Ernst Punz: Von Sternstunden, Dichterrössern und Raumstationen

Ernst Punz
Von Sternstunden, Dichterrössern und Raumstationen


Eine Lieblingsbeschäftigung in meiner Kindheit war es, die Sterne zu betrachten. Mein Bruder und ich sind dazu auf die Wiese hinter unserem Elternhaus gegangen. Die Wiese steigt gleich hinter dem Haus fünfzig Meter stark an und geht dann in eine leichter ansteigende größere Wiese über. Weiter oben wird die Wiese von einem Haag und einem Wald begrenzt. Links und rechts von der Wiese befinden sich ebenfalls Wälder, ungefähr hundert Meter voneinander entfernt. Ein paar Obstbäume und ein Kirschenbaum stehen auch auf der Wiese. Das alles hat für die Geschichte keine weitere Bedeutung, was ich ihnen eigentlich sagen will ist, dass diese Wiese eine offene Fläche bildet, weit genug für einen umfassenden Blick auf den nächtlichen Sternenhimmel. Damals war es noch rundum finster. Unten im Dorf, ungefähr hundert Meter unterhalb meines Elternhauses, leuchteten nur drei Straßenlaternen, auf die wir im Winter gerne Schneebälle warfen. Die Lampen ihrerseits warfen mittels ihrer Lampenschirmes Leuchtkegel hinunter auf die Straße und die Wege. Somit störten sie uns nicht bei unseren astronomischen Betrachtungen.

Im August betrachteten wir den Großen Wagen hoch oben in Richtung Norden. Ihn konnten wir ohne großes Sternenwissen erkennen. Vom Großen Wagen schafften wir es zum Kleinen Wagen mithilfe einer gedachten vier- bis fünffachen Verlängerung der hinteren Wagenachse. Mein Bruder erweiterte mein astrologisches Wissen durch die Sternenbezeichnung Beteigeuze. Wie man das richtig ausspricht, weiß ich bis heute nicht. Beteigeuze befindet sich, so erklärte mein Bruder, im Sternbild das Orion. Warum ihn das damals schon interessiert hat, weiß ich auch nicht, der Film `Man in Black´, in dem Orion ein Rolle spielt, kam ja erst viel später heraus. Für alle, die den Film nicht gesehen haben: In diesem Streifen ist vom `Band des Orion´ die Rede, in dem sich große Energiereserven befinden und auf diese wiederum haben es feindliche Mächte abgesehen. Mit `Band´ ist der `Gürtel des Orion´ gemeint, was im Englischen `Belt of Orion´ heißt, was sowohl Gürtel als auch Band bedeutet. Weil es bei einem synchronisierten Film blöd ausschaut, wenn der Schauspieler „Belt” sagt und die Synchronstimme „Gürtel” - da ist eine Silbe zu viel - hat man `Belt´ mit `Band´ übersetzt. Außerdem war das dramaturgisch notwendig, denn gegen Ende des Filmes stellt sich heraus, dass es sich beim `Band des Orion´ um das Halsband der Katze Orion handelt und an diesem Halsband hängt eine kleine gläserne Kugel, in der ein ganzes Universum drin ist. Tja.
Im Film kommt ein Spion der feindlichen Mächte auf die Erde, der diese Kugel ausforschen soll. Der Spion hat weder eine Ähnlichkeit mit Sean Connery noch mit Roger Moore, nicht einmal mit Jonny English. Bei diesem Spion handelt es sich nämlich um eine riesige Kakerlake, die aussieht wie eine durch Düngemittel mutierte Heuschrecke. Und mit dem Stichwort Heuschrecke sind wir wieder zurück auf der nächtlichen Sternenwiese meiner Kindheit, auf der, das sei bemerkt, damals höchstens Kuhmist verstreut oder Jauche versprüht wurde. Auch der Himmel war in den neunzehnsechziger Jahren noch relativ frei von so neuzeitlichen Erscheinungen wie Außerirdischen, galaktische Insekten oder Katzen, die ein Universum am Halsband tragen, geschweige denn, dass ein UFO Krach gemacht hätte. Auf unserer Wiesen haben die Grillen noch gezirpt und nicht geschossen, Filmkenner wissen, was gemeint ist. Wir konnten bestenfalls Senta bellen hören, eine kinderfreundliche Jagdhündin, die am östlichen Dorfrand bei ihrer Familie gewohnt hat, wenn sie vor ihrer Hundehütte um nächtlichen Ausgang begehrt hat: „Wau! Wau! Waaauuuuuuuhhhh!”

