73/Höhle/Prosa: Johannes Haselseteiner: Die Seifenblase des Sokrates

Fährt man mit dem Auto entlang einer Bundesstraße, kommt man dabei an kleinen Städten und Dörfern vorbei, die – sobald man die pittoresk-gewachsenen Ortskerne verlässt – einander oftmals und auf eine unangenehme Art ähneln. Man begegnet Einfamilienhaus nach Einfamilienhaus, gepflegter Vorgarten mit riesigem Carport nach gepflegtem Vorgarten mit riesigem Carport. Die Menschen schaffen sich in den noch leistbaren Vorstädten ein kleines und überschaubares Paradies und grenzen sich auf diese Weise von dem Draußen klar und mit nachbarschaftlicher Vehemenz ab.

Durch zahlreiche grüne Maschendrahtzäune quillt die vorstädtische Kleinbürgerlichkeit dabei in Form von ganzjährig-blickdichten Thujenhecken aus den Grundstücken heraus. Der eigene Horizont wird durch die schrebergartenhaft-geometrische Gestaltung mit Koniferen eingeschränkt, der Blick auf das große Ganze geht dadurch verloren, lebt man doch selbstzufrieden in seiner wohligen Biedermeier-Höhle. Statt auf Sinnsuche begibt man sich lieber auf Sinnspruchsuche – in ein Dekogeschäft und kauft ein Metallschild – My home is my castle oder Carpe diem ist darauf tiefsinnig zu lesen. Die erschwingliche Alltagsphilosophie des oft zitierten kleinen Mannes. Wir haben es uns in unseren Seifenblasen gemütlich gemacht: My bubble is my castle.

Aber selbst in der Blase lebend sind wir doch ohnehin ständig mit der Welt vernetzt, sie steht uns offen, wir sind frei, sie zu erkunden. Eine scheinbare Freiheit, sind wir doch durch Algorithmen gefesselt und geknebelt, welche uns das Denken abnehmen und unsere Aufmerksamkeit nur auf Schattentänze steuern – so erkennen wir lediglich scheinbare Schattenrealitäten. Die Wirklichkeit bleibt hinter einer Thujen-Wand verborgen, aber im Grunde ist es uns egal, weil davon wissen wir ohnehin nichts.

„Das könnte Sie auch interessieren“, schlägt mir mein soziales Netzwerk vor. „Kunden, welche dieses Produkt gekauft haben, haben auch folgendes gekauft“, leitet mich der Online-Shop meines Vertrauens zielgerichtet auf einen weiteren Spontankauf hin. Ich bin angesichts der Treffsicherheit bezüglich meines Geschmacks und meiner Gedankenwelt begeistert.

Man glaubt nur noch das, was man glauben will, dafür mit einer absoluten und kompromisslosen Sicherheit. Jeder Einzelne hat es sich in seiner personalisierten Blase gemütlich gemacht. Das ist nur allzu verständlich, denn würden wir in dieser Situation versuchen unseren Horizont zu erweitern, würden wir und uns auch nur ein bisschen strecken, würde unsere gesamte Umwelt platzen. So beschränken wir uns lieber auf eine kleine, aber dafür wunderbar überschaubare Blasen-Welt, welche uns teilweise verschwommene Blicke nach Außen ermöglicht. Die Kleinheit ist ausreichend groß, denn ohnehin suchen wir nicht nach Wahrheit, sondern nur nach der Bestätigung unserer eigenen Weltvorstellung und Meinung. 

Reaktionen auf seine eigenen Schattenbilder braucht man, um sich als Mensch zu fühlen und heutzutage ist Zuspitzung das Mittel der Wahl, um überhaupt noch Reaktionen von Leuten zu bekommen, die manchmal wie lädierte Zwerghamster in ihren Alltagsrädern rotieren. Wir verurteilen Vorurteile und vorverurteilen dabei selber am laufendem Band. Like, Daumen hoch, Daumen runter – wir gebärden uns wie Cäsaren im Kolosseum mit rasch getroffenen und ultimativen Urteilen. Brot und Spiele will das Volk. Der Pöbel lenkt die Entscheidung des Cäsaren und der Cäsar jene des Pöbels. In diesem Meinungskarussell wird einem oft übel und man verliert laufend die Orientierung, sodass die verzweifelten Massen inbrünstig und nach einer starken Hand hilfesuchend zu schreien beginnen: „Wirr ist das Volk!“

Das WWW wird zum Brennglas, das verstärkt und bündelt. Eine riesige und globalisierte Seifenblasen-Maschinerie. Reaktionen sind ein Kapital geworden, ein Produkt, das man industriell produzieren kann. Vielerorts eröffnen Troll-Fabriken, um im gesellschaftspolitischen Diskurs mitzumischen, ihn aufzumischen. Das Meinungsspektrum schillert dabei auf den ersten Blick in allen möglichen Regenbogenfarben, doch wenn man viele Farben mischt, man weiß das noch aus der Kindergartenzeit, kommt am Ende immer eine grau-braune Einheitsmaße heraus. Auf den Grund der Wahrheit kann man da nicht mehr blicken... Trolle im Nebel.

