Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Artur Rosenstern: Neurussische Wahrheiten

Neurussische Wahrheiten
von L(a)eib und Seele

„Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich an einem sonnendurchfluteten, von Palmen gesäumten Meeresstrand. Das Wasser plätschert vor sich hin. Eine sanfte Brise streichelt Ihr Gesicht … Spüren Sie Ihre tiefe Atmung …. Spüren Sie die warme, trockene Luft des Sommers … Genießen Sie den Augenblick …“
Meine Mutter, Vater, Großmutter Frieda, die Katze Murka und ich saßen mucksmäuschenstill mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und sogen jedes Wort des über Nacht in Mode gekommenen Volksheilers Genossen Tschumak auf. Seine ruhig-sonore Stimme klang angenehm, doch ein Blick in seine alles durchdringenden Augen löste Unbehagen in der Bauchgegend aus. Die im sowjetischen Fernsehen noch völlig unbekannte, unorthodoxe Frisur à la Gabriele Krone- Schmalz mutete irgendwie außerirdisch an. Kein Wunder. Ende der Achtzigerjahre war das riesengroße Sowjetreich plötzlich zum Lieblingslandeplatz von allerlei kleinen, grünen Männchen und Frauchen geworden, sofern man den Zeitungsberichten Glauben schenkte. Den Grund dafür kannte niemand. Eins stand allerdings fest: Sie kamen nicht wegen der guten und breiten Landebahnen. Ihre Flugobjekte, sogenannte Untertassen, landeten meist mitten in einem Getreidefeld oder heimlich auf einer Waldlichtung. Manchmal verschleppten sie Menschen, flogen mit ihnen einige Runden um den Kreml, an der Wolga entlang oder brachten sie sogar in andere Galaxien. Aber meist ließen sie ihre Gefangenen wieder laufen, diese berichteten schließlich den immerzu nach der Wahrheit lechzenden Journalisten von besseren Welten. Warum also sollten wir uns in dieser seltsamen Zeit nicht von einem scheinbar hochdekorierten Genossen namens Tschumak die Geheimisse der Seele erklären lassen?
Der erste Kanal des damals ernstzunehmenden Staatsfernsehens räumte ihm die beste Sendezeit direkt nach den 19-Uhr-Nachrichten ein. Da es in allen Gegenden des Landes höchstens vier Sender zu empfangen gab (die jeweils nationalen, nicht russischsprachigen Regionalsender mitgezählt), konnte man getrost davon ausgehen, dass über hundert Millionen Zuschauer der vertrauenserweckenden Stimme des Sowjetbürgers Tschumak konzentriert lauschten und sich von ihm von allerlei körperlichen Gebrechen, freilich auch von Flausen im Kopf, heilen ließen. Der Mann hatte zuvor das ganze Land von seiner unglaublichen hypnotischen Fähigkeit überzeugt, indem er einen Patienten, kurz bevor dieser live operativ behandelt wurde, via Fernhypnose in einen bärentiefen Schlaf versetzt hatte. Nicht einen Muckser hatte der Patient hervorgebracht, während ein vermummter Chirurg ihm den Bauch aufgeschlitzt und darin herumgestochert hatte. Selbst unsere Katze Murka hatte mit den Ohren geschlackert und dem Spektakulum gebannt zugesehen, ohne nur einmal zu mauzen. Auch bei ihr lösten die wunderliche Stimme und der messerscharfe Blick des Meisters sowie sein weiser, rundlicher Kopf anfangs Neugier aus. Ich konnte es mir nicht erklären. Augenscheinlich hatte seine Botschaft einen Subtext, der sich nur Katzen erschloss. Wer weiß, vielleicht. Unser Hund Tobik empfand hingegen keinen einzigen Funken Sympathie für den großen Meister. Immer wieder knurrte er den Fernseher an und ließ sich manchmal zu einem gedämpften Wuff hinreißen.
