43/ Prosa: Pulp Fiction: Armin Baumgartner

Armin Baumgartner
„Pulp Fiction“ – ein kurzer Schundroman

Die Luft war wie zerstäubtes, eiskaltes Quecksilber, als ich an diesem Februarmorgen auf den Zug nach Warschau wartete. Das Atmen fiel mir wegen der Kälte schwer. Pünktlich um 7.33 Uhr setzte sich der EC Sobieski in Bewegung, und die GTO-Thyristoren in den Traktionsstromrichtern der Taurus-Lokomotive sangen die lydische Tonleiter, diese mittlerweile so vertraute Melodie, die eine utopische Ahnung von Verstörung hinterlässt.

Die Waggons waren fast menschenleer. Ich suchte mein Abteil. Just genau gegenüber dem von mir reservierten Fensterplatz saß bereits ein junger Mann. Mein Eintreten hatte er scheinbar nicht wahrgenommen. Er war etwa 25 Jahre alt, kahl rasierter Schädel, trug einen Trainingsanzug. Seine langen Beine hatte er ostentativ ausgestreckt, sodass sie mir den Platz verstellten. Ich nahm auf dem mittleren Sitz Platz. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an einen lauen Sommernachmittag in Danzig:

Auf dem Bahnsteig löse ich ein Ticket und warte auf die Schnellbahn ins Zentrum. Da öffnen sich die Türen des auf dem anderen Gleis stehenden Zuges. An die fünfzig Fans des Fußballclubs Lechia Gdańsk springen unvermutet aus dem Zug auf die Schienen und stürmen auf meinen Bahnsteig zu. Aus den Fenstern des Zuges werfen Fans des gegnerischen Clubs Flaschen und andere Gegenstände den Fliehenden hinterher. Der aufbrausende, brutale Lärm füllt den ganzen Bahnhof aus. Ich bleibe reglos auf dem Bahnsteig stehen. Es ist plötzlich Krieg. Die Hooligans klettern auf meinen Bahnsteig und rennen grölend und Flüche speiend an mir vorbei zum Ausgang. Mit ihnen verzieht sich auch der Lärm durch den Stiegenabgang. Dann kehrt wieder Ruhe ein.

Der Zug raste über die Schienen. Warum nur hatte ich so verbissen an meinem reservierten Platz festgehalten, wo doch so viele Abteile leer waren? Ich würde acht Stunden diesem Mann, der genauso gut einer dieser Hooligans aus Danzig sein könnte, gegenübersitzen und wahrscheinlich kein Wort mit ihm wechseln. Doch jetzt befand ich mich schon hier. Die Höflichkeit gebot es zu bleiben. Der junge Mann blickte wortlos aus dem Fenster. Das überheizte Abteil war ein Terrarium geworden, wir beide mutierten zu erstarrten Reptilien. Vorurteile, sagt man, hätten auch eine gewisse Schutzfunktion. Man könne sie auch positiv definieren. Denn sie erlaubten uns, über eine Situation ein Urteil zu bilden, bevor der Fortgang eine fatale Wendung nimmt. Forderte ich nun das Schicksal heraus? Nietzsche schreibt: „Gut und Böse sind die Vorurteile Gottes“, sagte die Schlange. Ich nahm die Herausforderung an. Der junge Mann schob die Kapuze seines Pullovers nun tief in sein Gesicht.

Es war die pummelige Dame des Bordservice mit ihren blonden Locken und den typisch polnischen Höflichkeitsfloskeln in ihrer singenden Glockenstimme, die den Bann zwischen uns gebrochen hatte. Der Junge und ich mussten jedenfalls schmunzeln, als sich die Türe wieder geschlossen hatte und wir wenige Sekunden später vom Gang draußen dieselben Floskeln in derselben Melodie und mit selbiger Glockenstimme vorgetragen noch einmal vernehmen konnten. Er heiße Ignacy, sagte er, Ignacy Goebel, warum, das sei ihm auch nicht klar, aber es sei schon „funny“, dass er ausgerechnet den Namen Goebel trage. Er als Pole – „Do you know Joseph Goebbels?“ Er zeigte mir als Beweis seinen Pass. Der Kaffee dampfte in dünnen Rauchfäden aus dem Kartonbecher.

