80 / Scham/Charme / Andi Pianka: Adam & Eva @Woodstock

Nachdem Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden waren, wischten sie ihre Finger auf ihren Smartphones auf der Suche nach alternativen Unterbringungsmöglichkeiten, um nicht obdachlos zu werden.


„Airbnb bietet da in Bethlehem einen Stall zum Übernachten an, singende Hirten inklusive“, fand Eva zuerst heraus. Doch Adam blieb da eher reserviert: „Vermutlich mit der üblichen neunmonatigen Reservierungsfrist verbunden, also wird’s wohl eher nichts werden. Und Schaf und Ochs sind da womöglich
auch noch mit im Zimmer“. Doch Eva ließ nicht locker: „Nein, schau, für positive Rückmeldungen auf einer Bewertungsplattform gibt’s Gold, Weihrauch und Myrrhe geschenkt“.


Der überaus gerne weihrauchende Adam ließ sich auf diese Weise überzeugen und so setzten sich die beiden auf den nächsten Uber-Esel und ließen sich nach Bethlehem chauffieren. Leider hatte sich der Uber-Esel den Ort nicht exakt notiert und setzte stattdessen die beiden nach einer Bergund
Talfahrt, auf welcher sie auch oktopussig über den Atlantik gingen, in Bethel ab, welches sich im US-Bundesstaat New York befand. Es war Mariä Himmelfahrt anno domini 1969.


Dort angekommen, begegneten sie vielen jungen Menschen, die sich offenbar auf dem Weg zu irgendwelchen Dionysien oder Bacchanalien befanden. So zogen auch Adam und Eva ihnen nach, um das Ziel dieser Hadsch zu ergründen. Dieses fanden sie in Form einer Bühne vor, auf der sich gerade ein
indischer Yogi breit gemacht hatte und eine Rede hielt.


Danach kamen auf die Bühne immer wieder MusikerInnen, welche zum Erstaunen von Adam und Eva nicht etwa auf einer Lyra oder einem Aulos spielten, sondern auf ihnen völlig unbekannten modernen Instrumenten. Ja, selbst die Kithara hatte ein für sie recht seltsames Aussehen. Die beiden
kamen aus dem Staunen nicht heraus und schossen ein Foto nach dem anderen, um die besten davon auf Insta zu posten. Ask und Embla würden diese wohl sicher teilen.


Es war bereits nach Mitternacht, als ein junger Mann auf der Bühne „Amazing Grace“ sang, eines von Adam und Evas Lieblingsliedern. Ehe kurz darauf eine junge Frau mit „Oh Happy Day“ fortsetzte, einem weiteren musikalischen Favoriten der beiden. So fühlten sie sich auf dieser religiösen Veranstaltung immer wohler. Die betreffende Musikerin schien ja schließlich auch Jeanne d’Arc oder zumindest so ähnlich zu heißen. Nach „We Shall Overcome“ war es dann aus und das nomadische Publikum ging in seine Zelte schlafen.


Nur Adam und Eva standen wieder einmal obdachlos da. Doch auf einmal kam ihnen Diogenes von Synope entgegen, mit dem Adam und Eva auf facebook befreundet waren. Diogenes war allgemein dafür bekannt, in Fässern zu übernachten, so nützten die beiden gleich die Gelegenheit, um ihn zu
fragen, ob es denn auf diesem Messegelände leere Fässer geben würde, in denen man die folgende Nacht verbringen könne. Da blühte Diogenes gleich zur Hochform auf: Ja, es würde hier jede Menge leere Bierfässer geben, in die man gleich einkehren könne. Wobei er persönlich jene von Budweiser,
Starobrno oder Kozel am ehesten empfehlen würde.


