Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Oliver Fahn: Bewegter Stillstand

Ich sitze da und tippe. Während meine Finger flink über Tasten fliegen, bin ich ganz bei mir. In stundenlanger Zeitlosigkeit segle ich auf meinem Gedankentörn. Über Insellandschaften aus Abschottung gleite ich dahin. Es ist der beständige Takt meiner Fingerspitzen, der Einfälle mit Seelenregungen synchronisiert. Der Puls, der bis ganz nach vorne gewandert ist, enthebt mich jeglicher Gravitation. Unter den Halbmonden meiner Nägel brennt es. Gegen verweigerte Lohnerhöhungen, gegen nie angefragte Gehaltsstufensteigerungen drängt es mich, anzuschreiben.
Wogegen ich unfähig bin anzureden, revoltiere ich mit monotonem Klacken meiner biegsamen Hände. Elastizität, die Durchsetzungsvermögen egalisiert. Worin ich ungeeignet bin mich einzubringen, entsage ich mich in rhythmischen Tänzen auf dem Keyboard. Akrobatik als Revolte. Ein fangnetzloser Drahtseilakt, weil meine Finger bei Abstürzen Tasten betten.

Der Fluch des Gejagten, den es treibt, eigentliches Leben hinter der Kiste zu versäumen, der es verdrängt, wie ein Schwimmer Wasser im Becken, das er kraft sanfter Schläge bewältigt. Ein verpixeltes Display, Sinnbild meiner angestrebten Lightversion unerträglicher Realität. Friedliche Reise durch unbesetztes, gedankenblühendes Niemandsland, auf der ich Zeit verbringe, die meinen Engsten abgeht. Dass ich aufgrund inneren Leidensdrucks stur schreibend protestieren muss, peinigt jene Parallelwelt namens Familie, die mich noch nicht abgeschrieben hat.
Mein Verlangen gehört zu werden, bräuchte eine Stimme, die mir die Natur verwehrt hat. Meine Ausleger boxen dorthin, wo sie ziellos verhallen. Ich schreibe, um nicht zu veröffentlichen, bin konzentrierter Schubladenliterat, versunken in Gedankenexperimenten, die im geistigen Treibhaus sprießen. Ideen zurückhalten anstatt mich von ihnen zu lösen, denn in der Wunde liegt mein Heil. Im Zeichen der Masochisten quält ich mich mit nirgendwo eingestellten Beiträgen. Die unwiderlegbare Behauptung, Texte würden angenommen, sofern ich sie einreichte, genügt einer lodernden Flamme, die mein Psychologe sekundären Leidensgewinn nennt. Sentimentalität, die mich nötigt zu bunkern, von der Trauer zurückgehaltener Kurzgeschichten zu profitieren. Sensibel genug sei ich, auf stets intime Kritik vor ihrer Eruption zu reagieren. Der Feinfühligkeit von Bewohnern am Fuße eines Vulkans sei ich Angehöriger. Das Stigma des Drückebergers, den Stempel des Enteilenden, bekomme ich von denen aufgedrückt, die mich kennen. Verräterische Fährten, die Mitbewohner auf dem Weg zur Dachkammer zu erkennen meinen.

