97/Verluste und Verloren geglaubtes/Prosa/Karina Luger: Das Haus
Ein Weiler, ein Vierseithof.
Vier Gebäude, vier Tore, das Haus.
Ein Holzhaus.
Ein großes Haus.
Zwei Stockwerke, obendrauf ein Dach wie ein spitzer Hut.
In den 1930-er Jahren verkleidet mit Asbestschindeln, die die Holzschindeln ersetzten. Auf der Hofseite haben Dienstboten ihre Namen darauf geschrieben, dazu ein Datum, ein Ereignis. „Maschindreschen 1936. Johann Gattringer aus Haging“.
Das Haus, in dem meine Vorfahren gelebt haben und in dem ich groß geworden bin.
Ein Haus, das viel mitgemacht hat mit seinen Bewohnern.
Es hat Leben mitgelebt und sich einiges gefallen lassen.
Langmütig, geduldig und ergeben.
Sein Keller mehrfach unterteilt und sehr tief. Eine Ziegelsteintreppe steil hinab in kühle Finsternis. Ein großer „Vorraum“, rechts davon der Milchkeller, dahinter der Gemüsekeller. Handgegrabene Wände, vermutlich im Mittelalter aus dem Lehm ausgehoben.
Links über Stufen hinab der große Mostkeller vielleicht 300 oder 400 Jahr jünger als der Rest, mit Ziegelsteinen ausgelegt. Feuchtes Gärklima, Fensterschlitze an der Decke, die von außen betrachtet etwa zwei Meter in der Tiefe lagen und mit Holzdeckeln abgedeckt wurden. Durch sie konnte man mittels eines Schlauches den gepressten Most in die Fässer leiten.
In große Fässer auf Holzbetten in Reih und Glied. Bauchig und gemütlich.
Ganz vorne direkt neben dem Eingang der Essigbottich.
Das Vorhaus teilte das Haus in zwei Teile. Ebenerdig wie im ersten Stock. Räume davon ausgehend. Alte, oftmals gestrichene Türen.
Große Steinplatten im Vorhaus. Vom vielen Putzen und Wischen blank.
Im Erdgeschoß des Hauses zur Hofseite hin die Stube mit dem Kachelofen.
Die Einrichtung samt und sonders aus Holz. Ein sehr großer Tisch, umlaufende Bänke, ein klobiger Schreibtisch, ein Schrank und ein durchgesessenes Sofa. Und der Ofen.
Der Ofen - Herzstück.
Ebenerdig auch die Küche, groß, geräumig, mit Bank und Tisch für Arbeiten, bei denen man sich hinsetzen konnte.
Ein riesiger Holzofen mit Bratrohr und Wasserschiff, ergänzt durch einen Elektroherd.
Weiters in der Küche Abwasch, Kredenz und ein Handwaschbecken.
Eine Tür in die Speisekammer.
Hinter der Küche das Küchenstüberl. Dort wurden Wöchnerinnen untergebracht, Kranke und Sterbende. Die Tür in die Küche blieb immer offen. Das Geborenwerden und das Sterben passierte inmitten der Familie und doch ein bisschen separiert. In Rufweite der anderen, verbunden mit ihren Geräuschen und Tätigkeiten, in ihrem Leben peripher mit dabei, aber noch oder schon einen Schritt entfernt.
Im Sommer spielt sich der Alltag in der Sommerstube ab, nordöstlich gelegen.
Im Winter die Wärme der südseitigen Winterstube, im Sommer die schattige Sommerstube.
Im ersten Stock die Schlafzimmer. Früher die Zimmer der Bauersfamilie, die Mädchenkammer der Mägde, die Bubenkammer der Knechte, das Auszugszimmer der Großeltern mit eigener Küche, das Zimmer der Bauernkinder, die nicht mehr gestillt wurden.
Später die Zimmer unserer Eltern, unserer Großeltern, drei Kinderzimmer, das Schlafzimmer unseres unverheirateten Onkels.
Viele Menschen, viele Zimmer.