Meine Mutter kam der Empfehlung des Meisters treu nach und platzierte mehrere, randvoll mit Wasser gefüllte Drei- Liter-Gläser unmittelbar vor der Flimmerkiste, kurz bevor die magische Heilsitzung startete. Tag für Tag, bis wochenlang, sollten wir fortan einige Esslöffel davon einnehmen, denn das Wasser entfaltete während der Fernhypnose ebenfalls eine heilsame Wirkung. Einige Patienten hätten ihm berichtet, so der Meister, dass nach der Einnahme des heilsamen Wassers ihre sämtlichen Narben verschwunden seien und sich die eine oder andere Krankheit in Luft aufgelöst hätte. Also … Das Wasser kostete ja keine Kopeke, es war schlichtweg kostenlos, wie übrigens jegliche Behandlung beim Arzt oder im Krankenhaus (diesen „Gesundheitskommunismus“ hatte es wirklich gegeben!). Es sorgte bloß nach einigen Tagen auf dem Fensterbrett für unerwünschte Nebenwirkungen und verursachte zuweilen leichten Durchfall. Aber der guten Gesundheit wegen nahm ich die Magenverstimmungen stoisch in Kauf. Ein wahrer Komsomolze knickt nicht so schnell ein, er übt sich stets in Geduld und ist immer bereit …
Nicht dass ich ein Heilmittel wirklich gebraucht hätte. Mit sechzehn war ich wohlauf, fühlte mich frei wie ein Vogel, strotzte nur so vor überschüssiger Energie, mein Kopf war voll von wagemutigen Plänen. Mich plagten bloß gelegentlich Kopfschmerzen, und ich störte mich ein bisschen an der etwa acht Zentimeter langen, hässlichen Blinddarmnarbe.
Die sowjetischen Chirurgen gingen bei solchen Operationen selten zimperlich vor, aber es war ja schließlich keine Schönheits-OP, zu der Zeit hatten sie Wichtigeres zu tun gehabt. Der Afghanistan-Krieg hatte vor der Tür getobt, regelmäßig waren verwundete Soldaten und Zinksärge von der Front gekommen …
Aber nun, als der Meister Tschumak von Wunderheilungen zu schwärmen begann, witterte ich eine Chance. Tag für Tag entblößte ich vor dem Schlafengehen meinen Bauch, legte das eiskalte Lineal darauf und notierte die Werte in ein Notizbuch. Einmal schien es mir, als wäre sie um vier bis fünf Millimeter kleiner geworden. Ich jubelte. Am Tag darauf war sie allerdings wieder gewachsen, trotz des streng nach Anweisung eingenommenen Heilwassers, trotz der stundenlangen Hypnosen. Es war also kein Verlass auf Genossen Tschumak. Ich folgte bald enttäuscht dem Beispiel von Murka, die inzwischen an dem Schlauberger aus dem Fernseher jegliches Interesse verlor. Sie schlief zu meinen Füßen und schnurrte, während er seine magischen Sprüche in die sowjetischen Wohnzimmer schickte.
War ich ihm gegenüber undankbar, fragte ich mich? Trotz allem war es eine aufregende Zeit. Diese Tschumaks, Dschunas, Gorbis … und wie sie alle heißen mögen, die blanken Unfug als kluge Reden verkauften und mit ihrem Charme Millionen von Menschen an sich fesselten. Sie alle hatten eines gemeinsam: Sie sprachen von Glück, von neuen Chancen und davon, dass sehr, sehr bald alles gut und besser werden würde. Es wurde in der Tat besser, vornehmlich jedoch für sie selbst ...
Auch heute noch, wenn ein Lineal in meinem Blickfeld auftaucht, kann ich zuweilen der Versuchung nicht widerstehen und kontrolliere meine Blindarmnarbe. Ich schließe mich im Badezimmer ein, ziehe die Jeans herunter, ziehe den Pullover hoch und lege es an meinen Bauch. Manchmal könnte ich schwören, dass meine Narbe um vier bis fünf Millimeter geschrumpft ist. Das nach mehr als dreißig Jahren. Trotzdem ... Freilich erzähle ich von dem Phänomen nicht in der Nachbarschaft herum, denn ich habe keine handfesten Beweise dafür, außer meinen Notizen von damals. Und bitte, liebe Leserinnen und Leser, erzählen sie nichts davon meiner Frau!

 

Artur Rosenstern
Geb. in der UdSSR. Preisträger beim „Federleicht 2013“ in Berlin sowie beim Leverkusener Short-Story-Preis 2015, TOP 25 beim zeilen.lauf 2018. Letzte Buchveröffentlichungen: Novelle „Planet Germania“, 2015, Roman „Die Rache der Baba Jaga“, 2020 im M. Fuchs Verlag. Mehrere Herausgeberschaften im Bereich Cross Culture-Literatur.
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