Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Humer Sandra: Sitzgelegenheit

Man stelle sich vor: Eines Tages klingelt es an der Tür und besagte graue Männer stehen davor. „Guten Tag! Sie müssen sich in Einzelhaft begeben, hier in ihrem Haus, die Präfektin wünscht es. Wir werden das natürlich ab und an kontrollieren. Brauchen Sie ein Zimmer oder haben sie eines vorzuweisen?“ – „Alles vorhanden.“ – „Gut.“ – „Gut.“ – „Auf Wiedersehen.“ – „Auf Wiedersehen.“

Seit diesem Überraschungsbesuch untersage ich mir jedwede Grenzüberschreitung. Nun bin ich allein im Raum der mir zugedachten Isolation und verbringe meine Zeit mit Hirngespinsten und Wortteppichknüpferei. Ab und an ergießt sich ein Schwall an Unworten des Jahres auf der reich verzierten Tapisserie, doch das trocknet wieder.

Die täglichen Sitzungen in dem mir angewiesenen Raum sind eine Wohltat, nur die alten Glieder zerspringen mir bald in alle Teile. Als wäre ich zum Blechmann mutiert, so sehr lassen die Geräusche meiner Joint Ventures auf die Rostschäden innerhalb meiner Gehstummel auf einen bewegungsarmen Alltag schließen. Aber was solls. Ich wurde angeleitet, höflich aber bestimmt zurechtgewiesen, leicht herrisch aber zielorientiert und ordnungsgemäß aufgefordert, wer kann da schon nein sagen. Gelüstet es mich nach Dehnen und Strecken, dann bete ich den Rosenkranz neunundsechzig Mal und tanze den Tanz der aufgehenden Sonne nach Art des Hauses. Das hilft tatsächlich über die körperliche Entgleisung hinweg und beruhigt das Nervenkostüm, unterschätzen Sie das nicht. Ansonsten ist mein Tag durchwegs streng getaktet, denn vor dem Aufenthalt in meiner Strafkolonie war ich bereits ein treues Mitglied der gerechten Ordnung, weil ich als Lehrbeauftragter für angelsächsische Sprachkunst eben solche mir aneignen musste. Ein mir angeborener Defekt erlaubte es mir nicht, mein Leben streng nach Anleitung und Listen zu führen, dies musste ich mir erst in jahrzehntelanger Beschäftigung mit stringenten und werkimmanenten Verhältnissen im Zuge meines Baccalauréats aneignen.

Mein Raum ist mir nun schon etwas zu eng geworden, er drückt mir zu sehr auf die Atmungsorgane und verschafft mir das Gefühl von Freiheit nicht mehr in ausreichender Form. Außerdem hat sich seit ein paar Tagen etwas an meinem Isolationszustand verändert, denn ich habe den unvoreingenommenen Eindruck, dass mir ab und zu eine Frau im Nacken sitzt, um mir von hinten unverhohlen auf die Finger zu gaffen. Dieser Blick ist deutlich zu spüren, ich kann es nicht beschreiben, denn seit meiner Darmeinklemmung, die mir trotz Sitzfleisch das Einsiedlerleben zur Hölle macht, habe ich von Gefühlen jedweder Art Abstand genommen, um hier in diesem begrenzten Dasein überleben zu können. Ich habe es noch nicht gewagt, mich nach ihr umzudrehen, aber ihre Aura erinnert an die Präfektin, auch die Geräusche, die sie mit ihrem Schreibstummel erzeugt, wenn sie bei ihrer Observation notwendige Notizen zu Papier bringt, lassen vergangene Szenarien in den grauen Gemäuern der Ordnung in mir aufbrechen. Unter diesen Umständen soll man nicht verrückt werden.

„Glauben Sie an Gott?“, durchlöcherte mich eines Tages die Stimme der sich im Raum befindlichen Frau und verriet dadurch aufgrund der doch sehr markanten, an nächtliche Verschubarbeiten anmutenden, Stimme, dass es sich tatsächlich um die Präfektin handelte. Während ihrer peinlichen Inquisition klopfte sie die Melodie von Beethovens Unvollendeter, gleichsam atonal, mit strenger Hand geführtem Schreibgriffel und den Bleistiftabsätzen, die ihre Kunstlederstiefel davon abhielten, endlich Boden unter den Füßen zu gewinnen. Selbigem Schuhwerk entwich jedes Mal ein erbärmliches Wimmern, wenn die Präfektin innehielt und ihren rastlosen Beinen eine Verschnaufpause gönnte. Ich wollte ihr antworten, ich wollte ihr sagen, dass ich es nicht genau wüsste, aber wenn sie es wollte, wäre es für mich in Ordnung. Nachdem ich jedoch im Laufe der Zeit mit meiner Sitzgelegenheit eins geworden war, ohne davon wirklich Notiz genommen zu haben, konnte ich nicht anders als meinen Kopf zuerst nach links, dann nach rechts bewegen, erst dann bemerkte ich meine prekäre Situation. Die Präfektin als Meisterin der zwischenmenschlichen Kommunikation deutete meine lächerlichen Befreiungsversuche wohl als das, was ich in den dunklen Ecken meiner kleinbürgerlichen Existenzberechtigung wohl schon immer irgendwie vermutet hatte und zog erbost und angewidert zugleich von dannen, nachdem sie mir voller Übermut und Überheblichkeit drei Mal über meine rechte Schulter gespuckt hatte, sie meinte bei ihrem Abgang, „ein einfaches Nein, hätte auch gereicht.“

