm, undurchsichtig fallen meine Gefühle auf und ab.

Die Folgen familiärer Muster skizziert die Berlinerin Antonia Hildebrandt in ihrem Text „Zebra-Antwort“. Übertriebene Reinlichkeit, ob vor, während oder nach der Pandemie, verunmöglicht Kontakte aufzubauen und liebevolle Beziehungen zum anderen Geschlecht zu pflegen.
Die erst sechzehnjährige deutsche Autorin Sophie Mrotzeck setzt sich in ihrer Geschichte „Das, was mich loslässt“ mit weiblicher Obdachlosigkeit auseinander, stellt wie Helene Proißl zwei Frauen einander gegenüber, zwei mögliche Spiegel der Realität. Der Text erzählt von Obdachlosigkeit als Facette des öffentlichen Lebens, die mitunter während der Pandemie aus dem Blickfeld unserer Wahrnehmungen geraten ist. Mrotzeck entwirft ein fiktives Szenario an Begegnungen, welches erschreckend authentisch den gegenwärtigen Alltag streift und sich in ein Gegenüber hineinversetzt. Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit als Auswirkungen der Pandemie. Ein politisch-poetischer Text, der sich an den Auswüchsen kapitalistischer Gegenwart reibt.
Auch in den Lyrikbeiträgen liegt das Augenmerk auf den Reibungsflächen menschlichen Miteinanders in einer von Krisen und Unsicherheit geprägten Gegenwart. Die Wienerin Konstantina Hornek hat mit ihrem Beitrag „Regie der Zeit“ darauf aufmerksam gemacht, wie unser Alltagshandeln von außen durch Anweisungen reglementiert wird: 15 bis 20 Minuten. Eine längere Pause steht ihr nicht zu. Ein Hinweis für den sorgsamen Umgang mit der wertvollsten Ressource, unserer Zeit. Einmal verbraucht oder verloren, gilt sie als unwiederbringlich. Zeit und Zuwendung als Brückenfunktion in unserem Alltag. Ein Grund zum Aufatmen, da Begegnungen (zum Teil mit Maske) nun wieder möglich sind. Neben Digitaler Dominanz ist unser Menschsein erneut gefragt, wenn es um ein solidarisches Miteinander und die gemeinsame Bewältigung von Krisen geht.

Mit Michel Foucault möchte ich enden und allen Autor*innen danken, die zum Gelingen dieses Heft beigetragen haben. Foucault betont in „Zur Genealogie der Ethik“ die Bedeutung der Kunst und die des Individuums:
„Daß Kunst etwas Gesondertes ist, das von Experten, nämlich Künstlern gemacht wird. Aber könnte nicht das Leben eines jeden ein Kunstwerk werden? Warum sollte die Lampe oder das Haus ein Kunstgegenstand sein, nicht aber unser Leben?“ (aus: Michel Foucault: „Zur Genealogie der Ethik“ in: Hubert Dreyfus und Paul Rabinow Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. 1982/ Zitat Ausgabe 1987).
Cornelia Stahl

 

Cornelia Stahl
Studierte Soziologie/Sozialökonomie (Hamburg), Deutsch und Evangelische Religion (Wien). Sie ist Radiojournalistin der Sendung Literaturfenster Österreich beim Freien Radio Orange, arbeitet als Lehrerin, Bibliothekarin und Rezensentin für bn-Bibliotheksnachrichten Salzburg, schreibt für Die Alternative, AUGUSTIN und etcetera. „Ohne Netz“, sfd- Schule für Dichtung, 2021.

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