90/Unter Wolken/Prosa/Mesut Bayraktar: Der Maler und der Fluss

Der unendliche Fluss war fertig, die Ufer mit sattem Grün von Bäumen umsäumt. Je näher er lag, desto klarer stachen seine wilden Züge hervor. Wo der Strom auf Felsen klatschte, spritzte sein Leib in die Höhe. In jenen Abschnitten in der Ferne hingegen streckte sich der Fluss in eine siegessichere Ruhe. Sanft mündete er unter einem goldleuchtenden Himmel im Horizont. Hartnäckig bei Widerstand, friedvoll im eigenen Gang, und doch ein und derselbe Fluss. Der Maler trat ein Schritt zurück. „Etwas fehlte noch“, murmelte er, „etwas Bedeutendes.“ Dann tränkte er den Pinsel in eine braun-schwarze Farbmischung und tupfte kurz vor jenem Horizont ein winziges Ruderboot auf die Leinwand. Das Ruderboot konnte erst auf dem zweiten Blick und nur beim ganz aufmerksamen Hinsehen erkannt werden. Mit dem letzten Farbtropfen, den der Maler über den tausendlipprigen Rücken des Flusses strich, setzte er sich in das Ruderboot und überschritt stromabwärts die Schwelle am Horizont. Er verschwand am Ende des unendlichen Flusses.

 

Mesut Bayraktar
Geb. 1990 in Wuppertal, studierte Jura und Philosophie und war 2013 Mitbegründer von „nous – konfrontative Literatur“. Autor mehrerer Romane, letzte Erscheinungen „Wunsch der Verwüstlichen“ 2021, und „Aydin – Erinnerungen an ein verweigertes Leben“ 2021. Im selben Jahr wurde sein Theaterstück „Gastarbeiter- Monologe“ im Deutschen SchauSpielHaus Hamburg erstaufgeführt.