90/Unter Wolken/Prosa/Andreas Tiefenbacher: Das kleine Herz

„Er stand vor dem Eingang des Lokals ‚La Grotta die Germogli‘, das nur an Wochenenden geöffnet hatte. Niemand war zu sehen. Er ging bis zur hüfthohen Mauer heran, welche die schmale, verwinkelte Terrasse begrenzte, von der aus man einen herrlichen Blick über das dicht bewachsene Treya-Tal hatte. Wenzel stützte sich mit beiden Händen ab, schaute in den Abgrund und stellte sich kurz vor, wie es wohl wäre, von einem dichten Blätterdach aufgefangen zu werden. Dann wich er zurück und stieg drei Steinstufen hinauf, wo sich ein kleiner runder Tisch mit zwei Klappstühlen befand.
Als er sich setzte, spürte er kurz, wie seine Hose etwas Feuchtigkeit aufnahm. Es hatte am Morgen ja noch geregnet. Hinter ihm zog sich die Steinmauer hinauf. In dieser Nische war es angenehm. Wenzel sah rote Blumen in einem Gefäß, das an einem schmalen schmiedeeisernen Geländer hing. Dahinter ging es mehr als 50 Meter fast senkrecht hinunter. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich zu verabschieden. Aber es brachte nichts. Denn alles was mit Selbstaufgabe zu tun hatte, war für ihn passé. Das hatte er sich geschworen. Und er merkte auch, wie ihn, je länger er sie betrachtete, die bewaldeten Felsen rundum mit ihrem kräftigen Grün trösteten, das alte Mauerwerk, die mittägliche Ruhe.
Während er seinen Blick die Mauer hinauf wandern ließ, fiel ihm eine eckige Metallröhre auf. An eine Stelle ganz weit unten, die man mit dem ausgestreckten Arm noch erreichen konnte, hatte jemand etwas eingraviert. Er konnte es aus der Entfernung nicht genau lesen, sah nur das kleine Herz.
Wenzel stand auf, zwängte sich zwischen dem verwitterten Klappstuhl und dem Tisch, dessen papierenes Tischtuch mit Regenwasser vollgesogen war, hindurch und versuchte, die Worte über dem Herz zu entziffern. ‚Ale e oris‘ las er da und wusste nicht recht, ob das mehr heißen sollte, als ‚Bier ist im Mund‘?
Im hellbraunen Aschenbecher aus Ton in der Mitte des Tisches lag ein Zigarettenstummel im Regenwasser und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Langsam lockerte der Himmel wieder auf. Außer dem Zwitschern der Vögel und dem Rauschen des Flusses im Tal war nichts zu hören.

 

Andreas Tiefenbacher
Geb. 1961 in Bad-Ischl. Lebt nach einem Studium der Deutschen Philologie und Geschichte als Sozialpädagoge und Betriebsratsvorsitzender in Bad-Goisern und Wien. Seit 1988 Veröffentlichungen in Literatur- und Kulturzeitschriften, Anthologien sowie im Österreichischen Rundfunk.1995 Aufnahme in die Grazer Autorinnen Autorenversammlung. Literaturkritiken für div. Zeitungen und Zeitschriften (kolik, Kulturbericht Oberösterreich, Prager u. a. Mehrere Preise und Stipendien. „Der Liebesdilettant“, Roman, Verlag Wortreich, Wien 2017. andreas.tiefenbacher@chello.at