80 / Scham/Charme / Hahnrei Wolf Käfer: Digitale Pressungen / Zehn Klischeekyoka ohne Charme

„Sie sind Konto, wird gesperrt” Eine solche Nachricht auf dem Bildschirm mag noch erheitern, zumal wenn sich die angeblich so etwas aussendende Bank Erste Österreichische Sparkassa nennt. Mögen auch ganz allgemein erhebliche Zweifel an den Deutschkenntnissen österreichischer Bankangestellten bestehen, beruhigt doch die Gewissheit, bei dieser Bank gar kein Konto sein zu können, weil man mit ihr in keinem geschäftlichen Verhältnis steht und einem überdies die Daseinsform als Konto eher wesensfremd ist. Eine ganz andere Sache ist, wenn eine Nachricht am Bildschirm aufgeht, die in korrektem Deutsch verfasst einem kundtut, man sei beim Betrachten eines Minderjährigen-Pornos gefilmt worden, wobei man onaniert habe. Diese intime Mitteilung ist mit dem fürsorglichen, die Privatsphäre schützenden Zusatz versehen, man könne mit der Überweisung einer gar nicht so exorbitanten Geldsumme verhindern, dass dieser Mitschnitt eines nicht just für die Öffentlichkeit gedachten Vergnügens zum fragwürdigen Vergnügen der Öffentlichkeit online gestellt werde.
Was tun?

Zuerst einmal nachdenken. Nachdenken schadet nie. Erwägung aller Möglichkeiten. Zweitens verkleben des Kameraauges am Laptop, das kann keinesfalls schaden, man verwendet diese Bildkommunikation ohnedies schon deshalb nie, weil man seinen eventuell nicht ganz morgenfrischen Gesichtsausdruck Mail-Partnern ersparen möchte, aber auch, um nicht mit möglicherweise stark gelangweilter Mimik Sätze wie „Ihr Angebot ist äußerst interessant...” oder „Können Sie uns Näheres über Ihre spannenden Vorhaben mitteilen...” zu konterkarrieren. Nach dieser vermutlich übertrieben schreckhaften, allerdings im Falle, man wollte doch einmal bildkommunizieren, leicht rückgängig zu machenden Maßnahme beschließt man - drittens - als höflicher Mensch, das Schreiben nicht zu ignorieren, sondern sich zu einer der spezifischen Art und dem Gewicht der Angelegenheit, jedoch keineswegs der Geldforderung Rechnung tragenden Antwort aufzuraffen. „Sehr geehrter Herr Anonym 326438 J, herzlichen Dank für Ihr Schreiben”, schreibt man, eine bessere Anschrift hat man nicht zur Verfügung, also herzlichen Dank für Ihr Schreiben und für die Übersendung der Kontonummer, was die Sache viel einfacher macht als das Hinterlegen eines geldgefüllten Briefumschlags in einer Telefonzelle oder dergleichen. So eine Überweisung lässt sich ja vom Schreibtischsessel aus erledigen, wenn einem das Vertrauen in Telebanking nicht allzusehr untergraben worden ist, was Sie freilich mit Ihrem Schreiben taten. Was ist, wenn meine Überweisung gar nicht bei Ihnen ankommt, weil etwa ein anderer so klug wie Sie war und in Ihr System eingebrochen ist und seine an die Stelle Ihrer Kontonummer gesetzt hat? Dann haben weder Sie noch ich etwas davon, mein Geld ist verloren und das Onaniervideo geht, weil Sie kein Geld erhalten haben, ins Netz. Wie wollen wir diese unliebsame Möglichkeit, dass ein anderer an Ihrem genialen Coup verdient, ausschließen? Und wie, näherliegend, wollen wir die Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass nach Überweisung des Geldbetrags, das Video gar
nicht gelöscht wird, sondern erneute Forderungen von Ihnen erhoben werden, weil doch die Überweisung schon wie die Bestätigung der möglichen Existenz so eines Videos gedeutet werden muss, selbst wenn es dieses Video gar nicht gibt.
Es ist übrigens völlig nutzlos, mir als Beweis Ihres Besitzes solcher Aufnahmen etwa in einem Mail-Anhang Ausschnitte davon zu übersenden, weil ich erstens ohnedies weiß oder mir zumindest vorstellen kann, wie ich bei lustvoller Beschäftigung mit mir oder anderen Menschen aussehe, und meine Neugier, das durch irgendwelches Bildmaterial, mag es echt sein oder Fotoshop, vorgeführt zu bekommen, sich nicht nur in Grenzen hält sondern grenzenlos nicht vorhanden ist. Zum anderen bin ich, fürs allgemeine und vor allem Ihr Verständnis sicherheitshalber vereinfacht gesagt, nicht deppat genug, den Anhang eines anonymen Mails zu öffnen, da hätten Sie sich gewiss in Ihrer Einschätzung meiner Person, mögen Sie auch glauben, in noch so intime Bereiche Einblick zu haben, wahrlich schwer getäuscht.


