91 / Hirn mit Ei / Prosa / Max Aichmair: Großer Lärm

Franziska klopfte pflichtbewusst, jedoch ohne große Sorgfalt, die Falten ihres Rocks platt, bevor sie auf dem Klingelschild nach dem Namen „Bendemann» suchte.
Nur mit großem Kraftaufwand, der ihr selbst fast übermenschlich erschien, hatte sie es geschafft, sich von der Sicherheit des eigenen Heims loszulösen, um der Einladung von Frieda zu folgen, dem blonden Rest ihrer Zeit am Gymnasium, der sich noch mit aller Kraft an Franziskas Leben klammerte. Man muss wohl, um nicht zu vereinsamen, dachte sie, als sie die Haare im Nacken zusammensteckte. Es wird wohl von mir erwartet, dachte sie, als sie ihre Geldbörse in die Tasche packte. Vielleicht wird es ja doch ein netter Abend, dachte sie, als sie den Mantel anzog, und die Tür hinter sich schloss.
Schon im fremden Stiegenhaus rollte ihr Menschenlärm aus der Wohnung im Dachgeschoß entgegen und drohte, sie durch das Auslösen der bekannten Angst zu erdrücken.
Einem morgendlichen Sonnenstrahl gleich, der sich durch die Spalten im Vorhang in die noch schwachen, wehrlosen Augen bohrt, hatte die Wohnung der Freundin, in ihrer vollkommenen glänzenden Reinlichkeit, Franziska bereits beim Betreten verbrannt. Ein unausgesprochenes Urteil hallte in ihrem Kopf: Ich bin ein unreiner Fremdkörper, der sich hier breitmachen will, der sich einen Platz aneignen will, der ihm nicht gehört, will ich ihn doch gar nicht und nehme ihn mir trotzdem. Das sollte nicht ungestraft bleiben und so vermochte auch nicht das mehrfache Händewaschen der Angeklagten jenes unverbrüchliche Gefühl zu lösen, ein Kratzer in dieser glatten Runde zu sein, der sie gerade erst beigetreten war. Schuldbewusst musste sich Franziska in die Menschenmenge einsortieren, die sich im Wohnzimmer sammelte und von dort aus in die Gänge der Eigentumswohnung auslief. Frieda Bendemann regierte hier mit Leichtigkeit und Präzision, deren intrinsische Veranlagung wohl ähnlich dem Jagdtrieb eines Wildtiers war, und welche sich der aufmerksamen Beobachterin in den vielen selbstverständlichen Handgriffen zeigte, die im Vorbeigehen einen Bilderrahmen zurechtrückten, eine Serviette über den Glastisch wischten, ein loses Haar von der Strickjacke ihres Manns Georg abpflückten. Was diese Frau, die doch so gerne herzeigte und dabei angesehen wurde, an ihr, dieser in sich selbst gestülpten Person, fand, abseits eines Pflichtbewusstseins, entstanden durch die angestaute gemeinsame Zeit, konnte Franziska sich nicht erklären. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht, denn sonst kamen sie wieder, diese Fragen nach dem Sinn und einem Warum, die sie sich in Gesellschaft strengstens verbot, sorgten sie doch nur für eine Steigerung des sowieso schon drückenden Unbehagens. Gute Miene zum Gesellschaftsspiel, anders wäre sie schon längst implodiert und in sich selbst verschwunden. Franziska tauschte daher die üblichen Sätze und bekannten Zärtlichkeiten mit der langjährigen Freundin aus, erkundigte sich nach Dingen, die sich nie zu ändern schienen, und tauchte dann unter, um am Sofa, eingeklemmt zwischen zwei Arbeitskollegen der Gastgeberin, wieder Luft zu holen. Hier reichte ein zeitgerechtes Nicken und Lächeln, im Notfall auch eine strategisch gestellte Gegenfrage, um sich dem zu entziehen, das einem das Leben, hier, und an scheinbar jedem anderen Ort, aufdrängen möchte - dem permanenten Austausch. Ständig soll man etwas von sich hergeben, damit es ein anderer dann zerkauen kann, so lange, bis er es ausspuckt