Ich favorisiere gesichtswahrende Niederlagen, Verlierer virtueller Kämpfe zu sein. In jenem Kontext sind sie zu abstrakt, dass ich vor ihnen fliehen müsste. Ich entziehe mich, indem ich keine Wange hinhalte. Jungfräulich von wirklichem Wettbewerb und wahrlicher Verhandlung verweigere ich mich Abweisungen, die ich durch Offensiven selbst verursachen würde. Rückzug ist Garantie, unbeschadet davonzukommen. Überall ist Pedanterie am Werk, ein Lauffeuer von Tadel, das sich über diejenigen ausgießt, die ihre Nase zu weit in den Wind strecken. Mein Speicherzimmer ist eine Keimzelle. Ein Gemenge aus brütenden Gedanken und abgestandener Luft. Im totgeatmeten, von Überlegungen ausgelaugten Sauerstoffgewebe kann ich existieren. Jene angriffslose Abgeschiedenheit, ein Weihnachtsfest ohne Bescherung. Das Wissen nichts zu bekommen, erfüllt mit stummer Genugtuung. Jede ausgehandelte Münze in der Lohntüte ist ein Abstieg in die Unterwelt der Anbiederung, der man gerecht werden muss, sobald man in sie abgerutscht ist. In jenem Moloch ohne Tageslicht möchte ich nicht sitzen. Ich verwehre mich sämtlichen Theorien im Dunstkreis von Aufklärung. Der Aufdeckung meiner Feigheit, den Ansätzen, Mutlosigkeit führe zu Ersatzbefriedigung, münde in Zeilen wie ich sie eintippe.

Schreiben statt verhandeln. Tippen, um nicht zu veröffentlichen. Wer sagt, Scheinwelten seien zwangsläufig von minderer Qualität? Aller Niedergang beginnt, wenn Gedanken sich in der Außenwelt produzieren, befruchten, vermehren, ihr Heil im Kollektiv suchen, meinen, sie müssten gleich Pappeln im Wind ihr Saatgut über eine arglose Bevölkerung ergießen. Ich schenke niemandem als rein verkauften Wein ein. Wozu Menschen mit Lügen vergiften, die sie eh durchschauen? Und durchschauen sie sie nicht, ist es ohnehin erbärmlich sie zu manipulieren. Der Boomerang, den wir werfen, knallt sowieso in unseren Kopf. Er ist nicht dafür gemacht, vor uns abzubiegen.

Ich fühle meine Finger gegen unsichtbare, zweifellos vorhandene Widerstände anschreiben. Die Bestimmung meiner Finger, Blockaden zu lösen. Wo sie nicht sitzen, ist der beste Ort, sie abzustellen. Grundlage jeder seriösen Therapie. Wo es weh tut, brauchst du Ursachen nicht suchen. Um Schmerzen zu entkrampfen, benötige ich eine variable und doch kontinuierliche Zahl von Anschlägen pro Minute. Wie der Herzschlag dürfen sie nie aufhören. Sie haben Vitalfunktion. Erliegen sie, sterbe ich. Finger sind nicht bloß Glieder, wenn man sich darauf versteht, mit ihnen Umlaufbahnen zu ändern. Ich kreise um mich, wie der Hula-Hoop einen gekonnten Schwinger umkreist. Die unumstößliche Gewissheit, dass ich nirgends hinunterfalle, solange ich meine Räumlichkeit nicht verlasse, selbst wenn die Erde eine Scheibe ist, treibt dazu, mich einzubuchten. Ich will hier drinnen bleiben, bis endgültige Atemlosigkeit das Paddel an sich reißt. Gewählte Isolation, ich muss sie als Haft verkaufen, damit man sie mir gewährt. Eifersucht ob meines Müßiggangs wäre vorprogrammiert, würde ich den Masochisten in mir aufgeben. Unschöpferische Menschen wollen Künstler leiden sehen. Menschen, denen keine Muße vergönnt ist, müssen arbeiten gehen. Einen rechtschaffenen Beruf ausüben, den ich nicht ausüben will, weil ich unter Verhandlungen, die zu führen ich außerstande bin, leide.

