47/Pöbel/ Prosa: Ein unerhörter Aufschrei. Bülent Kacan

Bülent Kacan
Ein unerhörter Aufschrei

Wir wollen ehrlich sein, nichts ist von Grund auf förderlicher für das Vergessen schmerzhafter Wahrheiten – und sei es auch nur ein vorübergehendes Verdrängen derselben - als das Eintauchen in den reißenden Menschenstrom unheimlich tiefer Großstadtschluchten.

Wir tauchen ab, vergessen also vorübergehend, dass wir kurz zuvor, daheim, in trauter Zweisamkeit und ohne ersichtlichen Grund, das Herz eines geliebten Menschen gebrochen haben und machen uns auf die Suche nach all jenen verlockenden und verführerischen Süßigkeiten, die unsere bis zum Zerreißen und Zerbersten angespannten Sinne für den ekstatischen Bruchteil einer Ewigkeit betören und beschwichtigen werden.

Und während wir kleinen Fische uns – und was sind wir anderes als kleine, zitternde und zappelnde Fische, die im gewaltigen Netz des Lebens gefangen sind und unentwegt nach unsere flüchtige und vergängliche Existenz transzendierenden narkotischen, närrischen Verheißungen suchen? – ohne ersichtlichen Grund – und die Angst ist und bleibt die größte unbewusste, weil unsichtbare Antriebskraft im Menschen - zu großen Schwärmen zusammenrotten, übersehen wir hierbei, ohne uns die Bedrohung in ihrer brutalen Folgerichtigkeit vor Augen zu führen, dass wir selbst es sind, die seit undenklichen Zeiten von einem Rudel weitaus räuberischer und gefräßiger Hechte gejagt, gefangen und ausgenommen werden. Räuber, die in den Untiefen des Großstädte lauern oder aber an den brüchigen Rändern der wie verwirrt und ziellos dahinströmenden Masse mit weit aufgerissenen, zähnestrotzenden Mäulern nur darauf warten, dass sich das ein oder andere Opfertier aus der schützenden Obhut seiner Gemeinschaft löst.

Nur manchmal halten wir - sobald uns durch das endlose Treiben schwindelig und schlecht wird - inne und lassen den mächtigen Strom der Beutetiere geradewegs an uns vorüberziehen. Wir halten dann inne und lauschen dem Mark erschütternden Raunen und Rumoren der sich selbst wie zum Fraß dahingeworfenen Massen.

Bisweilen kommt es auch vor, dass wir einen großen Schritt zur Seite machen und uns die tobende Brandung der unaufhörlich anströmenden Wellen an hektischen, aufgewühlten, hin und hertreibenden Menschenleibern erschaudern und erschrecken lässt.

Mitunter geschieht es auch, dass wir uns unweigerlich von diesem Trauerspiel abwenden, wir wenden uns dann ab und starren anschließend mit weit aufgerissenem Mund und sperrengelweit geöffneten Augen in den glitzernden Spiegel eines glänzend aufgemachten Schaufensterladens, starren hinein und wundern uns über das große Fischmaul und die glitschigen Fischaugen dort drinnen und über die vergeblichen Versuche des Tieres lauthals aufzuschreien, schließlich hören wir hier draußen auf dem Pflaster nichts anderes, als das ständige Raunen und Rumoren der Masse.

Bülent Kacan
Geboren 1975 in Minden/Westfalen (Deutschland). Student der Germanistik und Geschichtswissenschaften mit dem Ergänzungsfach Philosophie Aphoristiker, Prosaist und Lyriker. Lebt in Bielefeld. www.kacan.eu