73/Höhle/ProsaManuela Nimmervoll: Über Bären u. a. Menschen

Es ist die weitverbreitete Meinung, dass der Mensch des 21. Jahrhunderts ein weit entwickeltes Individuum ist. Das mag soweit stimmen. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele Parallelen sich zu den Verhaltensweisen unserer, nicht so weit entwickelten, tierischen Kollegen zeigen. 

Betrachtet man zum Beispiel unsere männlichen Leidensgenossen, so kann man immer wieder Hierarchiekämpfe beobachten, wie bei einem Rudel von Löwen. Das ist besonders dort der Fall, wo viele Männer auf einen Haufen treffen. Zusätzlich zeigt das Rudel der Männer oft eine erhöhte Leichtsinnigkeit, im Gegensatz zum Einzelgänger – was zu den kreativsten Blödheiten führt, von denen man nachher manches Mal in den Zeitungen lesen kann. 

Aber auch bei Frauen ist es nicht anders. So stellen einige Weibchen die Haare auf, wenn sie Konkurrenz verspüren und fahren ihre (oftmals nur verbalen) Krallen aus, so wie unsere Katzenfreunde. Damit ist der Begriff der Kratzbürste vermutlich oft gerechtfertigt.

Diese Verhaltensmuster wären vermutlich noch viel stärker ausgeprägt, wenn wir nicht von Anfang an eine gewisse Erziehung genießen würden. Doch auch Moralgefühl muss erst erlernt werden. Kennen Sie den Ausdruck „Kindermund tut Wahrheit kund“? Die oft schmerzhafte Ehrlichkeit von Kindern. So fragt zum Beispiel ein Fünfjähriger eine etwas mollige Frau, ob sie schwanger sei. Oder was genau dieser komische Fleck im Gesicht ist (Antwort: ein Muttermal). Dabei haben Kinder meist keine bösen Absichten mit solchen Fragen – sie wissen es bloß nicht besser. Doch das Gegenüber kann so etwas oft als kränkend empfinden. Kinder müssen erst erzogen werden, damit sie „gesellschaftstauglich“ werden, so wie junge Hunde. 

Ich selber komme aus einer Großfamilie und war immer schon der Meinung, dass es sich bei meinen neun Geschwistern um wildgewordene Bestien handelt, die nicht erziehbar wären. Ich habe mich immer als „die Normalste“ der Familie und somit als schwarzes Schaf gesehen. Meine Geschwister waren der Auslöser für meine private Verhaltensstudie Mensch & Tier – sie baten auf jeden Fall genug Material dafür. Als ich dann mit dem Beginn meines Zoologiestudiums in eine Stadtwohnung zog, konnte ich meine Verhaltensstudie weiter expandieren. Gleich am ersten Tag meines Umzugs machte ich Bekanntschaft mit einem neuen Verhaltensmuster, dass ich bis dato noch nicht kannte. Als Kind vom Land, war ich es gewohnt einen neuen Nachbarn mit einer kleinen Aufmerksamkeit zu begrüßen. Da stand ich nun mit einem Glas selbstgemachter Marillenmarmelade vor der Tür meines Nachbarn. Ich klopfte an und stand plötzlich einem halbnackten Mann gegenüber. Sein Bierbauch ragte über die Hälfte seiner dreckigen Unterhose und ein streng riechender Geruch schlug mir entgegen. Ich konnte einen kurzen Blick in seine Wohnung erhaschen und musste feststellen, dass es dort nicht besser aussah. Die Wohnung hatte nicht mehr das Recht als solches bezeichnet zu werden. Misthaufen hätte wohl eher zugetroffen. Ab diesen Zeitpunkt war der neue Nachbar für mich „der Mistkäfer“. Als ich einer Studienfreundin von meiner Begegnung mit dem Mistkäfer erzählte, lachte sie mich bloß aus und sagte, „Jetzt weißt du auch, dass man in einer Stadt nicht einfach bei seinem Nachbarn anklopft. Man weiß nie welche Überraschung hinter der Tür auf einen wartet. Ich glaube, ich habe mit meinem Nachbarn noch nie ein Wort gewechselt. In der Stadt ist es nun einmal anders als am Land. Hier sind mehr Einzelgänger unterwegs als Rudel.“

Um diese Erkenntnis war ich nun reicher geworden. Was mich nicht davon abhielt die Menschen meines Wohnhauses weiterhin zu beobachten. Mit meiner Erdgeschosswohnung im Innenhof hatte ich den perfekten Überblick darüber, wer eintrat und wer austrat - jeder musste an meinem Fenster vorbei. Ich observierte, von meinem Sofa aus, die unterschiedlichsten Menschen und jeder einzelne erinnerte mich in gewisser Weise an einen tierischen Kollegen. Damit festigten sich meine Vermutungen, dass es zwischen Mensch und Tier oft gar keine so großen Unterschiede gab. 

In meinem Wohnhaus lebte zum Beispiel „die Eule“ - ein Mädchen aus dem zweiten Stock, sie war etwa in meinem Alter, das nachts immer um die Häuser zog und unter tags ausschlief (zumindest nahm ich das an). Dann war da „das Faultier“ - ein Mann mittleren Alters, der nicht arbeitete und den ganzen Tag lang nur vorm Fernseher hing – zumindest konnte ich diesen immer hören, wenn ich zu Hause war. Weiters gab es noch „die Pinguine“, ein altes Ehepaar, das sich seit sechzig Jahren nicht mehr von der Seite wich, „den Papagei“, einen Musiker, der mit seinen bunt gefärbten Haaren leicht auffiel, „den Bücherwurm“, einen Jungen, der ein Buch nach dem anderen verschlang und „die Gottesanbeterin“, eine Dame, die einen Liebhaber nach dem anderen mit zu sich nahm. 

Als der Frühling anbrach, lernte ich dann zum ersten Mal „den Bären“ kennen. Er war mein Gegenübernachbar. Ich hatte ihn noch nie getroffen, da mir nach der Begegnung mit dem Mistkäfer die Lust auf meine Begrüßungsrunde vergangen war. Der Bär hatte den ganzen Winter lang keinen Fuß vor seine Tür gesetzt. Ich schlussfolgerte, dass er ein Sommermensch war. Seine Winterruhe hatte er in der Wohnung - oder soll ich sagen seiner Höhle - verbracht. Mit den ersten Sonnenstrahlen, hatte er seine Höhle dann verlassen und war nun wieder draußen unterwegs. Und eines musste ich zugeben. Der Bär sah richtig heiß aus. Sein dunkelbraunes Haar schmeichelte seinen smaragdgrünen Augen. Die eng anliegenden T-Shirts brachten seinen durchtrainierten Körper zum Vorschein. Jedes Mal, wenn er das Wohngebäude verließ, duftete es im Gang nach seinem Aftershave. Und dann geschah etwas Unglaubliches. Wie es der Zufall wollte, lernten der Bär und ich - das schwarze Schaf – uns kennen. Meine Vermutung, dass er ein Sommermensch war, bestätigte sich. Er bevorzugte die Wärme und verbrachte den Winter meistens in seiner Höhle. Ohne, dass ich den Grund dafür verstand, empfand der Bär mir – dem schwarzen Schaf - gegenüber gewisse Sympathien. Und so kam es, dass aus dem Bären und dem schwarzen Schaf ein glückliches Paar wurde.

Auch wenn ich durch meine Studie viel gelernt hatte, war es am Ende doch schön, ein Mensch zu sein - sonst hätten Bär und Schaf vermutlich nie zusammengefunden.

 

Manuela Nimmervoll 

Geb. 1991 in Wien. Nach der Ausbildung zur Kindergartenpädagogin, Studium der Technischen Chemie als Diplomingenieurin. Nebenbei hobbymäßig den Fernlehrgang Belletristik absolviert und abgeschlossen und damit eine große Leidenschaft entdeckt, die sie zukünftig zum Beruf machen will.