80 / Scham/Charme / Michael Ziegelwagner: Wie man sich richtig schämt

Hier ist das Äußere nicht ohne das Innere zu haben, aber auch das Innere nicht ohne das Äußere. Meint: Ohne einen lodernden Vollbrand in Ihrer Brust, der seine Hitzefäden bis in Ihre Ohren und Wangen hinaufspitzeln lässt, erlangen Sie nicht die rote Gesichtsfarbe, die für eine korrekte Scham so wichtig ist. Meint aber auch: Ohne Kontakt mit dem Außen kommen Sie nicht zu Ihrem Vollbrand. Ein rein innerliches Schämen, wie Sie es jederzeit und leicht herstellen können, indem Sie sich etwa während Ihrer täglichen Busfahrt tief in Ihre charakterlichen Mängel versenken, führt nicht zu dem gewünschten Ergebnis: Kein Mitpassagier wird etwas merken, das Erröten betrifft hier nur die inneren Organe.

Gehen Sie aus sich heraus! Machen Sie Ihre Scham publik! Bedenken Sie: Erst ab 10 Zeugen spricht man von Öffentlichkeit. Achten Sie aber auch auf die Qualität Ihrer Zeugen: 10 Schwerbetrunkene werden sich von Ihren Schambemühungen wenig beeindrucken lassen, einfacher ist es, sich vor 10 Menschen zum Idioten zu machen, deren Wahrnehmung geschärft und deren Meinung Ihnen wichtig ist. Dabei ist zu große Distanz genauso hinderlich wie zu große Vertrautheit: Einen Nobelpreisträger, der Sie gar nicht kennt, können Sie so wenig enttäuschen wie Ihren Ehepartner, der Sie zu gut kennt. Die Menschen, die Scham in Ihnen auslösen sollen, müssen bereits ein Bild von Ihnen haben, und zwar ein positives. Denn nur das kann erschüttert, angekratzt oder zerstört werden.

Aber haben Sie überhaupt den geeigneten Hauttyp, um sich korrekt zu schämen? Zu heller Teint neigt zu Sonnenbrand, vor welchem Hintergrund die Schamfarbe schlecht zur Geltung kommt. Gleiches gilt für hohen Blutdruck, der Ihr Gesicht schon bei geringer Anstrengung rot und schwitzig macht. Bleiben Sie ruhig, ernähren Sie sich ausgewogen, leben Sie gesund. Meiden Sie Solarien und direktes Sonnenlicht, um Ihre Grundfärbung nicht zu verfälschen. Sie haben zu dunklen Teint? Vergessen Sie’s. Sie werden von Ihren eurasisch geprägten Mitmenschen gar nicht als beschämt identifiziert  werden, müssen den Mangel durch starke Schweißentwicklung, fahrige Gesten und Gestotter ausgleichen, aber leider wird nichts davon einen Rassisten auf die Idee bringen, Sie würden sich schämen: Er schreibt Ihr Auftreten nachlässiger Körperhygiene, einem verschlagenen Charakter und schlechten Sprachkenntnissen zu und hält Sie, völlig auf der falschen Fährte, für unverschämt.

Auch wenn oft gefordert wird: „Keine falsche Scham!“, so schämen sich dennoch selten die richtigen. Die, die den größten Anlass dazu hätten, tun es nie, darum haben sie auch keine Übung – ihre Scham wird outgesourced, wofür, wohl wegen des steigenden Bedarfs, eigens der Neologismus „Fremdschämen“ erfunden wurde. Aber auch die mit der größten Neigung zur Scham schämen sich selten: Sie entgehen ihr, das Herannahen der Scham schon lange vorher spürend, durch Wohlverhalten und rechtzeitige Anpassung. Wenn sich also geschämt wird, dann meist aus den falschen Gründen: Weil man nackt ist (dabei ist man für die Beschaffenheit seiner Ansichten viel eher verantwortlich als für die Beschaffenheit seines Körpers), weil man arm und machtlos ist (dabei hätten die Privilegierten viel eher Grund zur Scham), weil man dumm ist (wobei die Dummheit ab einem gewissen Grad wieder in Schamlosigkeit umschlägt, nämlich dann, wenn man sie selbst nicht mehr erkennen kann). Ein Sonderfall der Scham ist die Nationalscham und diese wiederum ein Sonderfall des Nationalstolzes, bei dem man sich einbildet, die in den gleichen Begrenzungen wie man selbst Geborenen seien der schlimmste Auswurf der Menschheit, schlimmer als weiter entfernt Geborene: eine verständliche Meinung, wenngleich eine etwas kurzsichtige.
Einige Schamtrends der letzten Zeit sind die Flugscham, die Konsumscham und die kleine österreichische Scham für zwischendurch, das sogenannte Schammerl. Wer es sich leisten kann, beschämt andere: Hier haben sich alle Arten von Körperscham etabliert („Bodyshaming“), unter denen besonders das „Fatshaming“ zu erwähnen ist. Das schüttelgereimte Pendant zu „Fatshaming“ ist „Jet-Faming“, also das Rühmen („to fame“) des Flugzeugs („Jet“); also Flugrühmen; also das Gegenteil von Flugschämen. Flugscham und Fatshaming schließen einander deshalb aus, und wer als Fluggast so dick ist, dass er zwei Sitzplätze braucht, ist froh darüber.

Auf gar keinen Fall schämen sollte man sich für Wortspiele, denn diese sind, so sagt Hitchcock, „the highest form of literature“.

Michael Ziegelwagner
Geb. 1983 in St. Pölten. Kolumnist der Satirezeitschrift Titanic.
Romane: „Café Anschluß“ (Atrium, 2011), „Der aufblasbare Kaiser“
(Rowohlt, 2014), „SEBASTIAN - Ferien im Kanzleramt (Milena,
2018). Beiträge für Etcetera seit 2001, Nominierung zum Deutschen
Buchpreis 2014. Lesungen bei LitGes-Präsentation 2020.