80 / Scham/Charme / Barbara Rieger: Nie wieder (Nr. 83)

1.
Die Therapeutin. Meint, ich soll zwei Mal die Woche kommen. Dass ich mit Mitte dreißig wieder zur Therapie gehe. Schlimm genug. Ich hätte den Selbsthass nicht erwähnen sollen, der Selbsthass hat sie alarmiert. Hätte ihr den Grund für den Selbsthass nennen können, aber. Man kann nicht alles sagen, wenn man nur einmal in der Woche zur Therapie geht und. Ich wollte auch nicht. Wozu. Sie würde mich fragen, warum. Ich würde sagen: Ich weiß es nicht. Drei Mal würde ich sagen: Ich weiß es nicht. Dann würde ich sagen: Aus irgendeinem Grund habe ich mich dazu verpflichtet gefühlt, aus irgendeinem Grund habe ich mich zur Verfügung gestellt und sie würde den Kopf schütteln und mich wieder fragen, warum. Warum. Weil ich es früher einmal gewollt habe, weil ich mich früher danach gesehnt habe, weil ich wissen wollte, wie es ist und weil es jetzt getan werden konnte und. Vielleicht auch wegen A. Vielleicht habe ich gedacht, wenn A. mich so schnell ersetzen kann, kann ich das auch. Aber nein. Nicht mit B. Ich versuche also die Bilder von B. zu verdrängen. Das ist ohne die Therapeutin schon schwierig genug. Verdrängen. Hat bei mir noch nie funktioniert. Ich versuche also die Bilder von B. in mir auszuhalten. Ich denke: Wenn es sich so anfühlt, dann machst du das ganz einfach nie wieder. Ich sage es laut: Nie wieder. Die beiden Wörter, die mir am allermeisten Angst machen.


2.
B. kann nichts für meinen Selbsthass, oder. Im Unterschied zu A. meint er es gut mit mir, vielleicht. Er spielt mir nichts vor, er bietet mir etwas an. Das ich nicht will, daher. Der Selbsthass. Der Moment, in dem ich den Selbsthass zum ersten Mal wieder gespürt habe: Ein Streit, einer der Streits mit A. Ich habe etwas gesagt, er hat etwas gesagt, er hat mich angeschrien, ich habe zurückgeschrien, wahrscheinlich. Wahrscheinlich habe ich seinen Namen gerufen, es war mehr ein Flehen, vielleicht. Genutzt hat es jedenfalls nichts. Nichts hat genutzt, wenn ich ihn verletzt, wenn ich es übertrieben, wenn ich das Falsche in der falschen Form, zum falschen Zeitpunkt, wenn ich ihn wütend gemacht, ihn angefleht habe sich zu beruhigen, alles vergeblich und dann. Der Selbsthass. Hat mich auch alarmiert. Erinnert an früher. Die Streits mit der Mutter. Wie sie erst nachgegeben hat, wenn ich angefangen habe, mich selbst zu schlagen. Später einmal habe ich sie geschlagen, sie einmal mich und dann, naja. Aber A. war gut. Danach war er lieb zu mir. Niemals eine Entschuldigung, aber er hat etwas gekocht am nächsten Tag oder mir Schokolade gebracht, manchmal sogar Blumen. Im ersten Jahr. So lange, bis er sicher sein konnte, dass ich es aushalte. Dass ich bleibe, oder. Dass er bleiben kann. Meine Wohnung: Zentral. Groß. Balkon. Badewanne. Sein eigenes Zimmer. Hat ihm gefallen. Aber ich habe nicht zwanzig Jahre lang Therapie gemacht, um dann. Hätte früher wieder zu meiner Therapeutin, hätte früher irgendwem erzählen können, wie er ist, hinter der Fassade, aber. Liebe, dachte ich. Werfen Sie ihn raus, hat die Therapeutin gesagt, hat dann jeder gesagt, hab ich auch gemacht. Er hat eine Zeit lang gewartet, ob ich es mir anders überlege. Ich habe auch gewartet: Ob er sich entschuldigt, mir sagt, dass er mich gern hat, sich bessern will, diese Dinge, weil. Gern hatte ich ihn. Begehrt habe ich ihn, what the fuck. Und what the fuck: noch immer. Das kann ich der Therapeutin nicht sagen, weil. Das kann ich ihr nicht antun. Nach all den Jahren Therapie. Dass ich jetzt immer noch feucht werde, wenn ich ihn im Büro sehe, seine Stimme höre, dass ich beim Masturbieren noch immer an ihn denke. Dass ich komme, während ich mir vorstelle ihn umzubringen. Das vielleicht. Aber dass ich ihn vermisse, nein. Dass ich mich dafür hasse, ja. Aber zwei Mal die Woche Therapie, das kann ich mir einfach nicht leisten.