Unsere Unterhaltung verlief in mehreren Sprachen, vor allem aber mit vielen Handbewegungen und Gesten und Grimassen. Ich konnte ein wenig Polnisch, er hingegen ein paar Brocken Englisch, Bosnisch oder Italienisch, wie er mir versicherte. „Come si dice“, warf er in den Nachdenkpausen immer wieder ein, „wie soll man sagen“. Seine Fremdsprachenkenntnisse habe er sich im Ausland angeeignet, „in the life of the language“. Schulbildung habe er kaum genossen. Zu früh habe er den Bildungsweg verlassen. Nun sei er auf dem Weg nachhause, auf dem Weg nach Warschau. Ignacy empfahl mir eindringlich, unbedingt das Museum des Warschauer Aufstandes aufzusuchen, da man dort mit originalen Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg hantieren könne. Freilich ohne scharfe Munition. Draußen zog die verschneite Landschaft an uns vorüber. Die Sonne bohrte sich silbrig glänzend durch die Nebeldecke.

Wir waren also zwei ungleiche Reisende mit demselben Ziel. Ignacy begann zu erzählen. Er habe einige Monate in einem kleinen Nest nächst Eisenstadt verbracht. „It was called something like, small women wood’“. – „Small women wood“, hallte es leise nach in meinem Kopf. Er sei schwer heroinabhängig gewesen. Die Community habe ihn nun endgültig davon geheilt. Er habe den ganzen Winter im Wald gearbeitet, fünf Monate lang, jeden Tag, von sieben Uhr am Morgen bis sieben am Abend. Um fünf Uhr sei Tagwache gewesen, waschen, beten, frühstücken. Danach ging es in den Wald. Holz fällen und abtransportieren. „You pray?“, warf ich ein, da in meinen Vorstellungen über diesen jungen Mann bisher nicht die geringste Verbindung zu Religiosität auszumachen war. Ja, es handle sich um eine christliche Gemeinde, sagte Ignacy. Diese Community gebe es auf der ganzen Welt verstreut, in Bosnien und in Italien sei er auch schon gewesen. Vor vielen Jahren habe er diese Gruppe in Warschau kennengelernt. „Come si dice. They help people who have problems with living.“

In der Community habe er kochen gelernt, für mehr als hundert Personen, ja, und auch seine Sprachkenntnisse konnte er sich dort aneignen und vor allem Selbstdisziplin. Eine winzige Missachtung der Regeln – und man würde nachhause geschickt. Er habe dieser Gemeinschaft viel zu verdanken. Nun habe er um einige Freunde mehr. Da wäre zum Beispiel dieser Kriegsveteran, ein Bosnier, der an einem schweren Trauma gelitten habe. Ignacy schilderte detailreich die geschichte des Mannes, der schwer heroinabhängig gewesen sei, als sie sich kennengelernt hatten. Im Krieg sei er ein „sniper“ gewesen. Ignacy untermalte seine Erzählung mit einer für die Tätigkeit eines Scharfschützen typischen Handbewegung. Auf einem Dach positioniert, habe er auf der Straße vorübereilenden Passanten ins Bein oder in die Hüfte geschossen. Er habe sie absichtlich nur verletzt. Die Verletzten seien dann auf der Straße liegen geblieben und hätten um Hilfe geschrien. Es habe sich immer jemand gefunden, der den Verletzten zu Hilfe geeilt wäre. Den Helfern habe er dann ebenfalls ins Bein oder in die Hüfte geschossen. Die Opfer wären so allesamt, auf der Straße liegend, mit der Zeit hilflos verblutet. Auch Kinder seien darunter gewesen. Das müsse man sich erst einmal vorstellen, meinte Ignacy. Der Krieg habe den Bosnier zerstört, er wäre danach vollkommen dem Heroin verfallen. Eines Nachts hätte man in dem Dorf, in dem er lebte, Knallkörper auf der Straße abgefeuert. Da sei er in das Schlafzimmer seiner Eltern getreten und habe sie mit seiner Waffe bedroht. Seine eigenen Eltern, er habe sie einfach nicht mehr erkannt. „Come si dice. They cannot show the real horror, the pure fear in the big Hollywood movies“, sagte Ignacy.

So kamen wir auf das Thema Filme zu sprechen, was offensichtlich sein Spezialthema war. Ohne höhere Schulbildung wusste Ignacy so dermaßen viel über Filme zu erzählen, über qualitätsvolle Filme, dass es mir den Atem raubte. Seine Augen leuchteten, und als er „Pulp Fiction“ zitierte, ging ihm förmlich das Herz über: In einer bestimmten Szene nämlich sehe man Marcellus Wallace, erklärte er mir, den Auftraggeber der beiden Killer Vinent Vega und Jules Winnfield, kurz einmal von hinten: In der Szene sei auf Wallaces Genick ein Pflaster zu sehen. Ignacy wurde enthusiastisch. Ob ich gewusst hätte, dass es in einer bestimmten antiken Kultur ein Totenritual gegeben habe, wo den Verstorbenen der Hals hinten aufgeschnitten wurde, damit die Seele entweichen kann, fragte er mich. Denn diese, Wallaces, Seele, habe sich in dem von den beiden Killern gesuchten Koffer befunden, den Vincent Vega auch öffnet und darin ein intensives Licht entdeckt, mit dem er nichts anzufangen weiß. Ignacy habe „Pulp Fiction“ an die 100-mal gesehen, wie er mir versicherte.