Es lässt sich, darauf möchte ich auch noch aufmerksam machen, aus einem Einzelfall nicht auf den Charakter, und aus einem isolierten Video, mag es noch so pixelscharf sein, nicht auf die Gesamtpersönlichkeit schließen. Sie würden sich wahrscheinlich bei so manchem Koch, der in der Küche noch mit beiden Händen den Salat gemischt und sich davor sogar die Finger abgeschleckt hat, wundern, wie vornehm er hernach bei Tisch gabelt und löffelt und jegliche Hautberührung mit den Speisen vermeidet. Sie können also gar nicht ahnen, wie sollten Sie auch, welch große Freude Sie mir mit Ihrer Zuschrift
bereitet haben. Auch wenn ich annehme, dass keinen einzigen vernünftigen Menschen hier auf der Welt sonderlich interessiert, wie ich mich beim Onanieren ausnehme, und mit noch größerer Sicherheit annehme, dass jeder halbwegs verstandesgeleitete Mensch, so es ihn doch interessierte, dieses Interesse und seine Befriedigung durch das Video nicht anmich herantragen würde, hatte die durch Ihr Schreiben suggerierte Vorstellung, dass ich im Netz, also öffentlich, mich meiner Lust an mir selbst hingebe, überraschend anregende, ja befreiende Wirkung auf mich. Es war, als würde man den Koch, der sich bislang immer etwas geniert hat wegen seiner derben Salatmischgewohnheiten und diese zu verbergen gesucht hat, für eine Küchensendung im Fernsehen filmen, wodurch seine Vorgangsweise gleichsam legitimiert und sein Genieren zum Verschwinden gebracht wurde.


Weit entfernt, je mit dem Gedanken zu spielen, wie Diogenes am Marktplatz mir öffentlich Befriedigung zu verschaffen, und mindest ebenso weit entfernt, auch nur die geringsten Exhibitionistenwünsche, die etwa auch so erhaben dichtende Menschen wie Stefan Zweig herumgetrieben haben, in mir zu vermuten, merkte ich anhand ihres Schreibens und der damit in mir hervorgerufenen Bilder und Bildfolgen, wie wenig man sich selbst kennt. Allein die nicht gerade bescheidene, Ihnen zu verdankende Vorstellung, hunderte, tausende, ja Millionen Zuseher zu haben, versetzte mich in einen unerwarteten, unaufhörlich anschwellenden Taumel, der mir augenblicklich die Hose zu eng werden ließ. Nahezu ohne mein Zutun öffnete sich diese und zu meiner eigenen Verblüffung erfasste mich, der sonst immer so auf Diskretion bedacht war, eine Darstellungslust ungeheuren und vorher nie erlebten Ausmaßes. Bei mir sind Sie ja mit Ihren Phantasien an den Richtigen gekommen, an einen, den noch immer Dankbarkeit erfüllt, aber Sie sollten sich was schämen, es könnte doch auch einen Falschen treffen, der sich zutode geniert. Kaum war ich damit fertig, Bildschirm und durch die überraschende Überwältigung nicht geschonte Tastatur zu putzen, ging es trotz des verklebten Kameraauges schon wieder los. Millionen imaginierte auf mich gerichtete Augen, eine nie erlebte Genusshöhe verbunden mit einer unglaublichen Produktivität erfasste mich, ich war ausgeliefert, meines Atems, ja fast meiner Besinnung beraubt.


