Bernhard Husemann: Leerstelle, Eine Tafel am Stein oder: Die Schrift im Stein

Bernhard Husemann
 

Leerstelle

Leer oder Lücke, das ist nicht das Gleiche, ist ein ganz bedeutsamer, wichtiger Unterschied. Bei der Lücke fehlt etwas in einem Ganzen, in einem bereits gegebenen Zusammenhang,
ein Text, ein Lückentext erscheint unvollständig, so sprechen wir von Zahnlücke, ein Zahn ist vorgesehen, aber er fehlt. Die Lücke kann als Mangel empfunden werden, als Wissenslücke, als Lücke im Gesetz.

Nicht so die Leerstelle. Hier ist Platz, freier Platz, eben leerer Platz ohne vorgegebenes Programm, einfach Platz, eben leer. Es ist nicht nichts, denn es ist leer, und das ist eigentlich eine
Fülle ohne Grenzen, ohne Definitionen, leer für irgendetwas, für alles, kein Loch, das den Inhalt verschlingt, die Leerstelle ist auch keine Auslassung, es fehlt mir nichts, die Leerstelle ist nicht besetzt, und das gerade zeichnet sie aus: Sie lässt alles zu, ist frei für jede Idee, ist unbestimmt.

In unserem Gehirn haben wir viele Schubfächer mit Inhalt, den das Leben gefüllt hat, sei es sinnvoll oder unnütz, und bei jeder Erfahrung prüfen wir, ob sie uns schon bekannt ist und in einem Kästchen steckt, und wenn nicht, machen wir den Inhalt eines Kästchen passend, wir verpassen die Chance, das Neue zu erkennen. Leere Kästchen sind ein wertvoller, wunderbarer Schatz, denn es passt noch etwas hinein, sie warten darauf, gefüllt zu werden.

Die Leerstelle ist Chance, ins Leere zu gehen, sich hineinfallen zu lassen ins Unbekannte, denn das Leere ist Fülle, die ich füllen kann, mit neuen, mir fremden Erfahrungen, Eindrücken, nur ich darf nicht ängstlich sein, Furcht ist der Tod, wenn ich Leere, meine Leere füllen will. So hoffe und wünsche ich mir viele Leerstellen, die ich füllen kann.


Eine Tafel am Stein oder: Die Schrift im Stein

“Die Tafel am Stein trägt die Worte ….“, so wurde uns das Thema für den Kurztext vorgegeben, kein unbedingter Zwang, aber eben doch klar vorgeschlagen. Was sollte ich aufs Papier bringen, mir fiel nicht wirklich etwas Prickelndes ein, aber ich hatte eine Idee, eine ganz andere Assoziation. Am vorhergehenden Tag hatte ich vor dem Museum Stelen aus Stein gesehen, bearbeitet und geglättet. Sie zeigten alle eine eigene, für jeden Stein typische Struktur, und meine Gedanken machten sich auf den Weg.

Felsen werden bewundert, gelten oft als magisch, tragen Fabelnamen, wir Menschen kennen sie als Versammlungsorte, als Thing-Platz, als Rückzugsorte, als Schutzgebiet, sie bedeuten sie uns etwas Besonderes, auch Mythologisches. Umgekehrt betrachten wir sie als Material, wir analysieren ihre Zusammensetzung, kennen ihre Mineralien und nutzen sie für unsere Zwecke. Steine gibt es viele, sie imponieren als mächtige Gebirge, Lava-Gestein aus den Tiefen der Erde, Granit, Gneis oder Basalt, auch Sandstein, wir sammeln Kiesel am Meer, Steine zeigen meist keine leicht erkennbare Ordnung oder Plan in ihrer Anordnung, verstecken sich im Grün des Grases oder im Wald.

Aber jeder Stein anders, keiner ist wie der andere, jeder Stein hat seine ihm eigene Struktur, seine eigene Farbe und Oberfläche, ob glatt oder rauh oder mit tiefen Furchen, mit seinen für ihn typischen Einschlüssen. Jeder Stein ist wie ein kleines Individuum, eben besonders. Deshalb üben sie auf uns eine Faszination aus, wir sammeln sie und schleppen sie oft über lange Wege mühsam nach Hause.

Nur, Steine sind mehr als reine Objekte, zwar nicht lebendig wie wir, aber sie haben ihre eigene Schrift, jeder Stein eine andere, nicht nur als mineralogische Definition wie Granit oder Basalt oder als Edelstein, jeder Stein hat seine eigene, ganz persönliche Sprache, seinen eigenen Dialekt, erzählt eine Geschichte, nur wer kann die Schrift lesen, entziffern, nicht wie ein Mineraloge, nein, als Leser? Wer kann den Text entziffern, den Inhalt deuten. Du kannst sie formen, mit Hammer und Meißel bearbeiten und schleifen, polieren, zum Edelstein verändern, aber kann man den Stein verstehen, seine Geschichte, Millionen Jahre lesen? Vielleicht ist es doch nur unsere eigene Sprache, unser Verständnis, unsere dem Stein aufgezwungene Gestaltung am scheinbar toten Material?

Oder trägt der Stein doch seine eigene Tafel in seiner ihm eigenen Schrift mit seiner eigenen Sprache, die sich uns nicht direkt unmittelbar öffnet: „Ich war vor dir da, ich sah schon in die Welt, ehe du geatmet, geliebt und geweint hast, ehe du Hunger und Durst hattest. Ich werde auch nach dir sein. Was weißt du wirklich von mir?“ Die Schrift im Stein, die „Tafel“, du kannst sie sehen und fühlen, die Linien der Kristalle, die Muster der Farben, die Risse und Schrunden, und Einschlüsse aus einem langen Leben. „Ich bin schwarzer Basalt, tief aus dem Inneren der Erde, und ich bin Granit, hart wie Granit sagst du, aber kennst du mich? Was weißt du von mir? Und kannst du die Zeichen und Symbole erkennen und lesen?“

Die Geschichte der Steine ist lang und uralt. Haben Steine eine Seele, sie fühlen sich kalt an oder warm in der Sonne, sie reagieren, leben sie, sie sind nicht tot. „Auch ich habe eine Geschichte, mein Heute ist nicht das Ende, aber deines kann schon morgen sein, ich überlebe dich,“ so könnte der Stein sprechen. Und meine Geschichte dauert nicht eine Ewigkeit, aber unendlich lange. Lies meine Geschichte, sie erzählt von Millionen Jahren. Tafel am Stein, der Stein ist die Tafel.


Bernhard Husemann
Geb. 1942 in Nürnberg, aufgewachsen in Erlangen, Studium der Medizin in Erlangen und Innsbruck, Arzt für Experimentelle Chirurgie, Chirurgie, Abdominal- und Thoraxchirurgie, Ernährungsmedizin, ao Prof, seit 2005 im Un-Ruhestand mit besonderem Interesse für Historische Wissenschaften. Lebt seit 1990 in Oberbayern und in Düsseldorf.