93 / Wirklich/Unwirklich / Prosa / Lukas Leinweber: Borges

Deshalb macht D. jetzt mit alldem Schluss. Er behauptet sein Recht auf eine fantasievolle Wirklichkeit, die keine Rechtfertigung mehr vorbringen kann, den Leser zu langweilen. Das hat D. sich vielleicht nicht selbst ausgedacht, aber gehört hat er es, und dass er sich daran erinnert und es hier einbringen kann, das muss ihm angerechnet werden. Überhaupt tut D., diesem Faktum kommt er mehr und mehr auf den Grund, gut daran, der Wirklichkeit jede Zurechnungsfähigkeit abzusprechen. Eine Erzählung nach der anderen frisst er in sich hinein, die Buchseiten lässt er mit Ach und Krach übrig für jemand anderen, ganz egal, wer oder was das ist, ob es Bewusstsein von sich selbst hat. Es ist das zweite Buch, das D., nachdem er es durchgelesen hat, was gleichzusetzen ist mit dem Glauben, er habe nun die relevanten Texte dieses Autors gelesen und könne zum nächsten übergehen, nicht im Regal Staub ansetzen lässt, sondern ein zweites und ein drittes Mal in die Hand nimmt. D. will davon lesen, wie die Magie in den Alltag kommt, wie ihre Vorhut, die Fiktion, alle verfügbaren Nischen in Beschlag nimmt, dass eine Unterscheidung, wo einstmals die Begriffe von der Wirklichkeit hausten und wo ihnen mit dem Schimpfwort ‚unwirklich‘ Gewalt angetan wurde, überflüssig wird. Die Grenzen fließen, denkt D., sobald ein Mann das Gedächtnis eines anderen, und mit ihm die Wirklichkeit dieses anderen, in sein eigenes übernehmen, aber durch einen einzigen Telefonanruf wieder loswerden kann. Auch dann, wenn er eine Figur in einer Erzählung ist, die so intensiv zu träumen versucht, dass es nichts mehr gibt, außer der Wirklichkeit des Traums, der sich letztlich als Traum eines anderen entpuppt. Ein Traum unter vielen. Eine Wirklichkeit unter vielen. D. bleibt dabei: Ihm können die Bezeichnungen gestohlen bleiben, aber gelangweilt wurde er schon viel zu lang, von viel zu viel.

 

Lukas Leinweber
Geb. in Darmstadt. Studium der Rechtswissenschaft und Erziehungswissenschaft; derzeit Masterstudium Erziehungswissenschaft.