74/Körper.Teile/Prosa: Ariadne Schimmler: Eine kleine Wanderung


In den äußersten Bezirken meines Blickfeldes lag ein schwarzer Fleck auf dem Boden. Die Augen gerieben und hingesehen, und fort war er.
Nichts zu sehen als Bäume umzingelt nach Pinkelpause, nichts zu machen als weiterzugehen; meine Freunde warten bereits darauf, dass ich meinen Anschluss wieder aufnehme, sie gehen bereits auf dem nächsten Hügel dieser Wanderung. Ich durchquere die sich immer weiter erweiternde Distanz zwischen mir und ihnen, bis meine Lunge sticht; der Wald lässt mich laufen, er stößt mich aus sich heraus durch Rückenwind und ich glaube, dass er hinter mir in sich zusammenkippt. 
Nur nicht umdrehen.    
Ich habe Weg aufzuholen. Meine Haut mutet zu dünn an, rissig; Füße fühlen sich an wie an Eisengestellen angebracht, ich glaube, den rechten verloren zu haben. Ein Freund winkt mir vom Höhepunkt zu, ich sehe es genau; Flasche Bier in der Hand, weist er mir mit ineinander fließenden, selbst aus der Ferne klar ersichtlichen Gesten, dass die letzte mir gehört, solange ich sie nur hole. Mein Bauch scheint sich zusammen zu ziehen; ich denke, dass ich nichts mehr trinken sollte. Meine Hände tasten, nach hinten verrenkt, den Rucksack ab; habe ich eh nichts liegen gelassen? Etwas fällt mir vom Herzen, mein Shirt dehnt sich in seiner Form und es kullert von meiner Brust über meine pumpenden Knie auf den Boden, der jetzt hinter mir liegt. 
Nur nicht umdrehen.
Die Freunde sind auf dem Abfall der anderen Seite, ein paar Meter Steigung noch und ich kann sie wieder sehen, da bin ich mir sicher. Meine Arme schwingen mit geballten Fäusten, ich steige auf, fühle mich plötzlich leichter, selbst wenn alles wehtut, was ich noch habe. Ich falle vom Fleisch, Fleisch fällt von mir. Es riecht plötzlich faulig. Ich muss die Faulheit abschütteln, ja kein Verzagen, hörst du? Meine Rippen streifen unangenehm gegen loses Gewebe; ich sollte mich wirklich häufiger bewegen. Jetzt bin ich oben auf dem Hügel und kann die Rücken meiner Freunde wieder sehen, wirklich! Ich wage es nicht, meinen Körper abzutasten oder anzusehen, auch wenn der Drang, die letzten Reste an ihren Platz zu pressen und an mich zu drücken, alles durchdringt. Mein Bauch ist verschrumpelt und abgelöst; ein Organ entgleitet mir und blutet meinen Schuh voll, der Körpersaft durchdringt den Stoff und ich fühle ihn auf mein letztes Bisschen Fuß tropfen; jetzt gerät es aus dem Gleichgewicht und bleibt zurück. 
Nur nicht umdrehen!
Die Freunde werden größer und größer, bald bin ich wieder in ihrer Gegenwart. Ich glaube, mein Gesicht zerstückelt sich. Der Wind, jetzt gegen mich gerichtet, trägt es ab. Der Gestank ist nicht mehr zu ignorieren, Gott, du schwitzt wie Sau. Ich verdrehe meine Gelenke in rhythmischer Abfolge um so schnell wie möglich den Hügel herabzukommen. Mein Atem pfeift und stockt, das Organ muss meine Lunge gewesen sein. Ich glaube plötzlich keine Beinmuskulatur mehr zu haben; nur mein Wille presst mich noch vorwärts. Bald ist es geschafft, keine Sorge, den abgefallenen Finger hast du eh nicht gebraucht. Etwas streift sich mit jedem Schritt an meinem Hosenbein ab, bis es unten herauskommt und endlich zurückliegt; es fühlt sich an wie eine Kugelbahn, ich muss in Zukunft wohl nie wieder pinkeln. 
Nur nicht umdrehen.    
Ich bin da und fasse einen Freund an der Schulter. Wartet, bitte, nur ganz kurz. Er lächelt und reicht mir das versprochene Bier, bereits für mich geöffnet. Schnell schütte ich es in mich hinein; ein Fleck erscheint auf meiner Kleidung. Der Freund lacht während die beiden anderen mich anstarren - ungeschickt bist du, das schöne Gesöff! Ich lache heiser mit ihm und lüfte mein Shirt, um es umzuziehen; zum ersten Mal an mir herabgesehen, sind von Hautfetzen unterbrochene, schwarze Knochen als letztes von mir übrig. Hoffentlich reicht das aus. Das neue Shirt ist jetzt richtig geräumig, ich könnte eine Person in die Zwischenräume zwängen, wenn es nicht so stinken würde. Entspannt sehen wir zurück auf den geschafften Weg, übersät von einem einzigen, über die Hügel rollenden Band von schwarzen Körperbestandteilen, langsam Schimmel ansetzend. Du bist schon ein Schweinderl. Meine lippenlosen Zähne lächeln. Ja, das bin ich. 
Wir gehen unvollständig weiter.
 

Ariadne Schimmler
Ariadne Schimmler ist der nom de plume Gabrielle Körbers, einer dreiundzwanzig-jährigen Trans-Frau, lebend in Wien. Seit 2015 literarisch tätig, schreibt sie vorwiegend Kurzprosa und Gedichte. Sie lokalisiert zudem freiberuflich Videospiele.