3.
Fortschritte. C. hat mich zum Essen eingeladen. Er hat es mitgekriegt, so wie alle. Ich war verliebt in C., damals, aber er wollte nur Sex. Jetzt, beim Essen hat er gesagt, er sei wieder offen, er suche eine Beziehung. Viel Glück, habe ich gesagt. Nichts gespürt, kein Verlangen. Die Übelkeit am nächsten Tag nur vom Essen und Trinken und Rauchen: Aperitif, Vorspeise, Hauptspeise, zwei Falschen Wein, Dessert, Digestiv, eine Packung Zigaretten. Damit er gar nicht auf die Idee kommt nach meiner Hand zu greifen. Damit er sieht, wie ich das Leben genießen kann. Es soll nicht aussehen, als könnte ich nicht mehr genießen, nicht mehr essen, als würde ich immer weniger werden ohne A., verschwinden. Ich zwinge mich: Frühstück, Mittagessen, Abendessen, ich zwinge mich, obwohl. Ich will nicht, keinen Appetit. Ich zwinge mich zu essen, sonst breche ich zusammen und den Gefallen tue ich ihnen nicht. Die Therapeutin sagt, ich könnte die Abteilung wechseln. Den Gefallen tue ich ihm auch nicht. Wenn ich zehn Jahre jünger wäre, hätte ich mir das vielleicht länger angetan. Vielleicht ist D. stärker als ich, gescheiter als ich, obwohl. Das Leuchten in ihren Augen. Ich weiß nicht, ob ich sie warnen oder beneiden soll. Sicher beneide ich sie um das, was sie noch nicht weiß. Wenn sie Glück hat, findet sie es nie raus und falls doch. Ob wir dann eine Selbsthilfegruppe gründen. Wie schnell er mich ersetzt hat. Wie er der ganzen Firma zeigt, wie leicht ich ersetzbar bin, jeden Tag. Ich könnte die Firma wechseln, aber. Ich setze mein Pokerface auf. Ich bin nett zu D. Bin auch nett zu A. Warum, würde die Therapeutin fragen.


4.
Die Männer, nein. Meine Gefühle für die Männer. Ich brauche keine Therapeutin, um den Zusammenhang zu verstehen. Brauche sie, um wieder aufzuhören, irgendwann, vielleicht, aber. Will gar nicht aufhören. Es ist gut so. Nicht für immer, aber. Was ist schon für immer. In der Früh stehe ich auf. Dusche. Wasche mir die Haare. Putze mir die Zähne. Trinke Kaffee mit Milch. Meistens schaffe ich es, ein bisschen Milch übrig zu lassen. Putze noch mal die Zähne. Überprüfe mein Gesicht. Erstaunlicherweise ist alles in Ordnung, nur die Mundwinkel, naja. Ich fahre mit dem Rad ins Büro, begrüße D. an der Rezeption, sehr freundlich, begrüße C., freundlich. B. ist im Außendienst, er weicht mir aus, weil. Ist wohl ein bisschen gekränkt, dass ich keine
Affäre mit ihm haben will. Ich mache meine Arbeit, gut wie immer. Manchmal muss ich mich mit A. absprechen, wir verstehen uns, auf einer inhaltlichen Ebene verstehen wir uns gut, er ist auch nicht ungut zu mir, er ist gut, in vielen Bereichen, er kann das, die Leistung der anderen als seine eigene verkaufen, er kann das, sich nach oben schlafen. Wird irgendwann die ganze Abteilung übernehmen. Dann kann ich immer noch die Firma wechseln. Eine Zeitlang sehe ich noch zu. Warte, ob mir etwas einfällt, irgendetwas. Vielleicht dann gemeinsam mit D. Wenn er sie fallen lässt. E. aus dem Vorstand wird die nächste sein, sicher. Ich schaue mir das an, spüre nichts. Keinen Hunger. In der Kantine, zu Mittag, esse ich möglichst gesund: Vitamine, Proteine, Ballaststoffe, was man so braucht. Abends fahre ich mit dem Rad zum Supermarkt, jeden Tag zu einem anderen, kaufe: Weißbrot, Butter, Schinken, Käse, Wurst, Chips, verschiedene Tafeln Schokolade, Kekse, Joghurt, Fertiggerichte, abwechselnd Pizza oder Lasagne, etwas zu trinken: Saft, Sprudel und zur Sicherheit ein Bier. Schiebe dann die Pizza oder die Lasagne in den Ofen, ziehe meine Jogginghose an, setze mich vor den Fernseher, trinke einen Liter Wasser und dann. Manchmal zuerst süß, zum Beispiel eine Tafel Schokolade, manchmal zuerst salzig, das Brot mit der Butter und der Wurst und dann immer abwechselnd: süß und salzig, dazu Wasser, immer genügend Wasser, weil. Mit dem Wasser geht es viel leichter, wie von selbst, tut fast nicht weh. Danach auch wieder Wasser, weil. Nicht dehydrieren. Es ist so viel leichter als damals, ich bin so routiniert, erwachsen, habe alles unter Kontrolle, es geht auch nicht um mein Gewicht, mein Gewicht ist konstant. Wenn die Erschöpfung, die Leere alleine nicht ausreicht, trinke ich das Bier, das Bier bleibt, die Elektrolyte. Vor elf bin ich im Bett, bin konsequent und brauche: niemanden. Jede Therapiestunde wäre rausgeworfenes Geld.
Am Wochenende dann. Ausschlafen, Sport machen, einkaufen für Sonntag. Freunde. Niemandem fällt etwas auf. Und die Dates. So einfach. Oder einfach ausgehen, so wie früher, aufreißen und aufreißen lassen. Zu mir nach Hause kommt keiner, nie mehr. Wir gehen zu ihm oder ins Hotel, wenn er eine Frau zu Hause hat. Die meisten wollen nur Spaß, also. Sex. Manchmal ist es gut, also. Nicht schlecht. Manche wollen das wiederholen, aber. Viel zu gefährlich. Nur K. war irgendwie anders, hatte Interesse an mir. Hat für mich gekocht am nächsten Tag und ich habe überlegt, ob. Vielleicht melde ich mich bei ihm, wenn. Wenn ich wieder etwas bei mir behalten kann.


Barbara Rieger
Geb. 1982 in Graz, lebt in Wien und im Almtal (Ober÷.), gibt mit Alain Barbero den Literatur- und Fotoblog „cafe.entropy.at“ heraus, aus dem die Bücher „Melange der Poesie“ (Kremayr & Scheriau 2017) und „Kinder der Poesie“ (K&S 2019) hervorgingen. Romandebüt „Bis ans Ende, Marie“ (K&S 2018). Arbeitet derzeit an einem Roman über Bulimie.