Obwohl Adam und Eva Diogenes für einen ausgewiesenen Bierexperten hielten, waren sie viel zu müde, um nach den besten Bierfässern zu suchen. Deshalb schlüpften sie rasch ins allererste hinein, das sie am Weg fanden. Es war ein Stiegl-Bierfass, welches allerdings über den Vorteil verfügte,
Stufen zum Eingang zu haben, wodurch trotz der dunklen Nacht das Eintreten nicht allzu schwer vonstatten ging. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag.


Am zweiten Tag verließen sie das Fass und begaben sich wieder in Richtung des Circus Maximus. Am frühen Nachmittag betrat dort ein Sänger mit seiner Musikgruppe die Bühne, welchen sie als „Satana“ angekündigt verstanden. Schon stellten sie sich voller Schauer auf brennende Pentagramme
und Unkeuschheiten zwischen Luzifer und Beelzebub ein und wollten deshalb das Festgelände wieder verlassen, ehe sie darüber aufgeklärt wurden, der Name des jungen Mann hätte ethymologisch gesehen etwas mit Heiligkeit zu tun und er selber würde dem Land der Maya und Azteken entstammen.
Mit den Azteken waren Adam und Eva dann doch ziemlich leicht zu locken. Schließlich hatten sie damals im Garten von Montezuma II. die besten Tomatln ihres Lebens gegessen. Aufgrund der dort herrschenden Prohibition natürlich illegalerweise, wodurch sie wieder einmal aus einem Garten vertrieben worden waren. Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere. Nach ihrer Vertreibung aus dem aztekischen Paradies hatte ihnen übrigens der Spanier Hernán Cortés eine Freundschaftsanfrage geschickt, um sie zu seinen Alliierten zu machen. Doch Adam und Eva waren intelligent genug, um seine unedlen Absichten zu erkennen. Sie waren zu einer Rache an Montezuma um den Preis einer Auslöschung des Aztekenvolkes sicher nicht bereit. Es war viel mehr an der Zeit für Peace and Love and Flower Power.


Mittlerweile war es wieder Mitternacht vorbei. Einige weitere konzertante Darbietungen waren vergangen, als eine junge Frau die Bühne betrat, welche (also die Frau und nicht die Bühne) so wirkte, als hätte sie nebst des üblichen Apfels auch noch andere Früchte aus dem Paradies konsumiert, die
sie näher zu den Gottheiten des Olymp und des Himalaya zu führen schienen. Eines ihrer Lieder nannte sie einen kosmischen Blues. Ein anderes Lied dieser Sängerin und der sie begleitenden Musiker verstanden Adam und Eva aufgrunde ihrer eher suboptimalen Englischkenntnisse als Friede des
Herzens. Aber wie immer fragten sie sicherheitshalber bei umherstehenden Menschen nach und erfuhren, es würde nicht um „Peace“, sondern um „Piece of My Heart“ gehen. Eine selbsternannte Voodoo-Hexe meinte zudem, dass jene Musikerin ihr unlängst ihren Mercedes Benz gestohlen hätte
und zur Strafe dafür nur noch höchstens 14 Monate zu leben hätte. Denn 14 wäre ihre, also der Voodoo-Hexe, Unglückszahl.


In jener Nacht hörten sich Adam und Eva noch eine Musikantengruppe an, die dem Namen nach wohl aus dem Reich der Eulen zu kommen schien. Passend zur Uhrzeit. Ein gewisser Tommy bildete den Rahmen ihrer Lieder, in denen es u.a. um „My Generation“ ging, also wohl vermutlich um jene der Gründerväter Amerikas rund um Thomas Jefferson. Um dieses Mysterium wusste zumindest Adam ja bescheid: Denn wo ein Jefferson, dort natürlich auch ein Adams. Der zweite und der dritte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika starben nämlich beide exakt am fünfzigsten Jahrestag von deren Unabhängigkeitserklärung.


