90/Unter Wolken/Prosa/Manfred Stangl: Räuchern

Seit wir in unserem Landhaus wohnen, ließen wir eine alte, wenn auch nicht unsere persönliche, Tradition wieder aufleben. Wir als geborene Städter standen ihm vor dem Umzug aufs Land eher skeptisch gegenüber. Dem Räuchern. Die Wirkung von Räucherwerk zweifelte ich prinzipiell nicht an, die positiven Energien, die Olibanum und Myrrhe bündeln, gerade wenn man dazu Mantras flüstert, erlebte ich hautnahe. Gar dämonische Energien lassen sich durch Räuchern mit reinem Weihrauch austreiben. Wenn das eigene Herz rein genug ist.

Um die Johannistage bis zum Jahreswechsel kratzte ich abends einige glühende Kohlenstücke aus Caramello, dem Kachelofen, in eine goldfarbene Räucherschale. Die war stabil in eine Eisenpfanne mit Stiel gestellt. Auf die Kohlestücke streuten wir Olibanum – ein wenig gar des ganz edlen aus Eritrea – und schon stiegen erlesen duftende Rauchschwaden in die Höhe. Noch den mit Mustern durchbrochenen Deckel der Räucherschale darübergestülpt und das Wohnzimmer füllte sich mit heiligen Aromen. Wir suchten das Schlafzimmer auf, murmelten Sprüche in uns hinein, die Segen und Glück bewirken könnten. Gebete, die nichts mit den überlieferten christlichen Segenssprüchen zu tun haben, aber ebenfalls Schutz, Segen, Hilfe von den göttlichen Mächten erbaten.
Dann räucherten wir gründlich im Wohnzimmer, sprachen von geselligen und gemütlichen Abenden, führten die Zeremonie weiter aus im Bad, der Küche, jedem Raum im Haus und schließlich in den Nebenräumen, unsere Fantasie bezüglich der Sprüchlein und unserer Liebe zum Göttlichen freien Lauf lassend.

Die Küche wurde mit Sprüchen bedacht wie: „Mögen wir stets genug Dinkel- und Roggenmehl haben und Germ, um gesundes, wohlschmeckendes Brot zu backen, und mögen wir keines der Lebensmittel, das uns die Natur in ihrer Großzügigkeit schenkt, arglos verschwenden.”
In meinem Arbeitszimmer murmelte ich, dicke, herbsüße Rauchschwaden durch einen kräftigen Schwenk auslösend: „Möge meine Arbeit dazu beitragen, dass die Welt wieder Schönheit erkennt, dass statt Frust und Zerwürfnis Harmonie und Rhythmus wogen, dass mehr Gerechtigkeit in die Welt kommt und dass den Bäumen Gerechtigkeit widerfährt”, diesen Mittlern zwischen Mensch und Himmel, die sich nicht weit vom Göttlichen entfernt haben, sodass wir sie als Leitern von den unteren in die oberen Welten nutzen können, und ohne deren Zutun wir nördlich der Alpen kaum als jene unbefellte Wesen, die wir sind, dauerhaft Fuß fassen hätten können. „Mögen alle Pflanzen und jedes Tier – sämtliche Geschöpfe der Mutter Erde – die ihnen zustehende Achtsamkeit erfahren“, schlossen wir, schritten dann bedächtig, unseren Weihrauchtopf leicht schwenkend, weiter.

T. fand strahlende Worte im Honigzimmer, das sie ja auch als Arbeitszimmer nützt, und Platero weihte anderntags erneut die Nebenräume, die einst ja einem Bauernhof dienten: Stall, Scheune, Schuppen, Vorratsräume – mit dampfenden Nüstern und glimmendem Herzen, allen Lebewesen, allen Seelen gedenkend.

Manfred Stangl, aus: Plateros Seele – poetisch-philosophische Gespräche mit einem Esel im Wald, ein Naturroman.

 

Manfred Stangl
Geb. 1959 in Graz; Absolvent der Ther. MilAk. Später abgebrochene Studien der Philosophie, Germanistik, Psychologie; Tätigkeiten als Journalist. Als Brotberuf Aufseher im MAK. Es folgten Jahre der Meditation und schließlich die Heimkehr in Gott (Unio Mystica). Mehrere Gedichtbände; zuletzt: „Gesänge der Gräser“ edition sonne und mond. Seit 2o14 Herausgeber des Pappelblattes - Zeitschrift für Literatur, Menschenrechte und Spiritualität.
Seit 2o18 P.E.N.- Clubmitglied. Lebt jetzt in Wien und dem Südburgenland. 2o2o erschien die „Ästhetik der Ganzheit“. 2o2 die kulturpolitische Schrift „Ganze Zeiten.“ 2022 „Zehntausendundacht – eine Prophezeiung vom Untergang der Menschheit und dem Aufblühen der Natur“.