75/Paradies/Prosa: Gudrun Breyer: Die Frucht

Eden war der Platz, an den ich zurückkehren würde. Dass darin eine Schlange hauste, beunruhigte mich, aber der Baum des Lebens wog die Angst auf. Ich malte mir einen Ort aus, an dem sich das Gras weicher anfühlte und niemals feuchtete. Wo es stets nach Sonnenaufgang und Zitronenmelisse roch. Einen Ort wie den Schrebergarten meiner Großmutter, in etwa. Dort hatten wir als Kinder bei der Ernte geholfen. Statt in die Eimer waren die süßen Früchte vor allem in unsere Münder gewandert, bis uns der Großvater über die Zeitung hinweg scharf angesehen hatte, immer in dem Moment, in dem uns das Obst im Magen zu drücken begann. 
Im Garten meiner Großmutter war die Zeit in irrer Hast gelaufen und wir hinterher. Immer hatte es etwas zu ernten gegeben, immer waren Andere da gewesen, die uns zuvorkommen wollten. Die es auszuschalten galt. Vögel und Schnecken, Insekten und Nagetiere. Der Garten meiner Großmutter war ein einziges Schlachtfeld gewesen. 
Der Großvater hatte den Garten sein Paradies genannt. Kaum war er von der Arbeit nach Hause gekommen, hatte er seinen Sonnenhut und die Großmutter gepackt und war zum Schrebergarten hoch gegangen. Er schnellen Schrittes voran, sie hinterher, mit kaputten Knien und einem Korb, darin Kaffee in der Thermoskanne und Gugelhupf. Der Großvater hatte den Rasen gemäht oder gegossen und dann Kreuzworträtsel im Schatten gelöst. Die Großmutter hatte gejätet, hochgebunden,  geerntet, zurückgeschnitten und geschnitten und der Garten hatte gewuchert. Er hatte die Beete zu gewuchert und Großmutters Herzkranzgefäße. Eng war es der Großmutter ums Herz geworden. Die Marmelade hatte gekocht und geblubbert. In der Großmutter hatte es gekocht und geblubbert. Große glitzernde Blasen, die zerplatzen.
Ohne Großmutter war es mit dem Paradies vorbei gewesen. Der Großvater hatte den Garten verkauft und uns aus einer ersten Vorstellung vom Paradies vertrieben. So musste Eden sein, nur ohne Eile, ohne Einkochen, ohne Verfall.   
Ich wuchs das Paradies suchend auf. Ich wusste, Eden wartete auf mich: der Baum, das Gras, die Schlange. Ich konnte dorthin gelangen, wenn ich artig war. Und es sah gut für mich aus. Die Hölle knisterte kaum vernehmlich. 
Die Zeit flocht mir Schnee ins Haar und streute mir Flocken in die Augen. Was ich aber scharf sah, waren die Gemälde, Säle voll davon: Michelangelo, Cranach, Tizian. Garten Eden und Sündenfall. Eva und die Schlange. Der Baum des Lebens und der Erkenntnis, und immer die Frucht, prall und lockend. Diese Frucht, sie war der Horizont, auf den ich zusteuerte. Mit ihrer makellosen Hülle, den vollendeten Rundungen. Wie ein Model gab sie sich, neckisch und unschuldig. Ich stellte mir ihre Konsistenz vor, wie meine Zähne in ihr saftiges, aromatisches Fruchtfleisch drangen.     
Auf meiner Suche nach der Frucht probierte ich mich durch jedes neue Superfood und zahllose Kochrezepte. Von Gärten aber hielt ich mich fern, dachte an die mühselige Arbeit, an Großmutters rissige und verfärbte Hände, und suchte mir lieber im Supermarkt die schönsten Früchte aus. Woher sie kamen, interessierte mich nicht. Auch nicht, wer sie wie gepflückt hatte und unter welchen Bedingungen sie erzeugt worden waren. Meine Einkäufe glichen Jagdausflügen. Ich hielt nach der perfekten Frucht Ausschau. Meine Hand schnellte darauf zu und schaltete Gegner gekonnt mit Gesten und Blicken aus. Ich befühlte meine Beute, besah sie mir aus der Nähe, legte sie auf die Waage und verpasste ihr den fatalen Strichcode. 
Abseits meiner Jagdgründe wollte ich eine gute Bürgerin sein. Eine, der das Paradies offen stand, das richtige. Nicht nur danach benannte Stadtteile in Konstanz oder Wien oder das kalifornische Paradise, das ständig Feuer fing. Ich wollte nicht ins Reich der Reichen und Schönen, ich wollte bloß meine Frucht und irgendwann Eden finden und dort bleiben. 
Der amerikanische Präsident hatte Paradise mit Pleasure verwechselt, mehrfach, und dabei geirrt. Genauso wie er von mangelhafter Forstwirtschaft gesprochen, aber nicht erwähnt hatte, dass Wasser in Kalifornien rar war. Dass die kalifornischen Mandeln durstig sind und die Bauern ihr Heil in immer tieferen Brunnen suchen, hatte er genauso verschwiegen. Immer tiefer steckten die Farmer Bohrer und Köpfe in den Sand, während ihre Pflanzen vertrockneten, weil Schnee und Regen ausblieben. Die Wälder brannten und Schiffe trugen weiter kalifornisches Wasser in Form von Mandeln, Obst, Gemüse nach Europa. Schweigsame Früchtchen, die nichts vom schwindenden Grundwasser, der Dürre, den ausgelaugten Böden und toten Bienen erzählten. Ich hätte auch nicht zugehört. Ich musste mich an den Früchten satt sehen, an ihrer Gleichartigkeit und ihrer Farbe. Sie waren einem Märchenbuch entsprungen. Magisch leuchteten sie im Leuchtröhrenschein der Obstabteilung. Daheim erfreute ich mich an ihrer vollendeten Form und schreckte jedes Mal vor ihrem hohlen Inneren zurück. Ungläubig kaufte ich weiter. Ich wollte nicht wahrhaben, dass diese eleganten Schönheiten nichts anderes waren als zurechtgemachte, geschundene Geschöpfe. Von Anfang an kontrolliert, zu Höchstleistung gedüngt. Vor ihrer Zeit geerntet und verladen. Wohlkonserviert, -temperiert, -platziert. 
