91 / Hirn mit Ei / Prosa / Friederike Zelesko: Es fällt ein Ei vom Hühnerstall herab und geht entzwei. Im Ei da war ein...

Es gibt zwei Arten von Hennen, die viele Eier legen, sagt mein Vater und nimmt sich beim Wort. Er kauft drei Rhodeländer und eine Leghorn. Reinrassig, einkämmig. Wir stehen im Hof und schauen auf das Federknäuel, das mit Gegacker aus dem Sack stiebt. Die Federn fliegen. Schneeflocken im Sommer.
Es ist das erste Mal, dass mich der Federgeruch in der Nase kitzelt. Meine Mutter schaut so, wie sie schon die Ziege und das Ferkel angeschaut hat. Meine Mutter bekommt den Hühnerblick. Der Geruch des Hühnersacks stülpt sich über mich. Ich fülle ihn später mit Futter, verstelle meine Stimme, wenn ich die Hühner rufe, das Futter streue. Ich rede in der Hühnersprache.
Das Leghorn und die Rhodeländer legen viele Eier. Sie sind glückliche Hühner. Ihre Augen haben gelbe Ringe. Ihre Hälse drehen sich blitzschnell und ruckartig in jede Richtung.
Sie legen den Kopf schief, äugen auf den Boden, fangen zu picken an, zu scharren.
Eine Henne bleibt eine Henne, sagt mein Vater, sucht ein Brett für die zweite Hühnerleiter und bringt einen Hahn, rot, mit schillernden Schwanzfedern und allmorgendlichem Hahnenschrei. Sein Kamm schwillt an.
Ich rupfe kein Huhn, sagt meine Mutter lange Zeit. Sie legt ihre Arme angewinkelt an den Körper und schlägt sie wie zwei Flügel. Meine Mutter, die Glucke, hat auf jeder Seite zwei Küken. Sie hackt die hart gekochten Eier klein und füttert die Küken mit Mutternahrung. Sie gedeihen gut, der Federflaum bekommt bald einen harten Kiel.
Mein Vater isst gern eine Eierspeis. Das Fett zischt, wenn er die Eier in die Pfanne schlägt, mit der Gabel den Dotter zerreißt. Der Dotter ist sehr gelb und gesund. Wir bleiben alle gesund, wenn wir mit den Hühnern schlafen gehen und mit den Hühnern aufstehen.
Wenn wir einmal krank sind, kocht meine Mutter das Ei weich. Kernweich. Sie schält es vorsichtig aus seiner Schale in ein Glas, salzt es und rührt um. Das kernweiche Ei ist eine Medizin. Auch die Hühnersuppe ist eine Medizin. Bald tötet meine Mutter das erste Huhn. Ein dummes Suppenhuhn.
In ihren Augen verschwindet der Hühnerblick. Das Gesicht meiner Mutter ist weiß, so wie das Huhn, das auf dem Hackstock liegt, sich noch einmal aufrichtet und kopflos die letzten Schritte läuft.

Friederike Zelesko
Geboren in Böheimkirchen. Arbeitete und lebte in Wuppertal als Hochschulsekretärin an der Bergischen Universität. Schreibt Lyrik/Prosa, Übersetzungen aus dem Englischen. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Anthologien und im Funk (WDR) seit 1984 und 1996 – 2002 in einer Kolumne der Frankfurter Rundschau. 2011 Lyrikband „Von den Tafelfreuden“, NordPark Verlag Wuppertal, lebt heute wieder in Böheimkirchen, NÖ.
friederike.zelesko@freenet.de