Selbstverständlich habe ich einen guten Grund, warum ich mich widerstandslos in diesen Raum der unbegrenzten Unmöglichkeiten begeben habe, ohne über jeden erdenklichen Zweifel erhaben gewesen zu sein. Ich habe ihn getroffen, ich hatte Gelegenheit, mit Gott ein paar Worte zu wechseln und mit ihm über Hinz und Kunz zu plaudern. Er wohnt zwei Straßen weiter, seine Heimat ist die Begegnungszone und sein Schlafplatz der windgeschützte Eingang einer weltweiten Bekleidungsanstalt, die mit Unverwechselbarkeit wirbt und die Menschenrechte anderswo dem Boden gleichmacht. Dort haben sich unsere Wege gekreuzt und dieses fulminante Zusammentreffen von Instinktgetriebenem und Spitze des Eisbergs hat Einzug genommen in meine Abschlussrede zu Glaube Liebe Hoffnung, die ich zu Ehren meiner ersten Meisterklasse vor illustrem und weinbelesenem Auditorium zum Besten geben durfte.

Leider ist meine Erinnerung an dieses doch sehr wichtige Gespräch in den verödeten Synapsen meines Kopfkinos liegen geblieben, aber in meinem derzeitigen, der Zeit entrückten, Zustand ist es mir - des Gutdünkens nicht müde - gelungen, Fragmente kopfüber zu rekonstruieren und dieses Zwiegespräch mit ihm aufzuzeichnen. Die Präfektin hatte meinen Rücken, der oberhalb der Sessellehne noch frei atmen konnte, bei ihrem fluchtartigen Abgang mit ihrem Griffel angebohrt, somit war es mir ein Leichtes, die Worte zu fassen und einzuritzen:

Die Gedanklichkeit im Arsche

Ohnmacht in den Gehirnwindungen, die Syntax drückt sich
nach innen
und bläst heiße Luft nach draußen, um den Körper vorwärtszubewegen.
Er bewegt sich und bleibt stumm, alles ist stumm und verwehrt
das geflügelte Wort.

Nichts, gar nichts ist zu sagen, und doch bewegt sich der Mund lautlos.
Verschluckt? Was verschluckt? „Alles“, sagt der Arsch und setzt sich in die U-Bahn.
Dort sitzen auch die anderen Ärsche und besehen sich asozialbehalten die außerfensterliche U-Bahn-Tunnel-Landschaft. Draußen ist’s auch schön. Ob Mensch, ob U-Bahn-Tunnel-Mauer, es ist immer das Gleiche mit der Grauslichkeit.

Man besteigt alsdann mit tausenden Klugärschen die Arschwachstumstreppe, die hinaufführt in das Hohe Haus der Wissenschaftlichkeit und sucht sich schweißbefleckt und ausgewischt eine unbesetzte Fläche für denselbigen und nimmt damit und darauf Platze.

Nun darf man Ohren entfalten und Finger verkrüppeln, bis der Gefertigte nicht mehr will und die zuhörigen Jungärsche hinein- oder hinauskriechen- wo auch immer. Man durfte belauschen und nicken, in Kirchensklavenmanier dürfte es nicht andersartiger sein.

„Schmeiß’ es doch weg, das Grau-Weiße hinter Deinem Gesicht, es belastet und drückt Dir die Schultern zu sehr nach hinten, sodass der Primarius Deiner Geschlechtssachen zu sehr nach vorne und hinten sich präsentiert und dem Andersartigen die falsche Antwort gibt.

So versudle und besündige Dich nicht, so lange Augen den Existenzialismus noch erkennen lassen. Sag’, Dich frierts und nimm einen weiten Pfarrersrock zur angeblichen Stromsparung.
Sogleich verdirbst Du Augenlichter und holst Dir im Selbstfrieden den Schüttelreim mit punktuellem Ende.

Nun beinhaltige es Dir in Deinem Arsche und hebt ihn hoch, den Pfarrersrock.

Eines Tages flatterte eine Brieftaube der alten Schule durch den Türspalt, denn Fenster konnten sich meine sterilen Wände nicht leisten. In deren sportlichem Messenger Bag befand sich eine verschlüsselte Botschaft der Präfektin. Sie hätte a priori kein Interesse mehr an meiner vermaledeiten Existenz und fordere mich stante pede auf, die Isolation gut sein zu lassen und ich solle meine Sitzgelegenheit et cetera gleich mitnehmen, es wäre gar nicht anders möglich. Nachdem ich mit dem Raum fertig war, da er mir bereits des Öfteren fremdgegangen war und ich darüber niemals hinwegkommen würde, erhob ich mich mitsamt meiner Sitzgelegenheit und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Bedächtig und getragen von antizipierter Angst durchschritt ich die Schwelle von Sein und Nichtsein und weinte hochachtungsvoll vor mich hin.
Fassungslos starrte ich zum Ausgang und konnte meine neugewonnene Freiheit kaum ertragen. Doch was nun? Die Präfektin hatte dafür gesorgt, dass keine Bildungsanstalt mehr Anstalten machte, mich als Lehrbeauftragter in den Dienst der Sache zu stellen. Ich musste mir also eine neue Aufgabe suchen, eine neue Passion, eine honorable Ablenkung zum Müßiggang und das ohne Umschweife. Ein sitzender Beruf sollte es sein, so viel stand allerdings fest.

 

Sandra Humer
Geb. 1976 in Wien, Studium der Germanistik/Anglistik 2001, Diplomarbeit zu den „Schulorthographischen Bestrebungen im 19. Jahrhundert“, anschließend Redakteur bei 88.6 und Radio Max. Seit 2006 in NÖ wohnhaft, Lehrerin für Englisch/Deutsch in Wien, NÖ. Dank beachtlicher Midlife-Crisis endlich wieder im Genuss des Schreibens.