Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Konrad H. Roenne: Vom kommenden Aufstand

1
Es wird ein Tag sein, der Gewöhnlichkeit heißt; ein Tag, an dem wir mal wieder mit Sinnlosem, mit Überflüssigem, mit Furchtbarem, mit Essensvorbereitungen, Familienplanung, Bitcoinhandel beschäftigt sind, beflügelt von der Gewissheit, dass es vorangeht: ein Dienstag also, oder ein Freitag, ein Mittwoch, vielleicht auch ein Sonntag. Sicher gibt es zu jenem Zeitpunkt bei einigen von uns etwas, das mit Glück und Zufriedenheit und Zuversicht angefüllt ist – Momente zum Beispiel –, sodass wir die Vorfälle oder vielmehr: die Berichte von den Vorfällen erst verspätet wahrnehmen oder ihre Konsequenz herunterspielen, denn unser gegenwärtiger Zustand verhindert jede Art von Ernsthaftigkeit, die sich dadurch auszeichnet: furchtlos in den Schlund der Welt und auf die Fläche unserer irdischen Endlichkeit blicken und unser nahendes Ende sehen; die Blase platzt, alles ist gezählt, niemand bleibt bei uns, auch wenn es Abend werden will.
Die ersten Meldungen werden uns höchstwahrscheinlich aus einer Stadt in Süddeutschland, Augsburg oder Schweinfurt, Lörrach oder Berchtesgaden, vielleicht aber auch aus Marbella, aus Brighton, aus Rijeka, aus Miami, aus Montevideo oder aus Tel Aviv erreichen; mal eben den Newsfeed checken. Die Temperaturen sind mild, sicher schon Frühjahr, vielleicht April oder ein ungewöhnlich warmer März; das Wetter, so die immergleiche, nicht auszurottende Ausrede, lädt dazu ein, lässt uns anmaßen, vor die Tür zu gehen, die Straßen entlang zu flanieren, die Grünflächen zu durchschreiten, nach den Amseln oder den Nebelkrähen oder den Eichhörnchen Ausschau zu halten; falls Wind aufkommt oder es zu regnen beginnt, ziehen wir unsere Multifunktionsjacke an.
Hinterher wird es welche geben, die sagen: Wir haben das Ausmaß des Kommenden, das nun unsere Gegenwart ist, bereits geahnt, als uns die ersten Meldungen erreichten.
Wie?
Na ja, irgendwie. Bauchgefühl vielleicht.
Aber das bedeutet, dass andere kommen, die sagen: Haltet bitte euer verdammtes Maul!

2
In jenen Tagen werden wir immer und immer wieder sagen: die waren doch als Hilfe gedacht, diese Gehwagen. Wenn wir jemanden damit sahen, dann wussten wir: der ist gebrechlich, oder: die ist gebrechlich, was zugleich bedeutete, dass von ihnen keinerlei Gefahr ausging, wir schauten sie – sowohl die Gehwagen als auch die Personen, die diese Gehwagen schoben – lediglich an: verstohlen und mitleidig, gar voller Kraft und Unsterblichkeit, und gingen vorbei.
Wenn der Tag kommt und die Ersten von den Gehwagen angegriffen werden, während sie wie immer an diesen vorbeigehen wollen, dann werden sie jenen sagen, die die Gehwagen zu schieben scheinen: Was soll denn das, du Spinner? Oder: Wohl verrückt geworden, blöde Kuh? (Vielleicht auch freundlicher im Ton.) Bis wir verstehen – oder zu verstehen glauben – werden, dass sie gar nicht anders können, es keine böse Absicht ist, weil die Gehwagen es sind, die uns angreifen, nicht die Alten und die Gebrechlichen, die mit den uns angreifenden Gehwagen unterwegs sind.
Schlimme Verletzungen wird es geben, sogar Todesfälle. Und da werden wir zu den Alten und den Gebrechlichen mit ihren Gehwagen sagen: Lasst doch die Dinger los! Geht nicht, werden die Alten und die Gebrechlichen antworten, wir stürzen sonst!
Dann werden wir uns erst einmal nicht mehr raustrauen, und wenn doch, wenn es nicht anders geht – wegen der Arbeit, um einzukaufen, weil wir zum Arzt wollen –, werden wir schleichen müssen wie in dunklen Urzeiten, auf die Gefahren, die Gehwagen nämlich, achten, zur Seite springen, in Häusernischen und für uns eilig geöffnete Eingänge flüchten, Abwehrtechniken erlernen, was sich natürlich nicht so nebenbei machen lässt; aber wir haben Zeit. Und weil wir uns nicht auf die Straße, in die Fußgängerzonen, in die Grünanlagen, zu den Amseln und den Nebelkrähen und den Eichhörnchen trauen, werden wir die zehntausend Schritte in unserer Wohnung gehen; das ist natürlich ziemlich beknackt, eine Zumutung: dauernd irgendwelche Kurven laufen und dann die Richtung wechseln und an den Dingen vorbeikommen, an denen wir kurz zuvor schon vorbeigekommen sind und die wir sowieso in und auswendig kennen – aber zehntausend Schritte sollen es sein, sonst werden wir unweigerlich krank und alt schon vor der Zeit, die uns bestimmt ist, krank und alt zu werden.

