41 / Prosa: Der Geist von Unna: Egyd Gstättner
Egyd Gstättner
Der Geist von Unna
Aus meinem versiegelten Tagebuch Ein herrlicher Start, ein herrlicher Flug. Ein Schwenk, und dann der Wörthersee hoch oben, noch höher der Ossiacher See, der Millstätter See, da hinten, das muß das Drautal sein, und da unten das Mölltal, der da muß der Glockner sein. Noch am ersten Mai sind alle Gipfel angezuckert. Von hier oben schauen die Alpen wie eine Salzburger-Nockerl-Wüste aus. Ein prächtiges Bild! Solche Heimatkunde lob ich mir! Jeden Tag möchte ich im Himmel sein. Na gut, am Himmel. Heute ist die Sicht sonnenklar, und die Alpen hören überraschend auch nach Salzburg nicht auf, weil wir nicht in Richtung Nürnberg oder Stuttgart weiterfliegen, sondern Kurs entlang der Nordkette nehmen, sodaß sich die Grenze zwischen Tirol und Bayern, zwischen Österreich und Deutschland tief unter uns dahinzieht. Und da kommt auch schon ein großer graublauer Fleck ins Gesichtsfeld: Tatsächlich! Der Bodensee! Der Pfänder! Bregenz. Lindau. Konstanz. Die Heimat des lieben Augustin! Wie hübsch! Und wie majestätisch sich von hier oben gesehen die Rheintalautobahn durchs Rheintal schlängelt! Seltsam ist bloß, daß die Rheintalautobahn direkt in den Bodensee mündet. Zu ebener Erde ist mir das nie so aufgefallen. Wenn da bloß ein Unglück geschieht! Es passiert aber keine Verkehrstragödie, und des Rätsels billige Lösung lautet: Das ist gar nicht die Rheintalautobahn. Das ist der Rhein!
Wir landen in Köln. Dann geht es mit dem Zug weiter durch Wuppertal, Oberbarm, Schelm, Hundhausen und Hagen nach Unna ein paar Kilometer nördlich von Dortmund: Ein nettes Städtchen mit vielen Fachwerkhäusern und einem Senfspezialitätenladen mit über 300 verschiedenen Senfsorten, zum Beispiel Maronisenf. An die Fenster mancher Fachwerkhäuser sind Fachwerkvogelhäuser montiert. Schräge Vögel sind das hier! Auf einer Hauswand steht in Riesenlettern WIR SIND METROPOLE. Das ist lustig. Aber wirklich ist Unna Europäische Kulturhauptstadt 2010, nicht allein natürlich, sondern im Verbund mit Essen und dem gesamten Ruhrgebiet. Unna zelebriert jetzt innerhalb des Glocal Heroes Year gerade die Local Heroes Week – und dazu gehört die Literaten-Fußball-Europameisterschaft.
Aus allen Teilen unseres schönen Landes sind die spielenden Schriftsteller angereist, aus Innsbruck, aus Graz und die meisten natürlich aus Wien, die einen mit dem Zug, die anderen mit dem Flugzeug, jetzt treffen sie sich hier zur Bruderkussorgie im Katharinenhof, dem Mannschaftshotel. Der deutsche Tormann Albert Ostermaier sagt bei der Eröffnung, für einen über vierzig Jahre alten Mann sei eine Schriftstellerexistenz und die Einberufung in die Autonama, die Autorennationalmannschaft, die einzige Möglichkeit, jemals ein Nationaltrikot überzustreifen. Alle Nationen treten übrigens wirklich in den Original-Nationaldressen mit Wappen und pipapo an. Nur auf unseren Shirts fehlt der Bundesadler, und statt „Österreich“ steht auf der Brust „Kelag“. Land am Strome aus dem Bundeslande. In unserem Beruf braucht man als Nationalspieler viel Fantasie. Nach der Eröffnung die Auslosung: Die größten, stolzesten Nationen des Kontinents sind nach Unna gekommen, und uns, der Austroautonama, werden prompt die größten der Großen und die stolzesten der Stolzen zugelost: die Schweden, die Weltmeister sind, die Türken und die Engländer. (In der anderen Gruppe spielen die Deutschen, die Italiener und die Ungarn).
Mein persönliches Ziel ist es, ungeschoren und unverletzt davonzukommen und gegen niemanden zweistellig zu verlieren. Ich selbst bin mit meinen 48 Jahren mittlerweile leider zu fett, zu unbeweglich und behäbig, um ein Spiel an mich reißen zu können. Ich schaffe es beim besten Willen nicht, gutes Essen und Abnehmen miteinander zu vereinbaren. Ein österreichisches Schicksal. Und ein paar einer fußballspielenden Schreibkollegen können ganz einfach nicht Fußball spielen. Zwar versuchen sie diese unerfreuliche Tatsache mit großem Ehrgeiz und manchmal noch größerem rhetorischen Aufwand zu kaschieren und zu verheimlichen, und es muß etwas zwischen Höflichkeit, Freundlichkeit und Wurschtigkeit sein, daß man die Inkompetenz untereinander durchgehen lässt und den Willen des jeweils anderen fürs Werk nimmt. Unser legendärer Coach, der große Willi Kaipel, war vorsichtshalber gleich auf Krücken erschienen.
