93 / Wirklich/Unwirklich / Lyrik / Marián Hatala: nach dem besuch

(vor der wende im november 1989)

wieder besäufst du dich mit leben
du hast eine blaue zeit
den ganzen tag über
machst du nicht einen einzigen strich
obwohl du immer so nah an einem gedicht bist
alles lachen hast du schon herausgelacht
alle tränen herausgeweint
und mit dem was übriggeblieben ist
lebst du UNWIRKLICH
und auch unbelehrt von der eigenen krisenentwicklung
allein wie ein finger
wenn auf dir ein trauernagel wächst
und du nicht weißt ob schrein oder nicht sein
und ich nicht weiß wie häufiger kommen
               wie weniger fortgehn
aus deinem zweizimmerimprovisorium
in dem du lebst improvisiert
               und provisorisch
mit einer frau die nichts davon weiß
dass du mit ihr lebst
mit einem sohn
von dem du dir die blechtrommel nahmst
und unerhört trommelst
all dein elend

du trommelst ein wahnsinnssolo
und hörst nicht dass
der welt das trommelfell platzte
du retardierst
und dein sohn kommt zu dir gelaufen
und sagt
               papa was hast du denn da gemacht?
               du kannst WIRKLICH nicht spielen!

 

Marián Hatala
Geb. 1958, lebt als Journalist, Dichter, Übersetzer und Herausgeber in Bratislava; auf Slowakisch erschienen mehrere Bände mit Lyrik und Prosa; in Österreich sind zwei Bände mit Gedichten erhältlich „Zum Greifen weit“ (2006) und „Die Fußstapfen auf meiner Zimmerdecke (2020).