Norbert Leitgeb: progressiv texten

Norbert Leitgeb
progressiv texten


Zum Meister kam ein Reim-Adept
und bat ihn um ein Schreibrezept.
„Mein Sohn“, sprach dieser zu ihm barsch,
„dem Volk geht Lyrik an den Geist,
doch wenn, dann reime grob und harsch,
sei hemmungslos direkt und dreist!“

„Auf jeden Fall, schreib ja nicht schön,
sondern frivol, möglichst obszön!
Das Schamlose macht Leser heiß,
denn brave Texte sind ein Schund.
Verschwende darauf keinen Schweiß,
schreib wie ein geiler Schweinehund!“

„Doch wenn dir Schlüpfriges nicht steht,
sei unverständlich, wie ’s nur geht,
nur ja nicht klar und explizit!
Verständlichkeit ist doch ein Schlick.
Teil, was du willst, doch dich nicht mit.
Wer nichts versteht, übt nicht Kritik.“

„Auf noch was schau, was das betrifft:
Sei progressiv auch in der Schrift!
Schreib alle Hauptwörter stets klein,
und weil Struktur nicht trendig ist,
lass auch noch Punkt und Komma sein!
Ein Dichter ist kein Germanist!“

Der Schüler tat, wie ihm geheißen
und wurde überhäuft mit Preisen!
Am Sinngehalt des Texts jedoch
rätseln die Leser immer noch ...

 

Norbert Leitgeb
In Klagenfurt geboren und in Graz lebend, Univ.-Prof. i. R., Autor und Gitarrist, schreibt neben Sachbüchern, Fachbuchkapitel und Fachartikel unterhaltsam-kritische Gedichte, Essays und Kurzgeschichten, die in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen, dazu 21 Monografien, darunter drei Jugendbücher.