Wie wir also im August so in der Wiese liegen und - gedanklich frei von Raumschiff Enterprise und seinen Folgen - hinauf in den dunklen Sternenhimmel blicken, zischt plötzlich etwas kleines, helles Rundes über den dunklen Himmel. Was war das? Ein minimalistischer Kugelblitz, der vergessen hat, den Donner einzuschalten? Schon wieder zischt es über den Himmel. Und dann gleich noch ein paar Mal. Ein unerklärlich heftiger Funkenflug. Den Begriff Funkenflug habe ich übrigens vom autogenen Schweißen her gekannt. Onkel Bert, seines Zeichens autodidaktischer Autogenschweißer und Zinnverlöter, war bei uns zuständig für tropfende Wasserleitungsrohre, glucksende Heizkörper und rostdurchfressene Autokarosserien. Bei ihm haben wir die herrlichsten Funkenflüge gesehen. Augenschutz hatten wir natürlich keinen, aber unsere Kinderaugen haben die Sehausfälle relativ rasch kompensiert, wenn wir uns die Augen verblitzt hatten. Und diese Blitze bringen uns wieder zurück zum nächtlichen Sternenhimmel und seinem Funkenflug.

Wie sich herausstellte, waren wir nicht Beobachter eines Gewitters für Hörgeschädigte geworden und auch nicht Zeugen eines UFO-Abschusses durch das Österreichische Bundesheer, sondern wir hatten einem Weinanfall des Heiligen Laurentius beigewohnt. Das, was da über unseren Köpfen in der Erdatmosphäre verglühte, wird nämlich im Volksmund Laurentiustränen genannt. Der heilige Laurentius wurde dafür gefoltert, dass er dem Kaiser den Kirchenschatz, für den er zuständig war, nicht herausgeben hat, sondern statt dessen Kranke und Hilfsbedürftige als „den wahren Schatz der Kirche“ präsentiert hat. Dafür wurde er auf einem glühenden Rost hingerichtet. Sehr sinnig, die verglühenden Sternschnuppen als seine Tränen zu bezeichnen und ihm den 10. August als Feiertag zu widmen.

Viel später erst erfuhr ich, dass die Erde auf ihrer jährlichen Laufbahn um die Sonne in der ersten Augusthälfte durch einen Meteoritengürtel hindurchfliegt und dabei zahlreiche Meteoriten in der Erdatmosphäre verglühen. Der wissenschaftliche Name dieses Gürtels lautet `Strom der Perseiden ´, weil der scheinbare Ursprung dieses Stroms im Sternbild Perseus liegt. Der namengebende griechische Held Perseus hat übrigens der tödlichen Medusa den Kopf abgeschlagen und so weiter und so fort. Die Ereignisse in der griechischen Sagenwelt ließen sich endlos fortführen, das würde kein Problem darstellen. Aber wie man von dort wieder zurück auf die nächtliche Sternenwiese kommt, das ist nicht leicht. Man kann es aber schaffen, wenn man weiß, dass aus der blutenden Wunde der kopflosen Medusa das geflügelte Dichterross Pegasus entsprungen ist und gerade jetzt im Dorf unten die Jagdhündin Senta mit ihrem lauten Bellen einen der letzten verbliebenen Ackergäule aufgeweckt hat, und dieser verärgert in seinem Stall wiehert: „Wiiiiieehihihiiiii!“.

Unsere Leidenschaft für die Sternenwelt war nie sehr intensiv, hat aber auch nie ganz aufgehört. Und sie hat sich auch auf die nächste Generation übertragen. Vor einigen Jahren war ich mit meinem Sohn im Planetarium im Wiener Prater. Dort werden auf eine riesige Innenkuppel mit einem Spezialprojektor künstliche Sternenkonstellationen hinaufgebeamt. Das heißt wirklich gebeamt, hat aber nichts mit Scotty vom Raumschiff Enterprise zu tun. Wir sind jedenfalls nicht hinaufgebeamt worden, ganz im Gegenteil, je interessanter die Sternbilder wurden, umso weiter sind wir auf den bequemen Fauteuils hinuntergerutscht, bis wir uns fast in derselben Schräglage befanden, wie damals mein Bruder und ich auf der Sternenwiese. Und da wären wir also wieder.

