90/Unter Wolken/Prosa/Torsten Krippner: Linien
Matt glänzten Meilensteine im fahlen Licht hinter einer langsam dicker werdenden Nebelsuppe. Mehr und mehr verschluckte der Nebel alles, was nicht von selbst leuchtete. Im sanften Schaukeln der Bahn nahm ich nur noch Umrisse wahr. Ihre Bedeutung interessierte mich nicht. Die Zugbeleuchtung ließ die Schattenlandschaften draußen vor dem Fenster wie eine altmodische Wohnungseinrichtung verhöhnend zurück. Schwere, bleifarbene Wolken hingen so tief über den Gleisen, als wollten sie den Zug anhalten. Es sah nach Regen aus. Das also würde mich erwarten, sobald ich die Geborgenheit dieser warmen, hell erleuchteten Kabine verlassen würde.
Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, an jenem Oktober, denn das war der Tag meiner Wiedergeburt. Alle Verbindungen gekappt, die Arbeit gekündigt. Griechenland war mein Ziel. Doch es wollte keine Freude aufkommen. Ich wusste sehr wohl, was ich zurücklasse. Aber worauf ließ ich mich ein? Bilder einer langen Vorahnung quälten mich. Und würde ich rechtzeitig aus der Stadt hinausfinden? Würde mich dort irgendwo an der Autobahn um diese späte Uhrzeit noch jemand mitnehmen? Nun, ich hatte ja ein Zelt. Aber wie und wo aufbauen in der Dunkelheit?
Der Zug war inzwischen unter den stählernen Himmel des Münchner Hauptbahnhofs eingefahren. Auf der Trennlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft lagen sich Menschen in den Armen. Das hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Aber die meisten hetzten um diese Zeit wohl ihrem Feierabend entgegen. Rushhour. Wenigstens in diesem Augenblick war die Welt noch einmal- vielleicht zum letzten Mal- vertraut. Ich musste nur tun, was ich immer tat: Mich an die Fersen derer zu heften, die im vollkommenen Besitz einer wahren Bestimmung den Ein- und Ausgängen zueilten.
Mir graute vor übervollen Verkehrsmitteln. Schon wandte ich mich den Ausgang zu, vorbei an einer kleinen Gruppe mit viel Gepäck, Skiern und um den Hals gehängten Schlittschuhen, die sich die Wartezeit mit lautem Scherzen vertrieb. Sie verstummten schlagartig. Ein lautes Schreien. An der Bahnsteigkante spielte sich eine dramatische Szene ab.
Wie hypnotisiert starrten wir auf ein junges Pärchen. Sie im Zug, er auf der Bahnsteigkante. Sie- ein kleines tränenüberströmtes Pummelchen mit roten, zerzausten Haaren und darunter ein dilettantisch geschminktes, kugelrundes Mondgesicht voller Sommersprossen. Für ihr Alter hatte sie zu viele kleine Fältchen. Das ließ auf harte Feldarbeit schließen, so dachte ich. Der schlanke gutaussehende Typ mit hochrotem Kopf steckte dagegen in einem grünen Anzug fest. Hinter seiner Fassade starrte der Permafrost. Obwohl der Zug jeden Moment abfahren würde, stieg sie noch einmal aus und nahm ihn in den Schwitzkasten, wobei ihr dicker Busen fast aus dem Ausschnitt ihres knappen Kleidchens quoll. In vollem Bewusstsein des Menschenauflaufs stieß er sie peinlich berührt von sich. Unversehens riss sich das rothaarige Pummelchen ein Stück von Kleid ab, wischte sich damit kurz und heftig übers Gesicht und warf ihm den nassen Fetzen vor die Füße. Er schaute verlegen zur Seite, dann nach unten und schüttelte missbilligend den Kopf. Sprachlos drehte er sich rasch um und verschwand in der Menge. Paralysiert stand sie da. Ein kleiner nasser Pudel mit triefender Nase, zitterte und weinte, umgeben von jener Sorte Anteilnahme, die gelegentlich im Zoo beobachtet werden kann, wenn Besucher an eingekerkerten Tieren schweigsam und nachdenklich defilieren.
Schlagartig kam das Mädchen wieder zu sich, gewahrte die vielen auf sie gerichteten Augenpaare und ergriff fluchtartig die Haltestange, an der noch immer geöffneten Tür des Zuges. Als habe der Zug die gesamte Zeit allein auf sie gewartet, setzte er sich - wie um sie nicht noch mehr zu verletzenunendlich langsam in Bewegung.
Wie schätze ich solche Augenblicke. Es sind Momente der Wahrheit, an die ich mich immer wieder erinnere. Wie ein Briefmarkensammler sammle ich die ganze Palette wegweisender Erinnerungen. Ich rahme diese Augenblicke ein, schmücke sie bis zur Unkenntlichkeit in der Hoffnung aus, dass ich am Ende - wenn Justitia ihre Waage schwingt - in die Waagschale der Guten und Edlen fallen würde. Dabei ahnte ich bereits damals. Es geht wohl nicht um Gewichtigkeit, sondern um Leichtigkeit, um Entleerung der Waagschalen.
Reflexartig hob ich den Stofffetzen von der Bahnsteigkante auf, steckte ihn in meine Jackentasche und eilte endlich dem Ausgang zu.
Torsten Krippner
Geb. 1968 in Köthen, Studium an der Martin- Luther- Universität Halle: Geschichte und Germanistik, nach dem Examen Volontariat und Arbeit als Redakteur, nun pädagogischer Mitarbeiter in einer Jugendhilfeeinrichtung in Nauen. In den seltenen produktiven Phasen zwischen dem nahezu endlosen Anschauen von lustigen Katzenvideos entstehen manchmal auch Gedichte und Kurzgeschichten.
torsten.krippber@online.de