In Warszawa Zachodnia warteten wir auf die Reisenden des Anschlusszuges. Die Melodie der Taurus erklang, als der Zug wieder anfuhr, und Ignacy erklärte mir, dass er nicht wisse, wie seine Eltern auf seine Rückkehr reagieren würden. Sie hätten keinerlei Vertrauen mehr zu ihm. Er wisse nicht einmal, ob er noch einen Platz zum Schlafen hätte. Warschau mache ihn jedes Mal nervös. „Police town. Fuck de system“, rief er aus. Draußen waren Waggons abgestellt, über und über mit Graffiti überzogen, dahinter verfallene Wohnhäuser, Industrie und feucht-kalte Trostlosigkeit. Jetzt begann er über sein Leben zu reden, über seine fatale Heroinsucht, über seinen hyperaktiven Bruder, seinen Vater, einst Künstler, nun Nachtbuschauffeur in Warschau, über seinen verwegenen Cousin, der es in einem Lokal mit 40 bis über den Scheitel mit Wodka abgefüllten „Hill-Billies“ aufgenommen hätte, und über seine Liebe, ein Mädchen, das er auch irgendwann einmal heiraten wolle, jedoch im Moment nicht wisse, wo sie sich befindet. Gott halte seine schützende Hand über ihre Liebe, meinte Ignacy. Er sei ja nun clean. Er wisse, dass er ohne die Nadel auch leben könne. Doch Warschau sei ein Sumpf, es ziehe ihn jedes Mal tief hinunter in den Abgrund, sobald die Stadtgrenze überschritten war. Er habe Angst, sagte Ignacy. Als der Zug in Warszawa Centralna hielt, gab er mir noch seine E-Mail-Adresse. Ich solle ihm doch schreiben, er würde mir dann erzählen, wie es ihm ergeht, was aus ihm wurde. Auf dem Bahnsteig sagten wir uns Lebewohl.

Nach meiner Rückkehr hatte ich Ignacy geschrieben. Seine Antwort kam rasch. Es sei alles in Ordnung, seine Eltern hätten ihn wieder bei sich aufgenommen, schrieb er. Er sei nun auf der Suche nach Arbeit. Dann vergingen ein paar Wochen, als ich noch eine zweite Nachricht von Ignacy erhielt. Er wolle im Sommer zu einem Freund nach Italien gehen, schrieb er. Dieser habe dort ein Restaurant, schrieb er. Kochen habe er ja gelernt. Sein Mädchen sei momentan in Frankreich. Er wolle sie besuchen. Das war die letzte Nachricht von Ignacy. Danach habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Im Winter, durch ein angelaufenes Zugfenster auf die von der Sonne beschienene flache Landschaft starrend, wenn der dünne, heiße Kaffee aus dem Kartonbecher dampft, oder auch, wenn im Fernsehen wieder einmal „Pulp Fiction“ läuft, erinnere ich mich an diese einmalige Begegnung, an Ignacys lebhafte Erzählungen, an sein Leuchten in den Augen, sobald er auf das Thema Film zu sprechen kam, denke an seine Hoffnungen und frage mich, was wohl aus ihm geworden sein mag. Auch das Rätsel um das seltsame, angedeutete Totenritual aus „Pulp Fiction“, von dem Ignacy gesprochen hatte, konnte ich nie klären. Gut und Böse jedenfalls scheinen wahrhaftig Vorurteile der Götter zu sein. „Small women wood“ ist jedenfalls Kleinfrauenhaid.

Armin Baumgartner

Geb. 1968 in Neunkirchen, NÖ. Matura in Wien. Studium der Publizistik und Philosophie abgebrochen, lebt und arbeitet als Korrektor und Schriftsteller in Wien. Mitglied bei der GAV und beim Literaturkreis Podium. „96 – das fremde buch in mir“, Edition A-Uhudla, Wien 2006.

etcetera 43/ Feindbilder. Zwischen Barrikaden und Blockaden/ März 2011