82 / Zwischenzeit / Lyrik / Karl Drechsler-Mörwald: Sonnenaufgang / wie Sand / wie wird es sein / gefangen / gezeugt

Sonnenaufgang Hoffnungsschimmer
auch ein Tag kann wie ein Leben sein
am Morgen Zukunft ohne Grenzen
alle Möglichkeiten stehen offen
ob du diese Chance auch nützt
bis Mittag solltest du es wissen
ab dann zerrinnt dir deine Zeit
du willst die Mauern durchstoßen
aber ausbrechen kann man nicht
unser Leben bleibt in Schranken
könnte es nicht so weiter gehen
warum wird es immer wieder Abend
Fragen die ich nicht klären kann
unerbittlich folgt der Sonnenuntergang
unerklärliches Leben
von der Zeugung
bis final zum Tod
eine Abfolge von Zufällen
Abflug ins Ungewisse
Ankunft im Ungewissen
dazwischen ist alles offen
nur das Ziel ist vorgegeben
was aber die Frage nicht klärt
wozu das alles

 

wie Sand in der Wüste durch Finger rinnt
sich nicht auf Dauer festhalten lässt
so läuft deine persönliche Zeit ab
vom Anfang bis zu deinem Ende
von der Geburt bis zum Tod
unerbittlich ist ihr Entschwinden
du kannst sie nicht bremsen nicht halten
unaufhörlich entgleitet dir deine Zeit
wie in einer Sanduhr stets gefangen
durch eine gläserne Wand geschützt
es gibt keine Pause auch kein zurück
du kannst die Zeit nicht umdrehen
nur hilflos zusehen wie sie abrinnt
bis dir keine Zeit mehr bleibt

 

wie wird es sein wenn es soweit ist
ein schmerzhafter letaler Unfall
Herzinfarkt oder Sekundentod
plötzlicher Kreislaufzusammenbruch
Organversagen bei einer Operation
vielleicht die klassische Variante
friedlich in einem Bett wegdämmern
zu Hause oder eher doch im Spital
vollgepumpt mit Schmerzmittel
die Umgebung wird undeutlicher
alles umher verblasst nach und nach
wenn man Dinge zum letzten Mal sieht
werden sie dann alle interessant
bleiben sie gleichgültig wie vorher
oder sieht man Lieblingswände
voll mit Tausenden von Büchern
auch wenn sie gar nicht da sind
allein in einem Raum oder doch
mit Verwandten rund ums Bett
ein stiller Abschied für immer
fragt man was nachher sein wird
siegt die Neugierde wie bei Werner
der selbst hinüber gegangen ist
oder ist es egal wie`s weitergeht
Ralph hat nur gefragt war es das
dann schlief er für immer friedlich ein
aus ist aus oder vielleicht doch Übertritt
in eine unbekannte verborgene Welt
die Lebende nicht erahnen können
war alles von der Geburt bis zum Tod
nur eine Zwischenzeit

 

gefangen in der Zeit
den Ablauf bremsen
die Dauer verlängern
die Richtung ändern
Jahrzehnte zurück
alles läuft noch einmal
wie oft kann das gehen
ein Geschenk erzwingen
Herr über Leben und Tod
könnte jeder frei entscheiden
keiner würde abtreten
gibt es eine zweite Chance
ist alles vom Anfang bis
zum Ende nur Zwischenzeit
gibt es Asyl in der Zeit
sie schweigt unerbittlich
verweigert jeden Kontakt
wir gefangen in der Zeit

 

gezeugt in der Liebe der Eltern
geboren nach dem Tod des Vaters
der Wahnsinn forderte seine Opfer
Kriegerwitwe mit zwei Kindern
erzogen allein von der Mutter
mit tatkräftiger Hilfe ihrer Eltern
von den anderen Großeltern
hörte man all die Jahre nichts
viel war nicht da aber dennoch
eine sorgenfreie schöne Jugend
Leben und Dasein waren zu entdecken
Schule Matura Ausbildung Beruf
Heirat selbst Sorge um das Kind
beruflicher Erfolg und Aufstieg
etliche Dienstreisen in alle Welt
noch ein gemeinsames Studium
dann Entfremdung und Scheidung
es gibt doch ein zweites Glück
drei Kinder Beginn von vorne
alles entwickelt sich prächtig
im wohlverdienten Ruhestand
Zeit für Freude an der Familie
Zeit für die Zukunft der Kinder
wie schön kann die Welt sein
schließlich die Diagnose Krebs
ein ganz normales Leben

 

Karl Drechsler-Mörwald
Geb.1944 in Wien, Matura, Ausbildung zum Reporter und Redakteur, mehr als 40 Jahre Journalist in Wien, Linz und Salzburg, nebenberufliches Studium der Rechte und der Sozialwirtschaft an der Universität Linz, pensionierter Chefredakteur, lebt in Obertrum am See (Salzburg), literarische Veröffentlichungen in Kulturmagazinen, Zeitschriften, Anthologien und online.
drechsler-moerwald@a1.net