Vor kurzem hat mir mein Bruder folgende Begebenheit erzählt. Er sei nächtens auf der Terrasse gesessen, ich glaube, sie können sich vorstellen, wo das ist - gar nicht weit von der Sternenwiese - und er habe dabei eine höchst bemerkenswerte Beobachtung gemacht.
Auf seinem Laptop habe er sich die Verlaufsbahn der Internationalen Raumstation ISS angesehen. Gleichzeitig habe er den Nachthimmel observiert. Die Stelle, wo die ISS in Erscheinung treten würde, musste halbwegs genau im Westen liegen. Örtlich gesehen ist das über dem Feuerwehrdepot, dem Musikerheim und dem Friedhof. Und da war sie auch schon. Hell leuchtend betrat die ISS den Nachthimmel über unseren kleinen Dorf. Gleichzeitig stand auf dem Laptop zu lesen, dass sich die ISS jetzt genau über Paris befände. Das muss man sich einmal vorstellen. Hier das friedlich schlummernde Dorf und dort die Weltmetropole, in der es sich zur selben Minute gewaltig abspielt. Ein ohrenbetäubender Verkehrslärm auf der Champs-Élyssée,
ungefähr 300 Liebespaare auf dem Eiffelturm, gleich daneben im Halbschatten einige Selbstmörder, die dann doch nicht springen und im Moulin Rouge ein Cancan, den beinschwingende Tänzerinnen in einem Höllentempo über die Bühne tanzen und schreien: „Juijui-juijui-juiiiiiiiii!“ Und hier im Dorf bellt nicht einmal ein Hund, geschweige denn, dass ein Ackergaul wieherte.

Die Beobachtung war aber noch nicht zu Ende. Die ISS raste in gewaltigem Tempo über das Dorf hinweg und nach wenigen Minuten verschwand sie im Osten wieder hinter dem Horizont. Örtlich gesehen ist das dort, wo früher die Hundehütte von Senta stand. Am Laptop stand zu lesen, die ISS befinde sich jetzt über Rumänien. Das ist doch ergreifend. Die Flugbahn der ISS spannt sich über unserem kleinen Dorf von Frankreich bis Rumänien, fast vom einen Ende Europas bis fast zum anderen Ende. Als Kinder, haben wir das nicht geahnt. Und nun lagen vielleicht zur selben Zeit am Montmartre in Paris zwei kleine Brüder und in Bukarest in Rumänien zwei kleine Schwestern auf ihrer Sternenwiese, sehen zur ISS hinauf und ahnen nicht, dass sie genau in diesem Augenblick über unser Dorf drüber fliegt.

Liebe Erdlinge, es fehlt in unserer Galaxie noch viel an höherem Bewusstsein und auch an Verbundenheit. Erst wenn wir alle wissen, dass der Himmel, der sich über uns spannt, ein und derselbe ist und dass wir zusammen gehören, brauchen wir uns vor keinen feindlichen Mächten mehr fürchten. Nicht im Osten und nicht im Westen und auch nicht im Norden und im Süden. Dann wird den Menschen ein Licht aufgehen und eine neue raumumspannende Sternenzeit beginnt.


Ernst Punz
Geb. 1960 in Scheibbs. in der Hauptschule schrieb er eine Deutschschularbeit über den Umweltschutz, die seinen Lehrer derart begeisterte, dass er wusste: Ich will Autor werden. 25 Jahre später hat er als Ghostwriter ein Buch geschrieben, weitere zwölf Jahre später sein erstes Theaterstück - „Im Reißenden Wolf am Seerösleinganges“ - und bald darauf sein zweites - „Das Almfest“ -, welches mit Erfolg aufgeführt wurde. Derzeit schreibt er an einem Drehbuch in englischer Sprache für einen Spielfilm über den Weltfrieden. Er besuchte journalistische Kurse, war freier Mitarbeiter beim ORF-Landesstudio Niederösterreich, den Niederösterreichischen Nachrichten und einem Kulturmagazin. Hauptberuflich hat er neun Jahre Öffentlichkeitsarbeit für die Sozialeinrichtung Emmausgemeinschaft St. Pölten gemacht.