51/viel-leicht/Prosa: Martina Sens - Blindgänger

Martina Sens
Blindgänger

Nichts zu sehen, absolut nichts erkennbar. Die ganze Welt zittert, doch ich sehe nichts.
Ach ja, die Entfernung! So weit weg. Man kann es ja nicht sehen, die Not und das Verderben. Aber es breitet sich aus.
Ebenfalls unsichtbar.
Ich sehe hinaus und obwohl sich augenscheinlich Nichts verändert hat hier, wird es nie mehr so sein, wie es war.
In jedem Blatt, in jedem Grashalm, in der Luft ist sie, diese unsichtbare Veränderung und dort wird sie bleiben über Jahrhunderte, Jahrtausende.
Die Welt bebt und dann zittert sie vor Angst.
Nichts zu sehen hier.
Wie von Geisterhand wird das Leben hier verschwinden. Der geheimnisvolle Radius des Sterbens wird sich immer weiter ausbreiten. Bald wird keiner mehr wissen, warum dort gestorben wird. Aber es wird nie mehr enden. Schaurige Landschaften, menschenleer und verwüstet. Doch ist nicht ersichtlich warum. Blind. Als hätten wir kein Augenlicht.
Blöd – werfen wir um uns mit Blindgängern, die früher oder später dann doch in die Luft gehen.
Wir sind die Geister, die die Dunkelheit erschufen.
Wir alle haben es gewusst – und nun klingt es schon so alltäglich wie die Berichterstattung über einen Verkehrsunfall.
Höchstwerte erreicht, Höchstwerte überschritten. Nach wenigen Wochen siegen die Aktienkurse über die Höchstwerte.
Gespenstisch wie Werte sich wandeln im Schatten des Gewinns.
Wir alle haben es gewusst, was wir da in die Welt setzen.
Jeder, der auch nur die einfachsten Grundlagen über die Materie kennt weiß, dass das eine unkontrollierbare, tödliche Macht ist.
Die Welt blickt auf die ferne Insel mit Betroffenheit – ein wenig, mit Angst – ein wenig, und mit dem erbarmungslosen Spürsinn der Wirtschaftswunderkinder.

Da ist sie doch wieder, die Endlösung, die Erlösung von unseren Sorgen und Ängsten.
Jetzt eine Insel finden… Da drängt sich der Gedanke doch direkt auf, weit entfernt, unsichtbar, mehrfach belastungsgetestet – bietet sich doch direkt an, als globales Endlager...
Wir haben sie nicht gerufen die Geister. Wir sind die Geister.
Wir erschaffen den Tod und werden ihn nicht mehr los.
Nichts zu sehen – brandheiße Gefahr, von der Erdvernichtungsmaschine Mensch gemacht. Und wissend schließen wir unsere Augen. So oder so.

Martina Sens
Geb.1964 in Bürstadt, Hessen. Studium an der Universität Mannheim (Germanistik, Soziologie, Pädagogik). Mittlerweile Heilpraktikerin, Wirbelsäulentherapeutin nach Dorn- und Breuß, Mutter und Autorin. Schreibt, um zu überleben.

LitGes, etcetera 51/viel-leicht/ März 2013