Chronisch-krankhafte Diskrepanz von Habgier und der Unzulänglichkeit sie durchzusetzen, macht mich zum brotlosen Literaten. Für ein Auskommen müssten Veröffentlichungsansprüche
vorhanden sein, denen ich mich entsage. Zu einer privilegierten Minorität, die Liebe zu ihrer Beschäftigung nicht zugeben darf, zähle ich mich. Tasten eines Computers sind Tasten eines Klaviers. Spielt man sie entsprechend, kommen brauchbare Töne heraus. Sie nicht zu verunstalten, daran liegt mir. Ich möchte mein Instrument nicht missbrauchen. Es kann nichts dazu, dass ich ein unausgeglichener Mensch bin, der sich darüber ausdrücken will. Menschen behandeln wir ordentlich, Tiere vortrefflich, warum Bedürfnisse eines Computers mit Ignoranz abstrafen? Woher weiß ich, wie mein Computer empfindet, wenn ich statt Verhandlungen zu führen, permanent seine Tasten penetriere? Ist es sein Wille? Jenseits seiner Bestimmung? Eine nach Gnade aussehende Unterlegenheit, in der er mich walten lassen muss? Ist er unbeholfen, wie ich bei Veröffentlichungen und Verhandlungen? Ist es seine Schuld, dass ich leide? Mich ertragen müssen, könnte aus seiner Sicht eine schwere Bürde sein. Sätze sammeln, von denen er vermutet, dass sie unveröffentlicht bleiben. Öde! Ein Rausch ins Nichts führender Kapitel, an denen er sich beteiligen muss. Ein Vergehen am Gerät, dem Wehrhaftigkeit ein Fremdwort ist. Mein Computer ist mir darin verwandt, Treppchen sinnbildlich von hinten zu besteigen. Wären Siegerpodeste spiegelverkehrte Alphabete, man könnte mich ihnen nicht wegdenken. Für alles, was mich betrifft, fehlt mir Umsetzungsfantasie. Ich bin meinen Interessenvertretungen unzugänglich. Ausnahmslos der Einzige, der jenes Unvermögen überbietet, mein Rechner.

Mir auferlegtes Leiden lässt sich nicht bestechen, nicht verkürzen, ich muss hineingehen, es in verdienstloser, gegen die Außenwelt vakuumierter Auseinandersetzung herunterschreiben. Geistesinhalte, die ich in dicken Schinken erbreche, verleibt sich niemand ein. Sie kosten Zeit, bringen kein Geld. Das ist Freiheit, die ich nicht meine, einzig erreichbare Höhenluft, die sich mit meiner Nase schnuppern lässt. Ich nehme, was ich kriege. Andere Möglichkeiten suchen, hieße an Mittellosigkeit verzweifeln. Mein Bezug zur Umgebung? Platonische Beziehungen? Imaginäre Freundschaften zu seichten Protagonisten nähren mich. Wo ist ein Medium, ein Vermittler, der die Glasfront, hinter der ich seit jeher sitze, zerschlägt? Eine simple Plastikfolie?
Trotzdem braucht sie durchschneiden. Sonst verhungere ich vor einem Überangebot an Interaktionsgelegenheiten. Stell dir vor, es ist Karneval und du bleibst daheim. Deine Beine sind, sobald du an Feierbühnen denkst, von gusseiserner Behäbigkeit gelähmt, dein Mund wird pelzig, wo du ihn dir in Gegenwart deines Publikums fusselig reden wolltest. Der falsche Körper, in den ich hineingeboren wurde, ist der Planet, der ihn umgibt. Es hagelt tropfenweise Niederschläge auf mein Haupt. Heftig? Andauernd! Verhindert durch eine Menschheit, die aus meiner Perspektive falsch tickt, sehe ich brutale Bedingungen an mir mergeln, menschliche Sedimentschichten wie Schlangenhäute abtragen, hoffnungsfroh, dass sich eine findet, unter der sich leben lässt.