Während des Zweiten Weltkriege Betten für die Flüchtlingsfamilie Deh aufgestellt in der Waschküche und Frau Seltmann aus Schlesien wohnte mit ihrem Baby auf dem Dachboden.
Viele Generationen hat es geborgen, dieses Haus. Viele Menschen hat es kommen und gehen sehen, viele Schicksale mitverfolgt.
Es wurde geweint in seinen Räumen, verbittert geschwiegen, aber auch viel musiziert, vor allem gesungen. Es gab Schicksalsschläge und eine große Verbundenheit. Es gab Bewohner mit unlauteren Absichten, aber viel mehr Menschlichkeit.
Viel Geschichten über die Vorfahren wurden erzählt und vermutlich saßen die Toten körperlos mit am Tisch, unsichtbar für die Lebenden, nickten und sagten unhörbar „Ja, genau so war das. Genau so ist es passiert.“
Und wenn man still horchte im Dämmerlicht im Winter, und etwas Großes mit sich ausmachen musste, etwas Lebensentscheidendes, dann konnte es schon passieren, dass einen das Gefühl überfiel, als würde eine Urahnin flüstern:
„Mädchen, sei gescheit, mach das nicht.“
1204 wird er das erste Mal erwähnt, dieser Hof.
Seit 1204 gibt es demnach an diesem Platz ein Haus.
Es gibt eine Obhut, eine Feuerstelle, einen Schlafplatz, schützende Wände vor der oft unwirtlichen Welt.
Seit 1204 wohnen hier Menschen. Wahrscheinlich sind die Balken nicht mehr die des ersten Hauses. Das wäre dann doch zu viel Zeit, die kein organisches Material in Sonne und Wetter besteht.
Aber der Keller stammt aus dem Mittelalter.
Stammte.
2013 hat mein Bruder das Haus abgerissen.
Als man außen die Eternitschindeln entfernte, kamen darunter auf dem Holz um die Fenster Malereien zum Vorschein.
Geometrische Muster in schwarz, rot und weiß.
Der Denkmalschutz befand: hübsch, aber nicht erhaltenswert.
Gleichzeitig wurde der Verlust eines derartigen Juwels bedauert.
Schon in den 1980-er Jahren hatten meine Eltern sich gegen eine Renovierung entschieden. Sie wollten nicht in der alten Bude bleiben.
Ein neues Haus wurde gebaut. Abseits. Dadurch wurde das Hofgefüge zerstört.
Ich aber träume immer noch, immer wieder von diesem ursprünglichen Haus. Aus Holz, gefüllt mit Geschichten, mit Gesang und Besuchern, Wohlwollen atmend und erwärmt vom Leben so vieler seiner Bewohner.
Ja, es tut mir leid um das Haus.
Es wäre zu retten gewesen.
Es hätte noch viele Generationen in seine Wände genommen.
Ich hätte es so gerne meinen Kindern gezeigt. Ich wäre gerne mit ihnen in die Stube gegangen und die Alten hätten durch die Zeiten geschaut, genickt und gelächelt. „Wir freuen uns mit dir“, hätten sie gesagt „Wir sehen, wie sehr du dich bemühst in deinem Leben. Du machst deine Sache gut.“
Mein Bruder hat eine Maschinenhalle an die Stelle des Hauses gebaut.
Nach längerer Zeit kam ich auf den Hof zurück und es war fort.
Fort.
Einfach weg.
So ist es.
Ich hatte kein Mitspracherecht, man hat mich nicht nach meiner Meinung gefragt.
Der Keller wurde mit Schotter verfüllt, die Balken zu Heizmaterial verhäckselt.
Manches hat mein Bruder verkauft, einiges von den alten Dingen steht auf dem Heuboden, vieles wurde weggeworfen.
In meinen Träumen gehe ich durch die Räume, die es nicht mehr gibt.
So viele Jahre Geschichte.
So ein Verlust.
Karina Luger
Geboren in Ried im Innkreis. Studium Germanistik und Geschichte in Salzburg. Lebt und arbeitet in Linz.