63/Alles Theater/Lyrik: Thomas Schafferer: Theater, Herbst, Frau, u.a
theater, herbst, frau
fahre mit dem fahrrad durch scherbenglas
unsere lippen berühren sich nicht, doch
unsere hände, trinke alkohol gegen die
verkühlung, beende einen vollkommen
politischen film auf meine weise, höre der
dichterin zu, doch schlafe ein, weiß ihren
namen vorher schon nicht mehr, langweile
mich im theater, dem schauspiel fehlt
hand und fuß, der letzte tag des monats
ist diesmal weltspartag, den schlaf muss
ich mir heute stehlen, weiß nicht wie lange
eine frau und ich zusammen, hoffe kein
leben, hoffe gute, nicht zu lange, doch
schöne zeit, alles möge sich ungeplant
ergeben, ergebe mich nicht
gefallener held
vor 2500 jahren saßen leute im theater, wie heute
die glocke verkündet das ende des einlasses
läutet das ein, das ich mir seit monaten, seit
jahren erhofft hatte, denn einer betritt die bühne
einer taucht auf, wie ein fabelwesen im zwielicht
einer magischen nacht, eine legende betritt
außergewöhnliche stunden meines lebens, einer
steht augenblicklich vor mir, nur zehn meter von
mir entfernt, im theater von namur, an einem
abend, der großen frauen gewidmet ist, großen
frauen der antike, und einer flüstert, schreit, singt
einer schüttelt sophokles durch die rockmaschine
einer, den man den gefallenen helden von
frankreich nennen könnte, der fünf stunden lang
vor meinen augen agiert, als wäre es eine
alltägliche angelegenheit, einer, der mich berührt
fasziniert, wie selten ein anderer, einer, der von
vielen mörder genannt wird, einer, der seine frau
erschlagen hat, heimst standing ovations ein, im
goldenen rund, schier unaufhörlichen applaus
bis auch er lächelt, bertrand cantat
rocksänger der poesie
schleiche mich hinter die kulissen, mische
mich ins schauspielergeplänkel, ins
wirklich echte unechtsein, in die rigorose
übertreibung, ins durchgeknalltsein im
ballsaal des fin de siècle, als rocksänger
der poesie raste ich am roten samtfauteuil
der belle époque, um zeit zu überbrücken
um durchhaltevermögen und sitzfleisch
zu beweisen, um mich weiterzuentwickeln
um zu begreifen, um zu sehen und zu
lernen im großen, im ganzen von den
künstlern einer reichen, intelligenten
mannigfaltigen kulturellen zone, als ich
text auf ein überschüssiges, überflüssiges
stück papier schmiere, im abwarten und
biertrinken, als ich kritzelnd dichte
jupilierend mich berausche im théâtre
royal von namur
nicht nur mephisto (9/9/99)
viermal die neun und ich bin mephisto, für
einen abend, spreche worte von der
bühne eines theaters, am rande der stadt
flugzeuge landen nebenan, wenn alle
worte gesprochen sind, fahre ich mit dem
fahrrad quer durch die stadt und bin
glücklich, doch noch ist nicht herbst und
vielleicht überkommt mich noch eine
sommernacht, denn ich hatte jene frau
gesehen, sie trägt die haare violett
geschnürte stiefel bis zur hüfte, denke an
sie, als ich durch die straßen fahre
warm umhüllt, vom gelben, fettigen licht
der schaufenster, und ich liebe die
menschen, esse etwas schnelles, fahre
mit dem schnellzug, spielte, war, nicht
nur mephisto, war auch die anderen
zum ersten mal, zum ersten mal hatte ich
heute die worte aus mir gesprochen
nicht gelesen, gesprochen und alles
scheint machbar, auf und abseits der
bühne
Thomas Schafferer
Geb. 1973 in Innsbruck, Studium der Politikwissenschaft und Publizistik. Begründer und Mitherausgeber des Tiroler Literaturmagazins Cognac & Biskotten. Lebt in Innsbruck und Pfons.