Statt der Nationalhymne summe ich vor dem Anpfiff mein Fußballgedicht:
Fürs Vaterland ein Gurkerl schieben,
das macht mir großen Spaß.
Fürs Vaterland die Knochen brechen?
Das wär dann nicht so klass.
Trotzdem erreichen wir das Ziel, das ich mir gesteckt habe, souverän. Das durchaus akzeptable 0:5 gegen die hünenhaften Schweden hätte sogar noch niedriger ausfallen können, da der Ball gleich bei drei Treffern die Torlinie im Schritttempo zu passieren sich erlaubte, und wäre Kaipel noch selbst zwischen den Pfosten gestanden, hätte er die Bälle wohl mit seinen Krücken arretieren können. Aber dazu hätte er halt vorher ein Buch schreiben müssen. Absoluter Höhepunkt des Spiels war aber, daß mir der schwedische Verteidiger Pontus Lindt, der Hünenhafteste der Hünenhaften, beim Begrüßungsabschreiten ein Döschen Kronan Svenskt Snus (Original Portion) zum Geschenk machte. Als Beweis, daß ich nicht schwindle, hier ein bisschen Schwedisch: „Denna tobaksvara kann skada din hälsa och är beroendeframkallande.“ Danke, Pontus, ich werde darauf zurückkommen, falls es mir gelingt, dieses geheimnisvolle Döschen in die Heimat zurückgekehrt irgendwie zu öffnen, und falls sich darin eine Gebrauchsanweisung findet, die nicht bloß auf Schwedisch geschrieben ist. Der arme gelbblaue Hüne mit dem Beckham-Gesicht, zehn Jahre jünger und dreißig Kilo leichter als ich, der sozusagen noch seine ganze Literatur vor sich hat, quält sich fortan mit einer Arthritis durch das Turnier.
Dem undramatischen Debakelchen folgte ein geradezu niedliches 0:2 gegen die lustigen Türken und dann – Trara! Trara! Ladies & Gentlemen! – spielten wir gegen England! Gegen das Empire! Gegen die Queen! Trommelwirbel! Noch mehr Trommelwirbel! Da waren sie in ihren lilienweißen Trikots, die Conan Doyles von heute. Andere Menschen! Das muß man wirklich sagen: Andere Menschen! Und sie hatten nicht mehr oder weniger als the defeat of the Austrian Armada im Sinn! Noch nie in meinem Leben habe ich gegen eine Mannschaft gespielt, die sich vom Anpfiff an so lautstark aufgeputscht und ohne Unterbrechung mit sich selbst unterhalten hätte. Der Stopper, der auch Kapitän ist, ruft von hinten aus der Verteidigung nach vorne: „England, let`s win this kick!“ „Come on, England!“ oder „England, relax!“ Interessanterweise heißt jeder einzelne der elf gegnerischen Spieler am Platz “England”, sodaß jeder jeden mit “England” anspricht. „England, look left!”, “England, come back!” “England, go forward!” England, England, England. Das kann schon einmal zu Verwechslungen führen. Sich selbst feuern die Briten also die ganze Zeit an. Ihren Gegner ignorieren sie komplett, behandeln ihn wie Luft und gehen dementsprechend hochnäsig und hart an den Mann. Nur wenn der Gegner (Clemens Berger) auch einmal hart an den Mann geht, sagen sie ganz indigniert: „Motherfucker!“ Den Ball berühre ich selten. Dafür mache ich geschickt die Räume eng. Das ist mit meiner Figur nicht schwer. Da ich auf meiner Position der zurückhängenden Spitze („Spitze“ also im übertragenen, nicht im eigentlichen Sinn zu verstehen) dem englischen Einpeitschlibero am nächsten stehe und er mir seine stereotypen Parolen „England, let`s win this kick!“ oder „England, you are the better team!“ nolens volens am lautesten ins Ohr hämmert, beschließe ich, weil ja sonst nicht viel zu tun ist, Mitte der ersten Halbzeit akustisch zu kontern, und brülle plötzlich aus Leibeskräften über den Platz: „Österreich, erhebe dich!“ Der kleine, knochige Brite sieht mich fassungslos an. Ich glaube, er fühlt sich parodiert, und sein Gefühl trügt ihn nicht. Mein Schrei, ja mein patriotischer Urschrei ist, wie die Mannschaft, die Schriftstellerschaft, die Austroautonama später unisono bestätigt, die Geburt des „Geistes von Unna“.