3
Zum Glück wird es nicht lange dauern und es kommen diejenigen, die uns erklären können: wir befinden uns in einer Art Aufstand. Warum: in einer Art?, werden wir fragen. Weil nicht alle Parameter beziehungsweise Bedingungen eines Aufstands erfüllt sind, so die Antwort.
Und es kommen Kritiker, auch Kritikerinnen, die meinen, es heiße doch Rollator, nicht Gehwagen; mit solch merkwürdig ungenauen Begriffen könne man der Sache niemals Herr werden, ihr Einfältigen!
Andere werden sagen: Die fünfte Schale des Zorns, Leute! Aber dann werden wir zu den Wohnungen der Alten und der Gebrechlichen gehen – ding-dong! – und zu ihren Zimmern in den Heimen – klopf-klopf! – und werden sagen:
Kommt!
Und:
Jetzt lasst die Dinger stehen! Ihr nehmt euch einfach jemanden, der euch stützt, wenn ihr rausgehen wollt. Es sind genug Menschen zum Stützen da, schaut euch um! Und außerdem: auch wir wollen rausgehen und dabei nicht von euren Gehwagen angegriffen werden.
So soll es sein!
Wir werden wieder nach draußen gehen können: um den Block, in den Park, die Straße entlang, weil wir die Alten und Gebrechlichen stützen; bei den Schweren müssen wir zu zweit, zu dritt ran, aber das ist okay. Die Amseln, die Nebenkrähen und die Eichhörnchen, die treffen wir nun wieder: Schön, euch zu sehen!

4
Bis der Tag kommt, an dem wir erneut auf einen Gehwagen stoßen oder dieser auf uns, mit einem Alten (einer Alten) oder einer Gebrechlichen (einem Gebrechlichen) dran: wir haben es nämlich schleifen lassen, wie wir immer alles schleifen lassen, wenn wir davon ausgehen, dass alles super oder wenigstens: irgendwie läuft; vorbei die trügerische Ruhe.

5
Und diesmal wird es so sein, dass wir die Alten und die Gebrechlichen nicht überreden können, die Gehwagen stehen und sich stützen zu lassen – warum sollten sie von uns noch mal enttäuscht werden wollen? Diesmal nehmen sie die Gehwagen, obwohl sie wissen, dass diese eine Gefahr für uns darstellen, ja!, weil sie wissen, dass diese uns angreifen und wir deswegen von ihnen wegbleiben werden. Straßen und Gehwege, Grünanlagen und Fußgängerzonen, die gehören nun ihnen, die Amseln, die Nebelkrähen und die Eichhörnchen natürlich auch. Du und ich: wir schauen uns an und wir schauen aus dem Fenster hinaus auf die Straße, sehen die Gehwagen da rumkurven und denken: Mist.
Mitunter können wir nachts kurz raus; darauf warten wir täglich, auch wenn wir uns nicht immer trauen. Dann sind nur wenige Alte und Gebrechliche – manchmal sogar Jüngere! – mit ihren Gehwagen unterwegs, wir vermuten: Patrouillen, um uns abzuschrecken und die Straßen von uns reinzuhalten. Unser Biorhythmus ist total hinüber. Und jene von uns, die schnell sind, die schaffen’s; sie bringen was Süßes aus irgendeinem Spätkauf mit, was zu knabbern, eine Flasche Wein oder ein Wassereis für die Kinder. Aber manche kommen nicht wieder, oder schwer verletzt. Nicht lange und da ist dieser Wunsch: wir wollen auch einen Gehwagen haben, wir haben das Laufen, das richtige, echte, das, was draußen stattfindet, fast schon verlernt, und wir haben es satt, in der Wohnung zu hocken; die Angst macht uns mürbe.
Vergiss es, der Zug ist abgefahren, denn dafür müsstest du rausgehen und dir einen solchen besorgen können! Ganz bestimmt wird jemand kommen und sagen: Wir haben’s vermasselt.
Halt bitte dein verdammtes Maul!, werden wir antworten und mit dem Zählen der zehntausend Schritte in unserer Wohnung von vorne beginnen.

 

Konrad H. Roenne
Geb.1979 in einem Vorort von Berlin. Schule, Zivildienst in einem Alten- und Pflegeheim sowie Studium in Berlin. Arbeitete u. a. als Nachtwache in einem psychiatrischen Wohnheim und für das Vice-Magazin (deutsche Ausgabe). Veröffentlichung von Prosa, Essays und Artikeln in Zeitschriften und Anthologien. Für seine Texte erhielt er u. a. den Litarena-Literaturpreis, den Preis der Wuppertaler Literatur Biennale und das Alfred-Döblin-Stipendium. Im Frühjahr 2022 erscheint sein Debütroman.