Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Ba Ossege: In den Knochen

Unruhe. Schon die ganze Nacht. Mal zu heiß, dann zu kalt. Nase und Rachen trocken, dass atmen kaum geht. Mit dem ersten Krähengeschrei vom Baum schräg gegenüber aufstehen. Kein Licht im Bad machen. Pinkeln. Hände waschen. Kaltes Wasser ins Gesicht. Der Rücken tut weh bei dieser kleinen Beuge. Mit der Hand am Waschbeckenrand aufstützen und aufrecht kommen. Blind zum Handtuch greifen. Abtrocknen. Umdrehen. In die Küche gehen. Kaffeemaschine anmachen und mit dem heißen Kaffee vor dem Fernseher Platz nehmen. Kann nicht anders. Muss Nachrichten sehen. Muss wissen, wie es mit dem Krieg in der Ukraine steht. Sehe Bilder mit Menschen, dick eingepackt, mit Taschen, Koffern in der Hand, dichtgedrängt. Schlürfe den Kaffee. Knipse mit der Fernbedienung von Kanal zu Kanal. Immer gibt es etwas zu berichten, analysieren, kommentieren. Mir wird kalt. Zippe weiter. Neue Bilder von Menschen, dichtgedrängt. Fragende müde Blicke. Rauchschwaden aus weggebombten Wohnungen in Hochhäusern. So sind die Morgen nach dem 24. Februar 2022.
Mache weiter damit. Auch nachdem ich anfange zu diesen Bildern zu heulen. Mache weiter auch nach dem Morgen, als es schwer war aus dem Bett zu kommen. Hüftschmerzen. Beim Auftreten mit dem rechten Bein Schmerzen, die durch den Körper fahren. Humpelnd erledige ich die Morgenrunde und setze mich vor das Fernsehgerät. Sehe wieder dem Krieg zu. Den Flüchtenden. Mache weiter auch nach dem Morgen, an dem ich mich mit aller Mühe im Bett aufsetzen kann bevor ich langsam aufstehe. Habe mich die ganze Nacht gewälzt. Eh wie all die Nächte davor. Eh mit zu heiß, zu kalt. Großes Kopfkissen, kleines Kopfkissen. Trockener Mund. An diesem Morgen Nackenschmerzen bis in den Kopf hinein. Und doch kann ich nicht anders. Beginne wie in den Tagen davor. Katzenwäsche. Kaffee machen. Vor den Fernseher setzen. Später tue ich meinen Tag. Einkaufen. Wäsche waschen. Post erledigen. Auch mal Mittagessen mit einer Freundin. Am Abend starre ich wieder auf den Bildschirm. Höre Talkshows zu. Wenn mir kalt wird, tue ich nichts dagegen. Bis es nicht mehr anders geht als aufzustehen, um ins Bett zu gehen.
Die Tochter ist im Nachtzug nach Venedig. Wie kann die jetzt verreisen? Wenn dieser Krieg vor der Haustüre steht. Gott bewahre! Niemand spricht davon. Von Krieg bis nach Wien. Neutralität wird hochgehalten. Aber was wenn? Dann ist die Tochter nicht da. Ist in dieser Lagunenstadt. Beginnt den Tag mit Cappuccino und Brioche und später ein Spritz. Postet Fotos davon. Und von Heiligen. Stellt sie Kerzen in den Kirchen auf, von denen sie Fotos schickt? Denkt sie an die, die jetzt im Krieg sind? Auf der Flucht? Der Sohn klagt von besonders anstrengenden Zeiten in der Klinik. Pandemiebedingt. Er selbst muss zu einem CT. Muss sich um seinen Körper kümmern. Aber auch ihm steckt kein Krieg in den Knochen. Also sitze ich noch länger vor dem Fernseher. Wenn auch immer wieder mal unterbrochen. Telefonate mit Freundinnen. Es gibt die, die gleich sagen, „sag nichts zur Ukraine, lass uns über etwas Schönes reden.“ Es gibt die, die schimpfen müssen. Besonders über Putin, ein glattrasierter, ein alters-geglätteter, tollwütiger Bär, niemand kann ihn bändigen. Es gibt die, die wenig reden. Und wenn wir es hören wollen, dann ist da ein Knacksen. So erschrocken sind wir eigentlich. Wir, denen Krieg in den Knochen steckt. Gerade noch erzählte ich der Tochter, die mit meinem 84sten Geburtstag angefangen hat, mich zu meinem Leben zu interviewen, erzählte ihr, damals in Bonn an der Hand der Mutter zum Bunker gelaufen zu sein. Dass wir es fast immer schafften bevor die Türen geschlossen wurden. Dass wir auch zwei, drei, vier Mal es nicht schafften. Einmal, ich erinnere mich genau, warfen wir uns auf dem Weg zum Bunker unter eine große Tanne als der Lärm am Himmel ohrenbetäubend wurde. Einmal klingelten wir bei der Metzgerfamilie an der Ecke zum Bunker. Die ließen uns hinein. In ihren Keller. Und ich sehe im Fernsehen in die Gesichter der Kinder. Und ich sehe nicht mich. Ich sehe in die Augen der Mütter. Und ich sehe nicht meine Mutter. Nur dann, letzte Nacht, muss ich aufstehen, will auf die Toilette. Plötzlich geht nichts mehr. Erschütterung im Körper. Wenn das Herz bis hinter die Augen klopft. Wenn es rast in mir, mich erfasst und ich außer mir bin. Rufe zitternd beim Sohn an. Bei der Tochter. Nichts. Rufe die Rettung an. Muss warten. Dann kommen sie. Bringen mich ins Krankenhaus. Wieder so eine Blutdruckspitze. Hatte ich lange nicht mehr. Gerate an eine nette Ärztin. Sie verbietet mir, mich weiterhin über den Krieg zu informieren. „Zu vielen alten Menschen geht es damit schlecht!“, sagt sie mir als ich wieder gehen kann. Sie lächelt mich an. Sie legt eine Hand auf meine Schulter. Ich kann das kleine Kind an der Hand der Mutter sein. Wir warfen uns auf den Boden unter der großen Tanne. Wir überlebten.
Ich überlebte lange. Kein Krieg kam so nah, dass sich die Knochen erinnerten und Risse lebendig wurden. Bin zu alt, um sie länger zusammenhalten zu können. Um stark zu bleiben. Keine Angst zuzulassen. Alt und weich bin ich geworden. Und der Tod so nah. Der Tod täglich in der Ukraine. Ich kann mich nicht abwenden. Ich kann es nicht ertragen.
Der Tod. So nah. Täglich.

 

Ba Ossege
Geb. 1962 in Duisburg, aufgewachsen in Wien, dann Berlin Autorin autofiktionaler Geschichten, kürzlich erschienen „Auflösende Provinz/en“ in „der die das Fremde“, Konkursbuchverlag, Tübingen 2021, ist auch Soziologin, Soziotherapeutin & Schreibtrainerin (writers’studio, Wien), alles feministisch, lebt zurzeit in Wien mit ungestilltem Fernweh nach Indien.
BO.vienna@gmx.at