82 / Zwischenzeit / Prosa / Jonathan Perry: Meditation mit Blick in den endlosen Regen / Sofortbilder

Die Kirsche vor deinem Fenster: Eine Meise hat sich auf einen ihrer höheren Zweige gesetzt, sie schnattert jetzt, dann flattert sie auf, und verschwindet hinter Reihen und Reihen von Regen.
                  Das ist alles. Ein Augenblick. Es gibt nichts als diesen Augenblick.

Aber das genügt dir nicht.
                  Du denkst, es müsse ein tiefer Sinn unter dem Federkleid sich verbergen, im Schwanken des Zweigs, im Geräusch der Tropfen, die auf grüne Blätter prasseln. Du denkst, irgendein ewig währendes, unerschütterliches Gesetz müsse sich offenbaren im wild verzweigten, rätselhaft verästelten Bild vor dir.
                                                     Du denkst.

Es fallen dir Erinnerungen ein.
                  Du siehst am Horizont die fernen Hügel deiner Kindheit, die so fern sind, dass du sie nicht unterscheiden kannst von den Wolken dort, die ruhelos verwehen. Und hier der gestrige Tag, ein Stein, der herumliegt, und von dem du noch nicht weißt, wohin damit.

Vielleicht bleibt er da liegen und Moos wächst drüber und viele Nächte – bis er zerfällt, erst in kleine und immer kleinere Stücke, und schließlich, bald, ist alles, was übrig ist von ihm, ein wenig Sand, zahllose Körnchen, die sich in alle Richtungen verlieren, unkenntlich, ohne Bedeutung.
                  Vielleicht bleibt er da liegen und nichts passiert. Sonnenschein wird sich auf ihn legen, den ein Regen dann abwäscht, Asseln werden unter ihm sich vermehren, Tausendfüßer: Ein schlichter Stein am Wegrand, nach dem niemand, auch du nicht, sich umdrehen wird.

Und morgen?
                  Morgen ist immer ein glückliches Schweigen, ein lächelndes Gesicht, das schläft und schöne Dinge weiß, und du fühlst, du müsstest einmal versuchen, dieses selig-schlummernde Ungewisse nicht zu wecken, es zu umschleichen. Den geringsten Laut vermeidend vorbeischlüpfen. Nichts tun.
                  Dann gehst du ruhiger Schritte wie durch einen kühlen weißen Saal, bleibst da, dort für eine Weile stehen, blickst versonnen vor dich hin – und nichts, kein Schmerz, nichts Düsteres, nichts, nur diese traumbunten Bilder da, von Lichtungen in Wäldern, von Halbschattenspielen auf altem Gemäuer, von Regenlachen, in den Sonnenstrahlen baden …
                  Ist es also das, was du suchst? Selbstvergessenheit? Dieser Verband aus reinem Licht, den man um die Sehnsucht wickelt? Aber so wird sie nur größer.

Und da dein Weg hinauf, vor dir, hinein ins Nichts, an Fichten entlang, die mit leichten Flügeln dir stets voraus sind, ihre Schatten, die dich langsam und wie nebenher verschlucken: gähnend.
                  So ungefähr stellst du dir das doch vor, oder? Und dass du einmal, bald, aus diesem Bild verschwunden sein wirst? Dieses Bild, das dann einer in die Hand nimmt, es umdreht, ein paar Worte schreibt, in einen Postkasten wirft?
Ja, und irgendjemand anderes wird einmal durch dieses Fenster hier schauen, an genau so einem Regentag, wird da stehen, wo du jetzt stehst, sein Blick wird durch den Hof gehen, und vielleicht Halt machen bei der Kirsche, und irgendeine Meise oder eine Amsel wird sich auf einen der Zweige setzen, das Köpfchen hierhin, dorthin recken und –

                  Aber jetzt stehst du hier, und du blickst aus dem Fenster, in den endlosen Regen, und stehst da, und bleibst stehen, ja, geradeso wie diese Kirsche dort, die durchs Fenster starrt aus ihren wirren Fratzen, die ihr das Wetter in die Rinde geritzt hat, und du blickst aus dem Fenster, in den endlosen Regen, der die Scheibe herunterrinnt, unaufhörlich verschwimmt das Grün draußen, mischt sich in den hellgrauen, nahtlos verschmolzenen Wolkenhimmel, in die zum Platzen rosa Rosen, die schwanken, auf und ab, ja, auf und ab …

 

Sofortbilder

Vorzeichen
Weniger als eine Fensterscheibe
trennt
den Friedhof von
der Säuglingsstation.
Und die Uhr, überm Kreuz,
an der wolkenweißen
Wand, tickt.

Obertöne
1
im Blütenduft
des Pfeifenstrauchs
tummeln sie sich
den ganzen Tag lang –
Taufliegen

ganz leicht stei
steigt der dünne weiße Rauch
der Zigarette
in die tiefe dunkle Nacht
ohne wiederzukehren

3
am Flusssaum raschelt dürr das Gras
immer weiter muss ich weiter
weiß nicht warum
am Flusssaum raschelt dürr das Gras

4
die mächtige Fichte
vor meinem Fenster
mustere ich
von oben nach unten
gedenke der Tage
vor meiner Geburt

5
ein wenig ragen sie noch
Feuerwanze
deine Flügel
aus der zu Eis
erstarrten Wasserlache

 

Jonathan Perry
Geb. 1993. Straßenmusikant, Stadtbegleiter, Lyriker Lebt mit Frau und Kind in St. Pölten. Bei Sisyphus erschienen: Scherben, 2018. Bei einem Häufchen Laub, 2019.

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Perry Jonathan Foto Privat
Perry Jonathan Foto Privat