Ich gebe zu, dass es mich trotz der natürlichen Ermattung einige Konzentration und Beherrschung kostet, dieses Schreiben ohne Unterbrechung und neuerliche Aufwallung und wortwörtliche Bildschirmbefleckung zu Ende zu bringen. Gern würde ich Ihnen für diese außerordentliche Freuden, die Sie mir mit ihrer Zuschrift bereitet haben, den geforderten lächerlichen Geldbetrag überweisen, den hätten Sie sich wie jede erfolgreiche Lustdienerin oder Prostituierte gewiss verdient, dankbar würde ich Ihnen den Betrag überweisen, hätte ich nur bei derartigen Hackern, wie Sie einer zu sein vorgeben oder wirklich sind, das Vertrauen, dass die Summe auch bei Ihnen ankommt, und nicht ein anderer von Ihrer Sorte, naja, siehe oben.


Ich bin Ihnen jedenfalls zu nachhaltiger Anerkennung verpflichtet, nachhaltig, weil es mich bereits erneut überkommt, und grüße Sie, bevor ich mich wieder an mich heranmache, herzlichst, Anonymos 326439 J’

 

Zehn Klischeekyoka ohne Charme

Sprachklischees
Sich für jemanden
andern genieren? Das war
früher. Moderner
klingt es, sich fürs Benehmen
anderer fremdzuschämen.


Prominenzklischees
Der ist sicher kein
grindiger anonymer
Alkoholiker
und gewiss kein schamhafter,
sondern ein sehr namhafter!


Luxusklischees
Qualität kostet.
Aber Luxus übersteigt
oft die Schamgrenze.
Es ist vor allem weinlich
mancher Preis mehr als peinlich.


Nationalklischees
Tut sich der Wiener
schamlos neben Darbenden
mit Rülps und Gesülz
an Wein und Stelze gütlich,
nennt er das ‘urgemütlich’.


Erfolgsklischees
Wie trotz mangelnder
Scham er zu etwas kam? Nun
vielleicht hatte er
ja gar nicht trotzdem regen
Erfolg, sondern deswegen.


Streeruwitz’ Punktklischees
Er zog sich schamlos
aus. Bekannten Gründen hin,
der Abend. Später
nackt aus dem Kasten fliehend,
war das auch nicht. Anziehend.


Phobieklischees
Muslimriten wie
das Kopftuch verbieten? Die
Nudistenpartei
zum Ausgleich den Christen droht:
Brüsteverhüllungverbot.


Engagementklischees
Auch sie ist gegen
weibliche Beschneidung, doch
ist unter ihrer
Kleidung nicht alles Natur.
Sprich: Schamlippenkorrektur.


Feminismusklischees
Die Frau bekam von
der Natur doch keine ‘Scham’.
Die wird ihr von der
(Herrschafts?) Sprache zugedacht,
was die Männer schamlos macht.


Eheklischees
Es spießt sich da, es
spießt sich dort seit jenem Ja-
Wort in der Kirche.
Allein ging’s noch. Doch paarig?
Nicht nur die Scham ist haarig.


Hahnrei Wolf Käfer
Geb.1948 in Wien, hier auch Promotion (Theaterwissenschaften, Germanistik, Philosophie), Theaterkritiker, Lehrtätigkeit an der Universität Yamagata/Japan (1978/79), u.a. an japanischen Universitäten Vorträge über österr. Lyrik und Literatur. In Österreich, Organisation von Fachkongressen, Lektor für Zeitschriften, Hörspielregien, TV-Arbeiten, Mitarbeit am Bertelsmann Literaturlex. (Hsg. W. Killy), Jazzmusiker sowie Multimedia-Shows, u.a. Festwochenproduktion 1985 in Wien), Beirat im Ersten Wiener Lese-u. zweiten Wiener Stegreiftheater. Seit 1997 Vorstandsmtgl. IG AutorInnen
Ö. hwkaefer.freejimdo.com - die mit dem täglichen Kyoka