und sich selbst auf einen erbricht. Sie mochte aber nichts hergeben, nicht an diese und überhaupt an gar keine Menschen, die mit dem falschen Wörterbuch ihre sowieso schon karge Sprache interpretierten. Dauernd wollte man sie zerpflücken, jede Knospe abbrechen und dann eine eigene fette Frucht daran hängen, für deren Gewicht dieser Ast viel zu schwach war. Nein danke, das wollte sie nicht. Bitte nicht. Franziska erkundigte sich also nach der aktuellen Situation im Betrieb von Josef K. (etwas mit Finanzen) und schon entstand ein dichtes Sprachgewebe, hinter dem sie verschwinden und unsichtbar werden konnte. Ihre Augen wanderten durch den Raum und schrieben in großen schwarzen Lettern einen Inflektiv nach dem anderen über die Köpfe. Staun. Lächel. Lach. Seufz. Nick. Dabei hörte sie nichts, außer einem undeutlichen Brei an Altbekanntem, ständig wieder aufgewärmt, noch bevor er einmal abkühlen konnte, in dem sich alle gerne zu wälzen schienen. Und trotzdem kamen sie ihr so unendlich sauber vor, diese fremden Menschen. Selbst Gregor S., den sie noch aus Studienzeiten als eine Wolke säuerlichen Geruchs kannte, die, eingepackt in übergroße Sakkos und mit einem zerdrückten Reclam-Heft unter den Arm geklemmt, einst durch den Hörsaal schwebte, schien mehrfach durch die Seifenlauge gezogen worden zu sein und leuchtet jetzt gebügelt und ausgelüftet in einem Türrahmen, den Arm um seine Verlobte gelegt, die sich im Sekundentakt über den Bauch streichelte, während sie den stetig wechselnden Gesprächspartnerinnen zunickte und immer wieder die Worte Wir, Freude, Bald, und Aufregung aus dem Mund stieß. Warum nur war ihr das alles so fremd, was doch, da war sie sich sicher, im gesellschaftlichen Konsens als selbstverständliches Menschenbedürfnis festgelegt wurde? Es schien ihr, als ob sie vom Abseits auf ein Spielfeld blickte, dessen Regeln sie nicht kannte und mit verkrampften Fingern hoffte, bloß nicht zum Mitspielen aufgerufen zu werden. Immer weiter frästen sich die Augen in das zukünftige Ehepaar S., welches sich unter Franziskas Unverständnis in etwas zu verwandeln schien, ein Wesen mit acht Armen oder Beinen, das wohl menschenähnlich war, doch Franziska nicht entfernter hätte sein können. Vielleicht war sie also selber gar kein Mensch, nur etwas, das man in eine menschliche Hülle gestopft hatte, ohne vorher zu kontrollieren, ob der Inhalt auch zur Verpackung passt. Erst ein unbeabsichtigter Stoß an der Schulter löste Franziskas angestrengten Blick von der freudig aufgeregten Frau mit ihren Bauchtätscheleien und etwas beschämt wandte sie sich den anderen Gästen zu, die sich zu einem, ihr scheinbar nicht fühlbaren Takt, die Hände reichten, lachten, zusammen und auseinander rückten. Frauen und Männer, junge Erwachsene, deren Jugend gerade noch in letzter Blüte stand, schienen sich mit ihrem Verhalten an einem Regelwerk zu orientieren, wenn sie belanglose Fragen stellten und belanglose Antworten gaben, die freudiges Lachen oder betroffene Anteilnahme auslösten, welche ihr, der Zuseherin, nie in die Hände gefallen waren. Ihre Hände griffen immer nach den anderen Büchern im Regal. Diese Menschen waren glücklich, dachte Franziska, während sie mit Fremden anstieß und auf dem Sofa einer Erzählung beiwohnte, deren Inhalt sie nicht interessierte, weil sie von einem Familienurlaub handelte. Aufgebrachte Stimmen warfen ihre eigenen Erfahrungen ein, gaben Tipps und Ratschläge, wie denn das nächste Mal sicherlich alles besser laufen würde, wenn man nur auf dieses und jenes achtete. Warum sie bloß nicht die Sprache verstand, mit der hier alle sprachen. Hatte sie diese nicht auch einmal beherrscht und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt wieder verlernt? Die ihr zu wage, zu undeutlich, ja fast schon bedrohlich erscheinenden Fremdwörter riefen freudiges Gelächter in den Gesichtern der anderen hervor. Bruchstücke von Lebensausschnitten drangen in Franziskas Ohren, wo sie nur auf Taubheit stießen. Wenn man Franziska zu ihrer Meinung über das ihr hier gezeigte und vorgetragene fragen würde, dann hätte sie keine Antwort geben können. Nur im luftleeren Raum des Schweigens wuchs in ihr eine Meinung und selbst diese schien ihr zu unbedeutend, um sie auszusprechen, denn wer war sie denn überhaupt, sich anzumaßen, das Glück der anderen, sei es nun ein eigenes oder eines, das durch die Folgen des