Und wieder war es Nacht respektive eigentlich bereits Morgendämmerung. Aber Adam und Eva wollten sich doch nochmal zumindest ein wenig Schlaf gönnen, nachdem sie informiert worden waren, es stünde noch eine dritte Festivalnacht bevor. Mit Airbnb würden sie auf dem Festivalgelände vermutlich eher keinen Erfolg haben, aber vielleicht stünde ja auf Couchsurfing am Festivalgelände eine leere Couch bereit? Wobei ihr letztes Couchsurfing in Wien (ja, sie konnten sich noch an die genaue Adresse erinnern: Berggasse 19) zu einem Fiasko geraten war. Der dortige Gastgeber, ein gewisser Doktor Freud, hatte ihnen, sobald sie auf der Couch gelegen waren, andauernd Fragen gestellt, anstatt sie in Ruhe schlafen zu lassen.


Da fiel auf einmal vom Himmel neben sie ein Zelt herab. Und Jahwe sprach: „Gehet hin in Frieden!“. Die beiden gingen also hinein, machten dort nicht nur Peace, sondern auch Love, und Adam erkannte Eva. Zumindest mit Hilfe einer Taschenlampe. Adams Charme ließ Evas Scham erröten. Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag.


Nachdem sie am dritten Tage auferstanden waren, hinterließen sie ein leeres Zelt, in welchem es sich später zwei Engel bequem machen sollten. Adam und Eva fühlten sich bereit für den nächsten Tag der Festivitäten. Auf der Bühne sang ein junger Mann gerade ein Lied über Nächstenliebe, welches sich „With a Little Help from My Friends“ nannte und (wie sie von neben ihnen stehenden Menschen auf Nachfrage erfuhren) ursprünglich auf irgendwelchen englischen Pilzen gewachsen war. Kurz, nachdem der Musiker mit seinem Programm fertig war, fielen Blitz, Donner und Regen auf die Menschheit hernieder. Da begegneten Adam und Eva mitten in dieser Sintflut ihrem Vetter Noah, welcher an der Leine eine Arche hinter sich herzog. „Steiget ein, immer zu zweit von jeder Art, ein Dollar der Eintritt, Artisten, Tiere, Attraktionen auf meiner Arche! Außerdem: Bier, Bier, kaltes Bier, ein Dime das Stück!“, promotete Noah sein Schutzboot. Das ließen sich Adam und Eva nicht zweimal sagen und nahmen prompt das Angebot an. An Bord angekommen, begaben sie sich sogleich in den Filmprojektionsraum, in welchem sie sich einige Stunden lang Folgen einer Netflix-Serie namens „Genesis“ anschauten, bis sie irgendwann einschliefen.


Als der Regen dann endlich nachzulassen schien, schickte Noah Brieftauben an seinen Kumpel Petrus und an die US-Wetterbehörde – jeweils mit der Anfrage, ob er seine Schäfchen und Zicklein ins Trockene bringen könne. Denn in Wirklichkeit waren es bis auf Adam und Eva nur gerade einmal zwei Schafe und zwei Ziegen gewesen, welche Noahs Mitfahrbörse angenommen hatten. Und dann noch einmysteriöser Mercedes Benz, welcher gleichzeitig mit den beiden Ziegen angekommen war. Da tauchte plötzlich aus dem Nichts ein Regenbogen auf – das vereinbarte geheime Signal, wieder an Land zu gehen. Es wurde Abend und es wurde Morgen: dritter Tag.


