Heil-Froh / Etcetera 88 / Prosa / Tara Meister: Carry on

Mirjam band sich die Bandagen um die Handgelenke, langsam. Das Studio war leer und lag im Dämmerlicht, sie hatte darauf verzichtet das Licht anzumachen.
Über ihrem Kopf das dicke Tau, zu beiden Seiten auf dem Deckenbalken befestigt, cloud swing, Wolkenschaukel. Aus den knisternden Boxen kam Musik, ihr Stück, Klavier, Geige, Gesang.
It´s written on the mountains/a line that never ends
Sie stand auf, dehnte Hand- und Fußgelenke, gähnte. Acht Uhr morgens und nur grüner Tee im Bauch.
Das Fahrrad war unwillig über den Kies gerattert, in den Morgenstunden, kondensierter Atem auf ihrem Schal. Aufstehen war der erste Kampf des Tages, lange vor den 4 Kilometern bis zum Studio, vor den Stunden Training. Viele Jahre lang hatte sie diesen Kampf verloren. Da war alles schwer gewesen, die Decke und die Zimmerdecke und die Wolkendecke, alles hatte auf der Brust gelegen und sie ins Bett gedrückt.
Sie griff mit beiden Händen das Seil und zog sich mit einem Schwung hinauf. Dann saß sie, zwei Meter unter ihr die weiche, blaue Matratze, die sie kannte, von der sie wusste, so war es okay zu fallen. Sie tauchte an, schwang nach vorne und zurück, stand auf, tauchte an, schwang nach vorne und zurück. Der Schwung kam tief aus dem Becken, den Oberschenkeln und breitete sich nach oben und unten aus, hinauf in den Rücken und die Schultern.
Dort saß ein Schmerz.
winter came and made it so/look alike, look alike
Der Schmerz war im Dezember gekommen, in den kurzen Tagen, in den kalten Stunden im Studio. Er stach tief drinnen und ließ sich nicht verjagen von Massagen, der Faszienrolle oder heißen Bädern. Der Schmerz ließ sie an ihren Vater denken, der Clown war, weit weg in ihrem Heimatland, und zwei Meter groß, wenn er sich streckte. Meistens aber hatte er sich gebückt, zu Beginn, um sich zu den Kindern herunterzubeugen, und später, weil ihn die Kreuzschmerzen plagten. Vieles plagte ihn.
Mirjam schaukelte. Ihre Beine beugten und streckten sich, sie waren übersäht von blauen und violetten und gelben Flecken von ihrem Training.
Lange hatte Mirjam ihren Vater nur in der Zauberwelt angetroffen, in der Welt der Zirkusartisten und der sprechenden Tiere, fliegenden Schiffe, tanzenden Trolle. Ihm später in der realen Welt zu begegnen, war nicht gleichermaßen schön gewesen. Diese Welt plagte ihn und vor ihr hatte er sich viel versteckt. Auch vor Mirjam, als sie nicht mehr jonglieren wollte, sondern Geld oder konkrete Antworten. Oft hatte dann sein Rücken geschmerzt.
Mirjam schlang sich das Seil um die Beine, löste den Griff und ließ sich nach hinten fallen, überschlug sich und hing im nächsten Moment kopfüber, immer noch schaukelnd.
They won´t know/who we are/so we both can pretend
Auf Festivals, Hochzeiten oder Geburtstagen hatte er sein Programm vorgeführt und Mirjam war früher zu allen Auftritten mitgekommen. Die anderen Kinder hatten ihren Vater den Clown geliebt und Mirjam war stolz gewesen und ihre Augen hatten geleuchtet, noch lange nachdem die Vorstellung vorbei war.
Heute, wenn sie redeten, dann über ihn, aber von ihm weg, nicht zu ihr hin. Das merkte sie erst spät. Ob sie das nicht verstehen könnte, dass er litt, ob sie nicht sehen wollte, dass es ihm zu viel war, jetzt, und später auch.
Was sie an ihn herantrug, wies er wieder ab, spielte es an sie zurück, durch die verschlossene Zimmertür und später durchs Telefon.
Jetzt würde er kommen, zu ihrer Aufführung, zum ersten Mal. Seit drei Wochen trainierte sie jeden Tag. Die Rückenschmerzen wurden mehr.
Dorian, carry on/ Will you come along to the end?/ Will you ever let us carry on?
Ganz hoch schaukelte sie jetzt, am höchsten Punkt zog sich ihr Magen zusammen. Mirjam drehte die Füße ein und drehte die Arme nach außen. Draußen wurde es langsam hell. Sie ließ sich fallen.

 

Tara Meister
Geb. 1997 und ist als Älteste von fünf Schwestern in Kärnten aufgewachsen. Aktuell studiert sie Humanmedizin in Wien, ab Herbst 2022 Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie bewegt sich zwischen Kurzprosa, Spoken Word und Dramatik, ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet und in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften (Lichtungen, Erostepost, mosaik, Dichtungsring etc.) publiziert.