Vorlebens oder der Erwartungen in sie eingepflanzt wurde, zu be- oder gar verurteilen, wenn sie doch selber ihr eigenes an einem Ort fand, den andere mieden - dem Alleinsein. Während diese Gedanken begannen, den Frauenkörper bis zum Überlaufen anzufüllen, wurden die Gesellschaft und ihre abstrakten Töne zu einer dunklen Massen, einer Art Insekt vielleicht, das immer weiter wuchs, immer mehr des Raums mit seinem harten Panzer füllte, der bereits so fest die Kante des Tischs an Franziskas Knie drückte, dass diese unter dem Druck zu zerbrechen drohten. Sie zog die Beine an die Brust, um im Kleinmachen Schutz zu finden, doch das Ungeziefer hatte schon längst alle Möbel unter sich begraben und mit seinem Surren und Zirpen das ganze Haus, die ganze Straße, alles, was man wahrnehmen konnte, zum Vibrieren gebracht. Bald drohte Franziska an der Wand zerdrückt zu werden, ähnlich einem unerwünschten Insekt, was ihr ein schiefes Lächeln hervorlockte, diese Welt, die so tragisch war und dabei keine Chance ausließ, sich an ihren Opfern zu belustigen. Chitin drückte sich an ihre Haut und den Schädel, den diese überzog. Hätte sie gewollt, dann wäre sie wohl in der selben Sekunde tot umgefallen. Doch schon zu oft ist sie solchen Wesen begegnet, als dass sie sich ohne Widerstand dieser Kraft hingeben hätte können, der sie sich mit einer Leichtigkeit zu entziehen wusste, wie sie sonst nicht oft in Franziskas Leben kam. Ihre flachen Hände schlugen auf den Faltenrock und die darunterliegenden Schenkel. So, ich muss jetzt aber wirklich los. Alles, was sich noch Sekunden vorher gefährlich vor ihr aufbäumte, fiel mit diesem Satz in seine ursprünglichen Menschenstücke auseinander, durch die hindurch sie sich zum Ausgang wand. Vielen Dank, ich freue mich schon, wenn wir einander wiedersehen. Habt noch einen schönen Abend.
Franziska stieß die heimatliche Tür auf, aus der abgestandene Luft hinaus drängt, um sich mit der Kälte des Stiegenhauses zu vermischen. Längst hatte sich jegliche Anspannung durch die Annäherung an die warme Heimat von der Frau gelöst und wurde auf dem Gehsteig vor dem Zinshaus, aus dessen Fenster kein Licht mehr auf die Straße fiel, endgültig zurückgelassen. Noch bevor Franziska den Mantel abstreifen konnte, wickelte sich die namenlose Katze, mit der sie sich das Zimmer im vierten Stock teilte, um ihre Beine und erzählte, in ihrer der Frau so vertrauten Sprache, von den Geschehnissen des Abends. In einem einzigen Ton wurden die Kohlmeisen vor dem Fenster sichtbar, denen die geschärften Pupillen stundenlang folgten. In einem einzigen Ton begann erneut die Jagd nach den Staubmäusen unter dem Sofa. In einem einzigen Ton wurde dem Hunger kundgetan, für dessen Beseitigung die Frau zuständig war, man hat sie sich ja dafür angeschafft, sie, die im Vorzimmer herumstand und in die großen Katzenaugen blickte. Mit Geduld und Aufmerksamkeit lauschte Franziska diesen Geschichten, die
ihr so viel klarer erschienen, als all die anderen Erzählungen, die noch vor einer Stunde auf ihre Schädeldecke einschlugen. Sie hob die Katze an die Brust, küsste sie auf die Stirn, setzte sie wieder auf den Boden und servierte ihr Schinkenblätter, welche sie, eingerollt in eine Serviette, vom Buffet der Feier mitgenommen hatte. Danach setzte sie sich an den Schreibtisch, um sich wieder dem Lesen zu widmen, von dem sie sich für die abendliche Verpflichtung losgerissen hatte. Während die Katze mit der Essensschale auf dem Fließenboden der Küche klapperte, sah Franziska ihr eigenes Gesicht im Spiegel an. Ein kluges Gesicht. Ein Gesicht, das seine Schönheit durch die Einsamkeit bekam. Dieser Mensch ist auch glücklich, sagte sie zu sich selber, und verschwand wieder in den stummen Worten.

Max Aichmair
Geb.1994 in Wien, studierte zuerst Mode an der Universität für Angewandte Kunst und dann Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien. Veröffentlichungen in verschiedenen Literaturzeitschriften.