Rein fußballerisch ist das Bripotea (British Poet`s Team) genauso zurückgeblieben wie seine großen Vorbilder aus der wirklichen Fußballwelt: Kick & rush ist so sicher wie das Amen im Gebet und der Essig auf den Pommes Frites. So gelang uns zu unserer eigenen Verblüffung sogar der Führungstreffer, und mit ein ganz klein bisschen Glück schafften wir am Ende ein triumphales Unentschieden: 1:1 gegen England! Das Ergebnis bleibt uns für die Ewigkeit! In jeden einzelnen Grabstein von uns Helden wird man dereinst dieses Endresultat meißeln können: Name. Geburtsdatum. Todesdatum. Besonderes Merkmal: Beim 1:1 gegen England dabei gewesen.
Unmittelbar nach dem Schlusspfi ff, der das Ausscheiden Englands aus dem Turnier bedeutete (unseres übrigens auch), mutierten die Briten aber sofort wieder zu perfekten Gentlemen: Es gab ein herzliches Shake-hands, ein Schulterklopfen und elf Mal hintereinander: „Thank you very much! Great game!“ Nur zum Dressentausch kam es nicht, weil man in London mit dem Begriff kelag leider nicht viel anfangen kann. Und dann gingen die müden Recken ins Mannschaftshotel und bestellten Tee mit Milch. Ich liebe die Engländer.
Sämtliche Nationen fahren mit dem Shuttlebus geschlossen von Unna nach Dortmund ins Westfalenstadion und sehen hoch oben unter dem Stadiondach Borussia Dortmund gegen Wolfsburg. Die Türken skandieren im Bus enthusiastisch „Österreich! Österreich! Österreich!“, weil wir ihnen durch das Remis gegen England zum Semifinalaufstieg verholfen haben. Die Ungarn beschweren sich über den Modus, der nicht dem internationalen Reglement entspricht, außerdem über die Türken, weil die viel zu jung und lebenslustig für Dichter seien. Wahrscheinlich waren alle Rocksänger. Gute Rocksänger auch die Schweden, zum Beispiel Martin Bengtsson mit der Nummer 86 und Rossschwanz, ein begnadeter kleiner Fußballer, der angeblich einmal bei Inter Mailand gespielt und ein Buch mit dem Titel „Im Schatten von San Siro“ geschrieben hat. Ob es ins Deutsche übersetzt ist, weiß ich nicht, und ich werde auch nicht recherchieren. Vielleicht ist Martin Bengtsson erst vom Fußballer zum Schriftsteller geworden, der über Fußball schreibt. Egal.
Ein als Clown verkleideter Italiener aus Napoli, der jetzt in Torino lebt, erzählt im Bus, daß ihm Peter Andke (ich verstehe den Namen erst beim dritten Mal) ein Vorwort geschrieben und daß er eine Freundin in Pinkafeld hat. Da schau her! Am meisten an Pinkafeld scheint ihm aber nicht die Freundin, sondern der Wein zu imponieren. Der Kinderbuchautor Christoph „Panda“ Mauz erklärt vor dem letzten Spiel in der Kabine seinen Rücktritt, worauf der Buchhändler Rudi Lindorfer gleich zwei Nachrufe verfasst. Kurt Leutgeb spielt das schöne Spiel „Wie Kurt Leutgeb die Welt erschuf und was dann passierte“. Im Bus sagt Gerhard Ruiss einmal volle zehn Sekunden lang ohne Unterbrechung nichts, weshalb ich einen Moment lang allen Ernstes fürchte, er könnte gestorben sein.
Als das Finale angepfiffen wird (qualifiziert hatten sich die Deutschen und die Türken) sitze ich – ganz Spitzendichterprofi – bereits wieder im Flugzeug nach Hause. Erst später habe ich erfahren, daß Deutschland im Elferschießen gewonnen hatte. Diesmal war es stark bewölkt, so daß ich nichts von der Erde sehe, sondern beim Flugzeugfenster hinaus auf eine auf den Kopf gestellte Küstenlandschaft blicke: Der Himmel tiefblau, das Meer strahlend weiß.
Egyd Gstättner
Geb. 1962, lebt in Klagenfurt; schreibt seit etwa einem Vierteljahrhundert im Feuilleton von Süddeutscher Zeitung, Die Presse, Standard u.v.a. sowie regelmäßige Kolumen in der Kleinen Zeitung. Bisher 25 Bücher, zuletzt “Der Untergang des Morgenlands” (Picus, Wien 2009) sowie ein literarisches Stadtportrait von Klagenfurt (Carinthia, 2010, eben erschienen). Ausfl üge ins Theater (Volkstheater Wien, Borchert-Theater Münster). Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt Otto Stössl-Preis 2009.