Der Zusammenhang zwischen verfügbarer Information, veröffentlichter Meinung, öffentlicher Meinung und die mögliche Manipulation dazwischen sind aus den Fugen geraten. Ist das ein neues Phänomen? Keinesfalls, es ist bloß die zeitgemäße Realisation des Höhlengleichnisses, einer jahrtausendealten philosophischen Erzählung: In der sokratischen Höhle gibt es weder die Neugierde auf das da Draußen, noch die Disposition der Belehrbarkeit. Heute sitzen wir alle in einer sokratischen Blase fest, die uns verschiedene Schattenrealitäten zeigt. Was sich an unserer Wand abspielt, ist für uns Wirklichkeit. Doch starren wir nicht mehr auf eine Höhlenwand sondern auf den Bildschirm unseres Smartphones, unseres Tablets unseres PCs. Wir starren in die virtuelle Welt und wenn jemand von außen mit einer anderen Realität zu uns durchdringen will, stempeln wir schnell und zielgerichtet ab: „Fake News“, „Alternative Fakten“, wir titulieren, wir degradierenden: „Gutmenschen“, „Wutmenschen“, „Faschos“ und „Rotrote“ und „Linkslinke“.

Eine Informationsflut stürmt sekündlich auf uns ein – Schubladisierung dient als Orientierungssystem, Vorverurteilung als Überlebensstrategie in einer schnelllebigen Zeit. Je größer die Verunsicherung einer Zeit, desto hedonistischer, desto genusssüchtiger wird sie wohl. Horizont hält uns nur davon ab, fokussiert auf uns selber zu sein, und wir brauchen doch den Fokus für den Moment, denn You only live once. Yolo wird zu unserem modernen Carpe Diem. Es geht immer weniger um Ideale, es geht nicht um Ideen, es geht nur noch um Abbilder. Wir leben nicht mehr, wir insta-leben. Wie die Schattenbilder in der Höhle verwechseln wir gepostete Abbilder mit einer Realität. Doch sie sind nichts Reales, sie sind das Abbild eines Abbildes, eine Parodie des Lebens.

In der Höhle gibt es nur zwei Arten von Menschen, die nicht gefesselt sind und deswegen nicht auf die Schattenbilder an der Wand starren müssen: Einerseits ehemals Gefesselte, die es geschafft haben, die Höhle zu verlassen und die Schattenbilder als scheinbare Trug-Realität erkannt haben und nun über ein erweitertes Bewusstsein verfügen und über ein allumfassendes Verständnis einer objektiven Realität. Sie kehren nach dem fundamentalen Erkenntnisgewinn in die Höhle zurück, um das Wissen mit den zurückgebliebenen Höhlenmenschen zu teilen. Doch diese zeigen kein Verständnis für eine abweichende Realität. Die Rückkehrer werden als Ketzer und Unruhestifter diffamiert und als Verbreiter von Fake News systematisch verfolgt. Mediale Scheiterhaufen zu ihren Ehren sind da rasch aufgebaut.

Die zweite Gruppe von Menschen, die sich ungefesselt in der Höhle aufhält, ist jene der Marionettenspieler hinter der Mauer. Diese steuern mit ihrer Dramaturgie die Schattenwahrnehmung der gefesselten Massen. Die Demagogen manipulieren die Wirklichkeit der Menschen nach ihren Vorstellungen und zu ihrem eigenen Interesse und Nutzen. Unsere Seite der Mauer ist somit unklar, aber wir sitzen unbestritten alle in derselben Höhle fest.

 

Johannes Haselsteiner 

Geb. 1987 in Wien und hat an verschiedenen Orten in Wien und Niederösterreich gelebt. Er studierte in Wien Landschaftsplanung- und Landschaftsarchitektur sowie Russisch und ist derzeit in der Kommunal- und Regionalentwicklung tätig. Seit 2017 lebt er in Melk.