Solange soziale Belange wie Gewalt auf mich einwirken, Zivilisation mein taktisches Ungeschick ausbeuten will, mir suggeriert, ich wäre weniger wert, wie ich verdienen müsste, um zu existieren, führe ich keine Verhandlungen fernab von Sujets, jenseits meiner Plots, in denen ich als Statist verschleiert, stets als Verlierer herausgehe. Mein Scheitern ist Grundtenor und Basisaussage all meiner Geschichten.
An Stühlen, auf denen ich nicht sitze, braucht niemand sägen. Ich breche mir die Beine, ehe ich am Verhandlungstisch angelangt bin. Für Publikationen kommen Menschen meines Kalibers nicht in Frage. Es widerspricht unserer Veranlagung, Absagen zu erhalten, die wir uns ohne Bescheid zusammenreimen können. Beste Präventionen: Schubladen, Postfächer, Desktop. Auf und in ihnen lagert alles, von dem nächste Generation beteuern wird, da wäre mehr, vieles, alles möglich gewesen. Der Prophylaxe habe ich Blankoschecks ausgestellt. Sie ist da, unter Quarantänebedingungen mein Dasein zu verhüten. Eine Lebensform, für die manchem vegetieren unmäßig erscheint, nenn ich mein Eigen. Über-Leben sei hochgegriffen, bemäkelt meine im Erdgeschoß sitzende, mich selten unter Tageslichtbedingungen sehende Frau.

Mein Kokon, wenige Dachzimmerquadratmeter, mit denen ich mich verpuppe. Diese Symbiose, der ich untrennbar eingewachsen bin, hat mich zum siamesischen Zwilling der Speicherfläche gemacht. Eine Melange aus Gedanken, schneidender Luft und Schweiß von vorgestern, umgibt mich. Hirnelektrizität, die mir tagelang verbietet, meiner Kammer zu enteilen. Bedürfnisunterdrückung, mangelnde Versorgung, die mir in zunehmender Bedürfnislosigkeit entgeht. In Tastenkombinationen vergehen, Codes von Schriftsprache in Einmaligkeit geschriebener Worte knacken, das ist Speck genug. In Buchstaben verschlüsselte Geheimzahlen, die weniger als Nichts bedeuten, bei denen ich mir clever vorkomme wie ein Panzerknacker vor dem Millionenjackpot. Beständige Heizungswärme lässt meine Gedanken gehen wie Hefeteig. Könnte ich mehr für mich herausschlagen, würde ich es tun. Meine Mutter hat mir die Fruchtblase, in der ich gesessen bin, auf Lebzeiten vermacht. Die Hülse ein Erbe, das mit der Abnabelung nur augenscheinlich verschwunden ist.

Ein erdumrundender Ballon, der mit ungeteilten Erlebnissen beladen, im eigenen Garten abstürzt, das bin ich. Hindernisse, die ein Hürdensprinter überlaufen müsste, überschreibe ich nicht. Die größte Errungenschaft unserer Ära, die Löschtaste. Ich kann sie drücken, ohne durchzustreichen oder auszuradieren. Ich tippe, ich lösche, schreibe fort, fange bei null an und wundere mich von Zeit zu Zeit über meine eigentümliche Motivationslage, ständigen Neuanfängen hinzugeben. Ich betrachte mich im halbgeöffneten, spiegelnden Fenster wie ein vom Aussterben bedrohtes, in europäischen Breiten kaum je gesehenes Reptil und erfreue mich, dass ich einer raren Spezies angehöre, deren Merkmale ich nicht in Diagnosebegriffe meißeln lasse. Prädikat „Anders“ ist mein Kompagnon, der mich während des Schreibens begleitet. Ich lehne es ab, in pathologische Adelsstände erhoben zu werden. Sobald meine Finger flink über die Tasten fliegen, bin ich bei mir. Es ist der meditative Gleitflug, der keiner Begrifflichkeit bedarf, der Flügelschlag eines rehabilitationsunwilligen Vollzeithobbyliteraten.

 

Oliver Fahn
Geb.1980 in der Kreisstadt Pfaffenhofen im Herzen Oberbayerns. Heilerziehungspfleger lebt zusammen mit Frau Andrea und den beiden Söhnen Konstantin und Jonathan in seinem Heimatort. Neben dem Schreiben zählt der Langstreckenlauf zu seinen Leidenschaften.