Ich gab nicht auf und fand doch nichts, was den süßen Verlockungen in Großmutters Garten nahe gekommen wäre, nichts, was auch nur ansatzweise an die Furcht, nach der ich mich sehnte, heranreichte. Nicht die Mangos zum Frühstück, nicht der Spargel im Dezember. Nicht einmal die Erdbeeren zur Erdbeerzeit. Scharf lag mir das Spritzmittel auf der Zunge. Die VitaMINE waren nicht bombig, der Kalziumgehalt kahl und auch andere Mineralsalze eher Minimalsalze. Der Mangel an Zucker ließ mich zucken, während sich Konservierungs- und Zusatzstoffe in mir ballten und auf mir lasteten.   
Gott schuf den Menschen und sagte, „Mach dir die Erde untertan“. Und so hatten wir sie uns unterunteruntertänigst gemacht. Bis an ihre Grenzen und darüber hinaus. Hatten begonnen, unsere eigenen Pflanzen zu basteln, resistent gegen jedes Übel. Eine schöner als die andere und aus aller Herren Länder. Mein Obst und Gemüse hatten mehr von der Welt gesehen, als ich jemals sehen würde, stammte aus computergesteuerten Gemüsegärten unter riesigen Plastikwogen. Aber davon abgesehen, war alles wie im Garten der Großmutter: Es wurde angebaut, geerntet, konserviert und verpackt. Bunte Dosen mit schrillen Aufschriften zeigten grüne Weiden, reife Getreidefelder, glückliche, frei laufende Feldarbeiter und hatten Logos, die von Glück und Freiheit und Wohlstand sprachen. Vom Paradies. Von Pleasure. 
ch träumte von Eden und der Frucht. Ich fühlte mich ihnen nah, wenn ich durch die Gänge der Lebensmittelgeschäfte wanderte, die Fülle auf mich einwirken ließ und den frohen Werbebotschaften lauschte. Beschwingt übersah ich das Kleingedruckte, denn im Paradies gab es keine Beschilderung. Es erzählt eine ganz andere Geschichte als die bunten Bilder. Es erzählte davon, dass das Paradies dabei war, in unerreichbare Ferne zu rücken. Dass aus der untertänigsten Nahrung durch emsiges Optimieren eine Narrung geworden war. Ich sagte mir dennoch: Eden wartet auf mich: der Baum, das Gras, die Schlange. Und die Frucht. 
Gott vertrieb Adam und Eva aus dem Paradies und ließ die Cherubim den Baum des Lebens mit Schwertern bewachen. Damit war klar (Trump: Gut zuhören!): Das Paradies ist kein Vergnügen. No pleasure at all. Der Weg ins Paradies führt durch Mist und Ungeziefer, durch Misserfolgen, Schrunden und Sonnenbränden. Am Ende wartet ein Abziehbild dessen, was in makelloser Form im Supermarkt angeboten wird. Erdig, kleiner, unansehnlicher und trotzdem eine Frucht, die ein Stück des Paradieses in sich trägt. Sie hatte mit ihren Wurzeln tief in die Erde gespürt, sich Sonne, Regen und Wind entgegengestreckt. Wenn sie schwer trug, nahm ihr jemand die Last ab und am Ende des Jahres flüsterte jemand ein Dankeschön. Man hatte sich um sie gekümmert wie um ein lebendes Wesen. Sie hatte Zuneigung gespürt und war daran gewachsen. 
Ich hatte mein Leben an einer vollkommenen Frucht ausgerichtet. Die Schlange aber hatte ich aus den Augen verloren, während ich an Erde und Schweiß und Großmutters schwielige Hände gedacht hatte und daran, wie ich all dies vermeiden konnte. Die Schlange war da. Sie war nicht nur eine Handvoll Konzerne, die aus der Landwirtschaft eine Industrie gemacht hatten. Sie war nicht nur die Marketingbranche. Mit jeder Reportage über die Agrar-Multis spannte meine Haut mehr, bis sie platzte und ich erkannte: Die Schlange war ich. Mit jeder Tomate, die niemals ihre Wurzeln in Erde gesteckt hatte, mit jeder Orange, die in einem Hochsicherheitstrakt reifen musste, weil die Pestizide wirkungslos blieben, mit jeder  Kaufentscheidung, bestahl ich mich selbst um ein Stück Paradies, nämlich jenes auf Erden. Ich und alle, die dachten wie ich. Wir wollten es billig und bequem. Wir waren uns sicher, dass wir machen konnten, was wir wollten, dass Eden wartete. Sollte es doch. Was aber würde mich tatsächlich erwarten, wenn ich weitermachte wie bisher? Ich besah mir meine gepflegten Hände und fragte mich, wieviel mir das Paradies wert war. Mir fielen die süßen Früchte ein, die wir als Kinder genascht hatten, und Großvaters strenger Blick.           
 
 
  

Gudrun Breyer
Geb. 1975, lebt in St. Pölten, arbeitet als Erwachsenenbildnerin in einer Kompetenzanerkennungsstelle in Wien. Etliche Lesungen. Veröffentlichungen zuletzt in &radieschen, DUM und etcetera. Beitrag in der E-Book-Anthologie „Kreative Viecher“.