Es war schon längst nach Sonnenaufgang, als Adam und Eva – nachdem sie sich nochmals erkannt hatten, diesmal mittels einer E-Kerze – auf einem E-Scooter die Arche verließen, um sich auf Weiterreise zu begeben. Da hörten sie aber doch tatsächlich eine Musi spielen. Es war Montag vormittags und laut den ihnen mitgeteilten Informationen wäre diese Festivität schon längst vorbei gewesen. Doch einer spielte immer noch. Also begaben sich Adam und Eva noch ein letztes Mal vor die Bühne, vor welcher sich nur mehr wenige Menschen eingefunden hatten. Ein junger Mann mit einer neuartigen Kithara, welche er an einer Art Leine führte, schien das verbliebene Publikum zu begeistern. Als er ein Lied namens „Voodoo Child“ zu spielen begann, gesellte sich wieder die Voodoo-Hexe vom Vortag zu Adam und Eva und meinte: „Auch ihn wird binnen 14 Monaten der Tod ereilen, merkt euch das!“ Die Voodoo-Hexe wurde den beiden zunehmend unheimlicher und sie befürchteten bereits, auch von ihr eine Lebenserwartung von 14 Monaten prophezeit zu bekommen (und das, obwohl es in der Netflix-Serie „Genesis“, die sie sich auf Noahs Boot angeschaut hatten, geheißen hat, Adam würde 930 Jahre alt werden, aber bezüglich Eva fehlte dort jegliche Altersprophezeiung). Da setzte der Musiker auf der Bühne gerade zu einem patriotischen Musikstück an – zur Nationalhymne der Vereinigten Staaten von Amerika. Adam und Eva hatten diese zwar gekannt, waren aber doch sehr davon überrascht, wie so völlig anders diese gespielt werden kann. Offenbar hatte der neue amerikanische Präsident Richard Nixon ein neues Arrangement in Auftrag gegeben, welches nun von jenem Musiker zur feierlichen Premiere dargebracht wurde.


Es war Montag Mittag, als die Musik aufhörte und es nun endgültig an der Zeit war, das Gelände zu verlassen. So fragten Adam und Eva über Whatsapp bei Noah nach, wohin er mit seiner Arche denn weiterzufahren vorhätte. Er nannte das Mittelmeer als sein nächstes Ziel, weil dort seine Arche gebraucht würde, um Menschen aus nicht seetüchtigen Schlauchbooten retten zu können, da ein selbsternannter Salvinist in Italien die Challenge „Schifferl versenken“ ausgerufen hätte. Adam und Eva beschlossen daraufhin, sich Noah anzuschließen, weil auch sie Richtung Europa wollten. Auf der Überfahrt begegneten sie einer schwedischen Jugendlichen, welche untitanisch mit Thunanstatt Eisbergen in die Gegenrichtung segelnd und ebenfalls im Dienste einer guten Sache unterwegs war, nämlich um eine Heißzeit auf Erden zu verhindern. Kurz vor den Säulen des Herakles trafen sie dann auch noch auf fünf Schiffe, die gerade aus einem spanischen Hafen ausgelaufen waren, um die Erde zu umrunden, wie ihnen der Expeditionsführer Magellan berichtete. Nachdem Adam und Eva ursprünglich geplant gehabt hatten, nur bis zur Straße von Gibraltar mitzukommen, um von dieser per Autostopp
weiterzureisen, konnte Noah sie schlußendlich dazu überreden, ihn bei seiner Arbeit im Mittelmeer zu unterstützen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann segeln und erkennen sie sich dort noch immer. Ganz schamlos mit Schirm, Charme und Zitrone.


Andi Pianka
Geb. 1978 in Katowice (Polen), seit 1983 in Wien wohn-, sess- & lebhaft. Literarisch aktiv (Lyrik, Kurzprosa, Kurzdramen & jede Menge dazwischen) ab ca. der Jahrtausendwende. Seit 2006 über 250 Auftritte bei Poetry Slams inner- und außerhalb Österreichs (davon über 30 gewonnen) sowie bei vielen Open Mics & Lesungen (u.a. Eröffnungslesung bei der KriLit 2017). Einige Dutzend Veröffentlichungen in Anthologien & Literaturzeitschriften. (Mit-)Organisator von kulturellen Veranstaltungen (u.a. mit melamar des farce vivendi Open Mic). 6-facher Gewinner des LitGes-Poetry-Slam bzw. seit 2017 (mit Marlies Eder) deren Co-Moderator.