93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Egyd Gstättner: Ich werfe eine Perle vor eine Sau

Wenn ich nachts nicht schlafen kann, stelle ich mir, damit die Zeit vergeht, vor, wie ich eine Perle vor eine Sau werfe, und ich stelle mir vor, daß die Sau in ihrer nonchalanten Dumpfheit ungerührt im Schatten liegen bleibt und die Perle ignoriert, sofern sie meinen Perlenwurf überhaupt registriert und als Perlenwurf identifiziert hat. Sofort ist mir die Sau sehr sympathisch, und in meiner Vorstellung solidarisiere ich mich mit der Sau. Was interessiert mich solch degenerierter Damenschmuck, was solch profaner Glitzerplunder?
Für mein metaphysisches Fortkommen ist die kapitalistische Muschelfrucht komplett irrelevant, denkt die Sau, stelle ich mir vor. Der Diogenes unter den Säuen, meine Diogenessau! Mein Noli-me-tangere mit Ringelschwanz und Rüssel! Von der volkswirtschaftlich-gewinnorientiert-vermögenstechnischen Unbedarftheit einmal ganz abgesehen!
Aber die Zeit vergeht nicht, und ich überlege, daß ich mir als österreichischer Dichter gar keine Perle leisten kann. Also stelle ich mir vor, daß ich höchstens eine Perlenimitation vor die Sau werfen kann, was mir aus sauenpsychologischer Perspektive sofort als ganz tollkühnes und raffiniertes Experiment erscheint, das die Sau denktechnisch unter enormen Zugzwang bringt. Die Sau läßt sich aber nicht verhaltenstechnisch testen und reagiert auf die Perlenimitation ebenso wenig wie auf die Perle, sondern verharrt in stoischer Gelassenheit in der Jauche. Für einen metaphorisch veranlagten Charakter wie mich gibt es nichts Deprimierenderes, als wenn meine Sau bei meinen Denkspielen nicht mitspielt und sich, wenn auch aus Sauensicht, aus einem Perlenimitationswurf lebensphilosophisch keine anderen Konsequenzen ergeben als aus einem Perlenwurf. Allmählich frage ich mich, ob es die Sau mit der Metaphysik überhaupt ernst meint.
Weil ich immer noch nicht schlafen kann, nehme ich nun die Sau her, und ich werfe die Sau vor eine Perle. Da grunzt die Sau.

 

Egyd Gstättner
Geb. 1962, studierte Germanistik und Philosophie, lebt als freier Autor in Wien und Klagenfurt; 37 Buchpublikationen, zahlreiche literarische und essayistische Beiträge in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien.